Bioethik aktuell

Kritik an Bluttests auf Down-Syndrom: Wenn die Krankenkassen zahlen, häufen sich unnötige Tests

40 Prozent der Schwangeren machen den Bluttest – auch ohne jedes Vorrisiko

Lesezeit: 04:35 Minuten

Seit Juli 2022 werden in Deutschland die Kosten für nicht-invasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomien von der Krankenkasse bezahlt. Statt sich auf Schwangere mit einem medizinischen Risiko zu beschränken, wird der Test mittlerweile wahllos eingesetzt. Eine öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss kommt nun zu dem Schluss: Das Massenscreening ist kostspielig, hat eugenische Tendenzen - und führt zu neuen Unsicherheiten.

© AdobeStock_250273334_jarun011.jpeg

Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) hat sich in Deutschland zu einer Reihenuntersuchung (Screening) in der Schwangerschaft entwickelt, obwohl der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei der Kassenzulassung beteuert hatte, dass er nur in „begründeten Einzelfällen zum Einsatz kommen kann“. Gefordert wurde in einer parlamentarischen Anhörung des Gesundheitsausschusses deshalb, dass der Test erst ab der 12. Schwangerschaftswoche und nur bei Verdachtsmomenten wie auffälligem Ultraschall zugelassen werden soll (Öffentliche Anhörung: Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests, Deutscher Bundestag, 9.10.2024).

Auf zwei Geburten kommt ein NIPT-Test

Neuere Daten haben einen weiteren Anstieg der NIPT-Anwendungen seit Beginn der Kassenfinanzierung im Juli 2022 ergeben. So wurden im ersten Quartal 2024 insgesamt in etwa 70.000 Bluttests bei Schwangeren als Krankenkassenleistung genutzt, was gemeinsam mit Privatversicherten auf einen Rekordwert von 81.000 Tests führt (Kobinet, 10.10.2024). Gesucht wird nach den genetischen Trisomien 21, 18 und 13. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurden im selben Zeitraum 164.218 Kinder geboren. Damit kommt auf zwei Geburten ein NIPT-Test.

Dies hat unter Verantwortungsträgern im Gesundheitssystem und Fachleuten Fragen aufgeworfen. Kritisiert wurde der Test bereits wegen unklarer Resultate, die eine weitere Diagnostik wie Fruchtwasseruntersuchung nötig macht. Experten sprechen von einer diagnostischen Fehlerrate von 40 bis 50 Prozent (Bioethik aktuell, 23.6.2024).

Mehr Schwangerschaftsabbrüche, mehr Fruchtwasseruntersuchungen

Eine derartige Häufigkeit deutet darauf hin, dass NIPT bereits zu einer Routinemaßnahme geworden, ein von den Krankenkassen finanziertes Screening insbesondere auf Trisomie 21. Mit Blick auf Dänemark und Island, zwei Länder, in denen die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen von Kindern mit Down-Syndrom nach der Einführung eines flächendeckenden Screenings sichtbar gestiegen ist, wird eine vergleichbare Entwicklung für Deutschland nicht ausgeschlossen, hält Marion Baldus von der Hochschule Mannheim in ihrer Stellungnahme fest.

„Der NIPT war angetreten, um – eingeführt als ein risikofreies Verfahren – dazu beizutragen, die Anzahl invasiver Eingriffe zur Diagnostik zu reduzieren und damit mögliche Gefahren von der Schwangeren und ihrem Ungeborenen abzuwenden. Eine erste Zwischenbilanz zeigt, dass diese Zielsetzung bislang nicht erreicht werden konnte“, so die Sozialwissenschaftlerin.

Menschen mit Behinderungen fühlen sich durch solche Tests diskriminiert

Jeanne-Nicklas Faust, Internistin und Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, merkte bei der Anhörung an: Es sei eine klare Intention des G-BA bei der Kassenzulassung des Tests gewesen, dass es nicht um ein Screening gehen kann. Bei fast 40 Prozent der Schwangerschaften werde der Test in Deutschland angewendet – um ein Vielfaches häufiger als auffällige Ultraschalluntersuchungen vorkommen. Faust, die selbst Mutter einer Tochter mit schwerer Behinderung ist, trage der Test eine klare Botschaft in sich: „Wir wollen keine Menschen mit Behinderung!“

Der Beschluss des G-BA sollte ihrer Auffassung nach in den Mutterschaftsrichtlinien so nachgeschärft werden, dass er erst nach der 12. Woche angewendet und erstattet werden kann. Der Lebenswert von Menschen mit Trisomie werde in Frage gestellt: „Menschen mit Trisomie 21 formulieren selbst, wie ausgrenzend und diskriminierend sie die Praxis der vorgeburtlichen Diagnostik empfinden“, schreibt sie in ihrer Stellungnahme.

