Bioethik Aktuell

Einsamkeitsstudie: Persönliche Begegnungen helfen, nur Telefon und digitaler Kontakt sind zu wenig

Digitalisierung, Corona-Pandemie und fehlende Bindungen haben den Einsamkeitseffekt verstärkt

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Der Mensch ist ein soziales Wesen, reale Begegnungen sind daher zentral, um auf Dauer Einsamkeit zu lindern. Das ist das Ergebnis einer aktuellen US-Studie in Bezug auf ältere Menschen. Schwerwiegende Gesundheitsrisiken können in Folge von sozialer Isolation auftreten. Auch jüngere Menschen sind zunehmend davon betroffen. Eine Fachtagung des Deutschen Ethikrats befasste sich im Juni 2024 mit der Einsamkeit als Gesundheitsrisiko. Alleinleben und Einsamkeit sind dabei nicht unbedingt dasselbe.

In Deutschland gibt es mehr Alleinlebende als im Durchschnitt anderer EU-Staaten: Jeder Fünfte lebte im Jahr 2023 allein. Das Gefühl von Einsamkeit trifft dabei nicht nur ältere Menschen. Wie der Deutsche Ethikrat im Rahmen der Fachtagung "Einsamkeit – Existenzielle Erfahrung und gesellschaftliche Herausforderung" feststellte, fühlt sich jeder Dritte zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam, bei den unter 30-Jährigen sind es sogar 44 Prozent. Das ergab eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (Mai 2024) (BiB).

Auch Österreich liegt mit 17,2 Prozent (1,5 Millionen bei 9,1 Millionen Einwohnern, Statistik Austria 2023) über dem EU-Durchschnitt von 16,1 Prozent. Anteilig haben nur einige nordeuropäische Staaten mehr Alleinlebende. Dazu gehören Finnland (25,8%) und Estland (21,5%). Den geringsten Anteil Alleinlebender gibt es in der Slowakei (3,8%), auf Zypern (8,0%), sowie in Irland (8,3%).

Macht Einsamkeit krank?

Nach Ansicht von Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, besitzt Einsamkeit Krankheitswert. Sie sei "ansteckend, schmerzhaft und tödlich", wie Spitzer bereits 2018 in seinem Buch „Einsamkeit: Die unerkannte Krankheit“ anhand von Studien darlegte. Einsamkeit sei allerdings nicht das gleiche wie soziale Isolation oder Allein-Leben. Es ist vielmehr dessen psychologischer Aspekt, der sowohl bei jungen Menschen als auch Alten zunächst unbemerkt, dann aber mit langfristigen gesundheitlichen Folgen vorkommen kann. So könne es einsame Menschen mit vielen Sozialkontakten geben und Allein-Lebende, die sich nicht einsam fühlen, betont der Neurologe.

Gehirn aktiviert die selben Strukturen bei gefühlter Einsamkeit und Schmerz

Dass das subjektiv gelebte Gefühl der Einsamkeit nicht nur Marker, sondern auch Faktor einer Pathologie sein kann, stellte Spitzer im Rahmen der Ethikrat-Fachtagung in Berlin erneut vor. Die gefühlte Einsamkeit aktiviere Gehirnstrukturen, die mit Strukturen der Schmerzverarbeitung und Schmerzwahrnehmung teilweise identisch seien, wie in MRT-Bildern eindrucksvoll dargestellt. Zudem sei Einsamkeit entfernungsabhängig, je nachdem wie weit die Distanz zu den Kontaktpersonen ist, die in der sozialen Interaktion nahestehend sind. „Diese medizinischen Einsichten haben Relevanz für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Einsamkeit, welches aufgrund der vorliegenden Megatrends der Singularisierung, Urbanisierung und Medialisierung (Digitalisierung) in den kommenden Jahren noch an Bedeutung gewinnen wird“, meinte Spitzer.

