Bioethik aktuell: Um welche Probleme handelt es sich da?
Susanne Kummer: Jugendliche, die eine Geschlechterdysphorie äußern, weisen überproportional häufig psychiatrische Begleitdiagnosen auf, selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche sind keine Seltenheit. Besonders bei den 13- bis 17-jährigen Mädchen hatten viele bereits Vordiagnosen von Angststörung, Depressionen, ADHS oder Autismus. Bei Kindern, die ihr Geschlecht in Frage stellten, liegt keineswegs zwingend eine Geschlechtsdysphorie zugrunde. Häufig sind andere Ursachen, die mit normalen psychologischen Behandlungen behandelbar sind, im Spiel. Auch Frankreich reiht sich mittlerweile neben Schweden, Finnland und Großbritannien in die Reihe jener Länder ein, die eine aggressive Transgender-Behandlung bei Kindern ablehnen. Das sind medizinische Experimente an Kindern und Jugendlichen, die für die Betroffenen lebenslange Folgen haben und nicht ausreichend wissenschaftlich abgesichert sind. Mittlerweile gibt es auch schon Klagen von Jugendlichen gegen Transgender-Kliniken, weil sie sich betrogen fühlen.
Bioethik aktuell: Feministinnen wie Eva Engelken oder Alice Schwarzer kritisieren den Transgender-Boom als Angriff auf die Frauenrechte. Wie schätzen Sie das ein?
Kummer: Es findet eine innerfeministische Debatte statt. Dahinter stecken einige berechtige Fragen: Wenn wir die biologische Kategorie für obsolet erklären, dann können wir auch keine Frauenpolitik mehr machen. Denn dann ist ja das Subjekt der Politik verschwunden, und wir wissen gar nicht mehr, ob wir es mit einem Mann oder mit einer Frau zu tun haben. Dann ist das Geschlecht nur noch eine Rolle, in die man schlüpft wie im Theater, oder wie ein Mantel, den man an- und auszieht, so als könnte man das Geschlecht einfach wechseln. Ein zweiter Punkt: Genügt es, dass ein Mann sagt, dass er sich als Frau „fühlt“, damit er amtlich als Frau eingetragen wird, wie das jetzt im deutschen Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen ist? Ist Frau-Sein einfach ein Gefühl? Das hat ganz praktische Auswirkungen, etwa: Wer darf in die Frauensauna?
Interessant ist auch die Widersprüchlichkeit. Man darf zwar amtlich sein gefühltes Geschlecht über sein biologisches Geschlecht setzen, nicht aber sein gefühltes Alter über sein biologisches. Ein 69-jähriger Niederländer wollte das durchsetzen. Er sagte, dass er sich wie 49 fühle und deshalb sein Geburtsdatum geändert werden soll. Das wurde aber nicht zugelassen. Man fragt sich: Warum eigentlich nicht, wenn das subjektive Gefühl die letzte Instanz ist, die über die Biologie entscheiden soll?
Bioethik aktuell: Sie stehen für die Rechte von Frauen und sind gegen Diskriminierung. Warum stehen Sie dem Gender-Begriff trotzdem kritisch gegenüber?
Kummer: Der Begriff „Gender“ kommt aus der Sprachwissenschaft und ist in den Sozialwissenschaften verankert. Gemäß der sogenannten Gender-Theorie schafft erst eine radikale Auslöschung des Geschlechtes eine gerechte und herrschaftsfreie Gesellschaft. Solange es Unterschiede – auch biologische – gibt, herrscht Ungleichheit und damit Ungerechtigkeit – also müssen diese ausgelöscht werden, damit alle Menschen ‚gleich‘ sind. Das ist ein im Marxismus tief verankerter Gedanke, der nun kulturell aufschlägt.
Der Begriff orientiert sich auch einerseits an einem utopischen Gleichheitsideal und erklärt andererseits leibliche Vorgaben zur Kampfzone. Zahlreiche Feministinnen melden sich inzwischen auch kritisch zu Wort. Unter dem Begriff „Transgender“ dringen Männer, die sich weiblich fühlen und so leben wollen, zunehmend in die Schutzzonen der Frau ein – vom Sport bis zu Frauengefängnissen, so lautet die Kritik. Besorgniserregend ist aber vor allem die Verunsicherung, der sich Kinder und Jugendliche ausgesetzt fühlen.
