Die Zeit drängt: Bis Dezember 2021 soll in Österreich ein neues Gesetz verabschiedet werden, das regelt, unter welchen Bedingungen jemand straffrei mitwirken darf, wenn sich ein anderer das Leben nehmen will. Der VfGH hatte im Dezember das Verbot der „Beilhilfe zum Selbstmord“ als verfassungswidrig aufgehoben, mit der Begründung, es widerspreche dem Recht auf ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Sterben (vgl. Bioethik aktuell, 17.12.2020).
„Wir stehen nun vor der Situation, dass ohne ein neues Gesetz jemand auch einer 17-jährigen Suizidwilligen, die sich autonom und anhaltend wegen schwerem Liebeskummer oder Angststörungen das Leben nehmen will, straffrei ein tödliches Gift oder eine Pistole organisieren kann“, bringt die Wiener Ethikerin Susanne Kummer das derzeitige Rechtsvakuum auf den Punkt.
Selbstbestimmung ist zweifellos ein hohes Gut. Allerdings: Schon jetzt schiebt der Staat selbstschädigendem Verhalten den Riegel vor. So kann man sich etwa nicht auf die Selbstbestimmung berufen, um die Hilfe eines Dritten für eine Genitalverstümmelung oder den Verkauf der eigenen Organe in Anspruch zu nehmen. Es brauche daher dringend „Schutzkonzepte, damit Menschen in existenziellen Krise oder bei schweren Erkrankungen nicht über kurz oder lang meinen, dass nun Sterbehilfe-Vereine für sie zuständig seien“, betont die IMABE-Geschäftsführerin.
Sterbewillige bräuchten ein „heilsames Gegenüber, das ihnen lebenbejahende Auswege aufzeigt“ und sie begleitet, wie Kummer zum Auftakt der Salzburger Bioethik-Dialoge 2021 ausführte. Selbstbestimmung sei bislang als Zugewinn an Freiheit verstanden worden, jetzt legitimiere sie auch Selbstvernichtung. Die Ethikerin sieht darin eine Entwicklung in Richtung Entsolidarisierung: „Wer die Hand zur Tötung reicht, verlässt verzweifelte Menschen auf unmenschliche Weise.“ Ein Staat, der dies legitimiert, entbindet sich von der grundsätzlichen Beistandspflicht zur Erhaltung des Lebens.
Der Strafrechtler Kurt Schmoller (Universität Salzburg) sieht das Hauptproblem in der vom VfGH geforderten Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches: „Vorstellungen und Wünsche ändern sich“, betont der Jurist (Salzburger Bioethik-Dialoge, 25.3.2021). Der Sterbewille ist häufig ambivalent, niemand könne abschätzen, wie er seine Autonomie in zehn Jahren ausleben wolle. „Viele würden gerne sterben, später aber doch wieder gerne leben. Wo es um das Leben oder um körperliche Verstümmelung geht, müsste der Gesetzgeber eine Abwägung treffen zwischen der temporären Autonomie und der Möglichkeit, später autonom anders zu entscheiden.“
Schmoller meint, der Gesetzgeber habe die Pflicht, den Menschen vor seiner „temporären Autonomie“ zu schützen. Es gebe auch „Fälle einer finalen Autonomie, also der Sicherheit, dass sich der Wille nicht mehr ändern würde“. Der Gesetzgeber könne demnach die Straffreiheit auf Suizidbeihilfe am Lebensende und auf schwer leidende Personen in der finalen Lebensphase begrenzen. Mitwirkende könnten verpflichtet werden, die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches zu klären.
Der Wiener Straf- und Prozessrechtler Peter Lewisch äußert bei den Bioethik-Dialogen sein grundsätzliches Problem mit dem VfGH-Urteil: Die meisten Suizide seien Ausdruck eines psychischen Problems, doch der VfGH spreche den depressionsgetriebenen Suizid gar nicht an. „In welcher Welt lebt der Verfassungsgerichtshof eigentlich?“, fragte Lewisch und forderte: „Wenn es wirklich selbstbestimmt sein soll, muss man alle depressionsgetriebenen Suizide herausfiltern.“ (vgl. Die Tagespost, online 1.4.2021)
Die insgesamt dünne Substanz an Argumenten, die der VfGH zur Begründung seines Erkenntnis vorbringt, analysiert der Brüsseler Jurist Jacob Cornides in einem Beitrag für Imago Hominis 2/2021.
Karoline Edtstadler, Bundesministerin für EU und Verfassung, betont, dass niemand entscheiden solle, "wann ein Leben lebenswert sei und wann nicht". Es bedürfe eines gründlichen Diskussionsprozesses unter breiter gesellschaftlicher Einbindung und aller Parteien. Ziel sei es, bis Sommer in Österreich eine neue rechtliche Basis zu schaffen (vgl. Pressemitteilung, 8.4.2021).
Kommende Veranstaltungen zum VfGH-Urteil:
Online-Tagung „Beihilfe zum Suizid“
Veranstalter: Institut für Ethik und Recht in der Medizin (IERM), Universität Wien
Termin: 22. April 2021, 09:30-17:30 Uhr
Programm hier
Salzburger Bioethik-Dialoge „Sterbehilfe – Quo vadis Austria?" (Webinar)
Das VfGH-Urteil zu »Assistiertem Suizid«: Bewertung – Folgen – Optionen
Veranstalter: Salzburger Ärzteforum für das Leben, Salzburg - in Kooperation mit der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) Salzburg und der Österreichischen Ärztekammer
Termin: 30. April 2021, 18:00 – 21:00 Uhr
Programm hier