Der Schlüssel gegen Einsamkeit: Persönliche Besuche und emotionale Nähe

In der Forschung wird diskutiert, ob Telefon- und digitaler Kontakt persönliche Begegnungen ersetzen können. Dieser Frage ging ein Team um die Familienforscherin Shiyang Zhang der University of Texas, Austin, nach. Das Ergebnis ihrer unter 313 älteren Menschen im Alter zwischen 65 und 90 Jahren durchgeführten Studie (Journals of Gerontology, September 2024, 79(9) gbae115, https://doi.org/10.1093/geronb/gbae115): Fast immer bietet älteren Menschen das Telefon die Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen, wenn sie sich einsam fühlen. Doch nur persönliche Besuche konnten die Einsamkeit nachhaltig lindern. „Kontakte über Telefon und digitale Medien bieten älteren Menschen nicht die gleiche emotionale Nähe und Geborgenheit wie ein Besuch und ein damit verbundenes persönliches Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Sie sind einfach kein Ersatz“, sagt die Altersforscherin.

Dass Zeit mit Freunden und der Familie zu verbringen lebensverlängernd wirkt, legte im Jahr 2023 bereits eine große schottische Studie mit Daten von mehr als 458.000 Personen nahe (Bioethik aktuell, 5.12.2023). Danach haben alleinlebende Menschen, die nie von Freunden oder der Familie besucht wurden, ein um 77 Prozent erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu jenen, die mit jemandem zusammenlebten oder täglich Freunde oder Familie sahen.

US-Gesundheitanwalt: Sechs Empfehlungen gegen Einsamkeit

Eine Studie des Ministeriums für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten (HHS) aus dem Jahr 2023 zeigt, dass Einsamkeit die Sterblichkeit stärker ansteigen lässt als bekannte Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Bluthochdruck. Darin werden sechs Empfehlungen ausgesprochen: 1. Die soziale Infrastruktur stärken und Plätze der Begegung in den Kommunen (Parks, Bibliotheken, Spielplätze) schaffen; 2. Den öffentlichen Nahverkehr ausbauen und den Zugang dazu verbessern, insbesondere für Familien; 3. Das Bewusstsein für das Problem der Einsamkeit im Gesundheitssektor schärfen; 4. Kritisch die Beziehung zu digitalen Technologien reflekieren und sicherstellen, dass die Art und Weise der digitalen Interaktion nicht von einer sinnvollen und heilenden Beziehung zu anderen abhält; 5. Es braucht mehr Forschung zum Verständnis von Ursachen der Einsamkeit und 6. Eine Kultur der Beziehung und Verbundenheit auf allen Ebenen pflegen und fördern.

Was Corona mit der Einsamkeit zu tun hat

Der Schweizer Psychologe Udo Rauchfleisch von der Universität Basel führt die Zunahme von Einsamkeit unter jungen Menschen auf die Corona-Pandemie zurück. Kinder und Jugendliche hätten ihre Freunde in Schule und Sportvereinen nicht mehr getroffen, was zu einem Herausfallen aus dem sozialen Netz führte. Das habe sich bis jetzt noch nicht wieder normalisiert, so Rauchfleisch in einem nt-v-Interview (online 4.8.2024). Ohnmachts- und Sinnlosigkeitsgefühle angesichts von erwarteten Klimakatastrophen und unkontrollierbaren globalen politischen Krisen tragen bei Kindern und Jugendlichen seitdem vermehrt dazu bei.

Zeitgeschenke sind Wege aus der Einsamkeit

Als Wege aus der Einsamkeit nennt Rauchfleisch eine einfache Geste im Alltag: sogenannte Zeitgeschenke. „Ich kann jemandem anbieten, gemeinsam etwas zu unternehmen“ oder etwas zu besprechen. Dabei sollte man den Hinweis: „Ich glaube, Du bis sehr vereinsamt!“ aber nicht verwenden. Das sei kränkend, führe zu Scham und zu einem weiteren Rückzug der einsamen Person.

Institut für Medizinische
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