Bioethik aktuell: Aber geht es in der Genderdebatte nicht vor allem um die Gleichstellung von Mann und Frau und die Beseitigung von Diskriminierung?
Kummer: Der Gender-Begriff liefert ein überzogenes Ideal von Gleichheit, indem hier Frausein und Mannsein, Männlichkeit und Weiblichkeit komplett nivelliert und zur Disposition gestellt werden. Die Manipulation des eigenen Körpers wird als Freiheitsgewinn proklamiert. Wir brauchen aber vielmehr eine Gleichberechtigung und Wertschätzung von Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit. Gleichberechtigung und der Kampf gegen Diskriminierung ist eine kulturelle Aufgabe. Er klappt aber sicher nicht durch die Negation der Biologie. Das hat nichts mehr mit Wissenschaft zu tun.
Bioethik aktuell: Wie stellt sich die Medizin zu Genderfragen?
Kummer: Der Begriff „Gendermedizin“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. „Gender“ steht im englischen für das grammatikalische, also sprachlich konstruierte Geschlecht, während „sex“ das biologische Geschlecht meint. Und genau diesen Unterschieden widmet sich ja die Gendermedizin. Die vielen dafür geschaffenen Lehrstühle an den medizinischen Hochschulen befassen sich zum Beispiel mit den Unterschieden der Verläufe eines Herzinfarkts bei Mann und Frau, mit dem Problem, dass bei Medikamentenstudien bis heute zu wenige Frauen aufgenommen werden oder der Frage, ob wir nicht Knieprothesen für Frauen brauchen, die ihrem weiblichen Skelettbau angepasst sind: Wieso sollen Frauen immer ein männliches Knie eingesetzt bekommen? Es geht also um die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Die „Gender“-Medizin müsste richtigerweise „Sex“-Medizin“ heißen. Aber aus historischen Gründen ist mit diesem Begriff ja wieder etwas anderes gemeint.
Bioethik aktuell: Sie sagen, dass die Akzeptanz des Leibes als integralem Bestandteil der eigenen Identität wesentlich für die gesunde Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist. Wo stehen wir heute?
Kummer: Aus meiner Sicht haben wir es heute mit zwei Extremen zu tun: Einerseits beobachten wir einen aggressiven manipulativen und selbstzerstörerischen Umgang mit dem Körper, der auf eine Nivellierung oder scheinbare Beliebigkeit der Geschlechterdifferenzen hinausläuft. Andererseits erleben wir zeitgleich einen extremen Körperkult, der geradezu sexistisch ist. Die Schönheitschirurgie boomt, Frauen lassen sich ihre Lippen aufspritzen und ihre Brüste vergrößern – sie wollen noch „mehr aussehen“ wie Frauen. Und Männer nehmen Hormone und gesundheitsschädigende Anabolika, um strotzende Muskeln aufzubauen – nur um ihre Männlichkeit zu betonen. Da läuft ja grundlegend etwas falsch. Sowohl Körperkult als auch Körperverachtung zeigt, dass unser Leibverständnis verrutscht ist.
Bioethik aktuell: Was meinen Sie damit?
Kummer: Menschen stehen in der heutigen Konsumgesellschaft zunehmend unter Druck, ihre Identität einzig über ihren Körper zu konstruieren. Ein perfektes Selbst verlangt in dieser Logik einen perfekten Körper. Dieser pathogene, a-personale Körperkult verschränkt sich mit einem überspannten Autonomiebegriff, wonach der Mensch sich nur dort verwirklicht, wo er sich als autonomes Subjekt seinen Körper „rational“ untertan macht.
Autonomie heißt dann, leibliche Erfahrungen oder Begrenzungen zurückzudrängen, sich vom Leib wegzuarbeiten oder ihn überhaupt virtuell aufzulösen. Das kartesianische Modell des Körpers als Maschine hat viel Unheil gebracht. Diese Formen der Selbstmanipulation enden in einer Art Selbstausbeutung und Selbstentfremdung. Ein Menschenbild, das die Bezeichnung human verdient, nimmt hingegen den Menschen als Person in seiner leib-seelischen Ganzheit in den Blick.
Die große Herausforderung besteht meines Erachtens heute darin, die positive Rolle der Leiblichkeit in der individuellen, sozialen und kulturellen Entfaltung des Menschen neu zu entdecken.
Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteur Rainer Klawki.