„Wir wollten mit der Erstattungsmöglichkeit keinen Massentest zulassen!“

Josef Hecken, Vorsitzender des G-BA, bestätigte diese Einschätzung: „Wir wollten kein Screening! Wir wollten keinen Massentest!“. Allein der Bundestag scheint in seinem Entscheidungswillen zu schwächeln, um eine Fehlentwicklung in Richtung Überversorgung rückgängig zu machen. Dabei hatten sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags bereits in der Orientierungsdebatte im April 2019 mehrheitlich gegen ein allgemeines Screening auf Trisomien ausgesprochen. Auch die Einrichtung des überfraktionellen Ausschusses, der diese Anhörung veranstaltete, teilte diese Sorge. Man müsse sich die „Versorgungsrealität“ genau anschauen. „Screenings auf allgemeine Lebensrisiken darf es in einer Gesellschaft, in der ich leben möchte, auf keinen Fall geben“, betont Hecken.

Diagnostik ohne therapeutische Konsequenzen ist nutzlos

Silke Koppermann, Frauenärztin und Psychotherapeutin (TP), Sprecherin des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik aus Hamburg, äußerte sich ebenfalls kritisch: „Der Test hat keinen medizinischen Nutzen, ein auffälliges Ergebnis bleibt ohne therapeutische Handlungsoption und legt hauptsächlich die Notwendigkeit einer Entscheidung für oder gegen einen Abbruch nahe.“ Die Ausgaben für NIPT belaufen sich aktuell auf 60 Millionen Euro im Jahr. In ihrer Stellungnahme führt sie aus, dass NIPT als Kassenleistung eine zwiespältige Botschaft an die Versicherten sende: „Weil die gesetzlichen Krankenkassen nur medizinisch notwendige Leistungen bezahlen, wird die Kassenfinanzierung des Tests als eine Empfehlung an die Schwangere verstanden, diesen Test auch zu nutzen.“

Ihr Resümee: „Ein allgemeines Screening auf Trisomien ist ethisch nicht verantwortbar.“ Es sei deshalb falsch, eine Kassenleistung weiterhin allein für die subjektive Besorgnis der Frau vor einem Kind mit Trisomie zu erbringen, ohne eine medizinischen Anhalt aus dem Ultraschall für die Notwendigkeit des Bluttests zu haben.

Eugenische Voreingenommenheit etabliert sich im medizinischen System

Die Massentestung auf genetische Anomalien sieht sich inzwischen international auch grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Sie leiste einer Abwertung von Menschen mit Behinderung Vorschub. So kritisiert der Report des National Council on Disabilities (From Fetal Surgery to Gene Editing: The Current and Potential Impact of Prenatal Interventions on People with Disabilities, Juni 2024) dass die Mehrheit der medizinischen Fachkräfte immer noch voreingenommen sei gegenüber Menschen mit geistigen Behinderungen und Entwicklungsstörungen. Diese Vorurteile werden auch bei Gesprächen vor einer anstehenden Geburt vermittelt.

Nach Ansicht der Wissenschaftler müssten die Anbieter von Gesundheitsleistung darin geschult werden, Voreingenommenheiten abzubauen. Die Mehrheit der Patienten erhält zum Zeitpunkt der Diagnose keine genauen, aktuellen Informationen, wie etwa über den Schweregrad (sehr leicht bis schwer) einer genetischen Varianz, über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens im Phänotyp oder über die Fehlerhaftigkeit von Bluttests. Außerdem kritisieren die Fachleute, dass die Marketinganreize für die Einführung pränataler Test oft von der Aufrechterhaltung von Ängsten gegenüber behinderten Menschen durchdrungen seien.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: