Editorial

Imago Hominis (2001); 8(2): 89-90

Der Fortschritt der Medizin hat eine Mentalitätsänderung bewirkt. Der Mensch des beginnenden 3. Jahrtausends sieht in der Krankheit kein Schicksal mehr, das es zu ertragen gilt. Lag ehemals die Herausforderung beim Kranken selbst, mit der auferlegten Beschränkung zu leben und diese auch annehmen zu lernen, so liegt heute die Herausforderung bei der medizinischen Forschung. Diese hat alle erdenklichen Mittel einzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Krankheit verschwindet, und der Schaden repariert wird. Als oberstes Ziel gilt, ohne größere Einschränkungen mit beiden Beinen voll im Leben zu stehen, leistungsfähig und jugendlich zu bleiben. Krankheit hat bloß episodischen Charakter. Für viele, ehemals tödlich verlaufende Erkrankungen gibt es bereits suffiziente Behandlungsmöglichkeiten, für viele andere eine wirksame Symptomtherapie. Der Siegeszug der Medizin hat im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht: verbesserte Therapien, Änderungen der Hygiene, ausgewogene und gesunde Ernährung konnten eine beträchtliche Anzahl von schweren Krankheiten an den Rand drängen, ja nahezu ausrotten. Die Kurve der Lebenserwartung und der Leistungsfähigkeit geht in die Höhe. Diverse Prognosen sagen noch ein weiteres Ansteigen voraus. Wie die Entwicklung zeigt, werden neben materiellen Werten auch inmaterielle thematisiert und in Frage gestellt. Wie weit ist menschliches Leben schützenswert und unantastbar? Wo liegt die Grenze der Verfügbarkeit? Ist jedes menschliche Individuum in seiner Würde unantastbar oder ist es erlaubt in bestimmten Situationen darüber zu verfügen? Sind Bewusstsein und Autonomie tatsächlich die einzig schützenswerten Aspekte des Menschenlebens? Die Entwicklung zeigt, dass die Gesellschaft bereit ist, das Menschenleben an seinem Anfang und an seinem Ende zu thematisieren. Abtreibung, Euthanasie, Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik sind lang kein theoretisches Diskussionsthema mehr: auch wenn die Diskussion nicht abreißen darf, so ist man doch vielerorts zur Praxis geschritten. Das Diktat des Utilitarismus zeitigt seine Früchte. Zur Untermauerung werden emotional wirksame Aspekte ins Scheinwerferlicht gestellt. Wer wird schon so hartherzig sein und einem unfruchtbaren Ehepaar das Elternglück vorenthalten, selbst wenn dabei mehrere Embryonen geopfert werden müssen? Wer bleibt ungerührt angesichts des leidenden, alten und einsamen Menschen, der sehnlichst um die Todesspritze bittet? Die Frage, die sich stellt ist: Wie fortschrittlich kann eine Gesellschaft sein, wenn sie – um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen – vor Menschenopfer nicht zurückscheut?

Bemerkenswert ist die Berliner Rede des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau am 18.Mai 2001. „Entscheidend sind aber doch Rangordnung und Gewichtung der Argumente. Wir sind uns gewiss einig darüber, dass etwas ethisch Unvertretbares nicht dadurch zulässig wird, dass es wirtschaftlichen Nutzen verspricht. Wo die Menschenwürde berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen Argumente.“ Und danach: „Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt.“

Wenn Menschen für Menschen Verantwortung tragen, dann gilt das besonders für jene Momente, in denen es Abhängigkeit gibt. Am Anfang und am Ende des Lebens, wenn der eine alles mit dem anderen machen kann. Die kulturelle Qualität einer Gesellschaft offenbart sich im Umgang mit den Schwächsten ihrer Mitglieder. Kein wirtschaftliches Argument, keine wissenschaftliche Neugier, keine ideologische Strategie dürfen hier Priorität erlangen. Wenn die schwächsten Glieder „verkauft“ oder abgestoßen werden, dann kann sich niemand dessen sicher sein, dass ihm eines Tages nicht dasselbe Schicksal widerfährt.

Die Berliner Rede wird in ihrem vollständigen Wortlaut in dieser Ausgabe von Imago Hominis zu lesen sein. Weiters hat die Deutsche Bischofskonferenz die bioethischen Fragestellungen aufgegriffen und einige Richtlinien herausgegeben. In den wissenschaftlichen Arbeiten soll der aktuelle Stand der Forschung erläutert werden. C. Czepe und M. Schwarz  haben Beiträge zum aktuellen Stand der Stammzellenforschung und des Klonens verfasst. Der Frage, inwieweit diese Forschungen zu einem Fortschritt führen, wird in einer ethischen Bewertung nachgegangen.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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