Bioethik Aktuell

Interview des Monats: „Wir müssen nach den eigentlichen Ursachen von Transgender-Wünschen fragen"

Frühe Erfahrung von Gewalt und Missbrauch kann zu einer tiefen Verunsicherung im eigenen Geschlecht führen

Lesezeit: 07:22 Minuten

Viele Menschen, die sich früher als transgender identifizierten, kehren zu ihrem biologischen Geschlecht zurück. Auch Sophie Griebel hat einige Jahre ihres Lebens „als Mann gelebt“. Mittlerweile ist sie wieder mit ihrem Geschlecht in Einklang. Heute arbeitet sie als Coachin. Im Vorfeld des #DetransitionAwarenessDay“ am 12. März erzählt sie im IMABE-Interview über Ängste der Betroffenen, falsche Hoffnungen und den Weg zur Selbstannahme.

Verschwommenes Gesicht eines jungen Mädchens
© Freepik

Bioethik aktuell: Sie sind psychologische Beraterin und betreuen unter anderem Jugendliche, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen und unter einem hohen Leidensdruck stehen. Sie kennen diese Situation aus eigener Erfahrung. Wie kam es, dass Sie ihr Frausein abgelehnt haben und ein Mann werden wollten?

Sophie Griebel: Im Nachhinein kann ich sagen, dass das vielmehr eine Entscheidung war und kein „Ich-habe-es-gemerkt“. Bei mir war mit 18, 19 Jahren mein Leidensdruck sehr groß. Ich hatte Suizidgedanken, Depressionen, Angststörungen. Als ich Transsexualität entdeckte, fragte ich mich, ob ich nicht schon immer ein Junge war. Ich war tatsächlich in vielen Bereichen eher stereotypisch männlich als Kind. Also war für mich klar, der Grund für meine Probleme ist, weil ich transsexuell bin. Diese Entscheidung gar nicht zu hinterfragen war einer meiner größten Fehler.

Sie hatten eine schwierige Kindheit. Gab es da persönliche Erlebnisse, die Ihren Wunsch nach der Geschlechtsumwandlung beeinflusst haben?

Griebel: Eine große Rolle dabei spielte, dass ich sehr viel Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigung innerhalb der Familie erfahren habe. Wenn man auf diesen Ebenen so viel Gewalt erfährt, dann empfindet man sehr viel Scham und Schuld. Vor allem gegenüber dem eigenen Geschlecht, weil man die Schuld auf das eigene Geschlecht projiziert. Man denkt, man erlebt all das, weil man ein Mädchen ist. Meine Mutter war auch Opfer von psychischer Gewalt. Das ist ein Generationsthema bei uns gewesen.

Ich hatte also kein reizvolles weibliches Vorbild. Wenn man immer vorgelebt bekommt, dass eine Frau ein Opfer in der Gesellschaft und im näheren Umfeld ist, dann möchte man dieses Geschlecht nicht mehr annehmen. Also ist die logische Schlussfolgerung, keine Frau mehr zu sein, sondern einfach den Körper zu verändern.

Die Statistiken in westlichen Ländern zeigen einen enormen Anstieg in Behandlungen für junge Menschen, die ihr Geschlecht ändern möchten. In Deutschland und Österreich hat sich die Zahl in den vergangenen zehn Jahren verachtfacht, in London wurde die Gender-Klinik Tavistock mit jährlich 5.000 Fällen wegen fehlender Sorgfalt in der Behandlung der Minderjährigen geschlossen. Wieso haben viele junge Menschen in unserer Zeit Probleme mit ihrem Geschlecht?

Griebel: Im Alter zwischen vier und sechs beginnt man sich langsam mit der Geschlechterrolle zu identifizieren. In diesem Alter ist es das Allerwichtigste, dass man reizvolle Vorbilder seines Geschlechts hat. Wenn diese Vorbilder nicht reizvoll sind, dann ist die Gefahr sehr groß, dass man anfängt, das eigene Geschlecht abzulehnen.

Wenn man eine Mutter hat, die zum Beispiel unter immensem Druck steht, unter Überlebensangst und Stress leidet und eventuell von einem autoritären Mann unterdrückt wird, dann wird einem das Frausein nicht reizvoll vorgelebt. Deshalb möchte sich ein Kind womöglich der wahrgenommenen Rolle seines eigenen Körpers entziehen. Häufig haben diese Kinder Probleme mit Schuldgefühlen und Schamgefühlen, weil sie - ­ oft aufgrund von Vernachlässigung - nicht die Wertschätzung bekommen haben, die sie für ihr Dasein, für ihr Geschlecht gebraucht hätten.

Können Sie von einem Beispiel aus Ihrer Arbeit erzählen?

Griebel: Ich habe kürzlich einen 14-jährigen Jungen begleitet, der ein Mädchen werden wollte. Und dann habe ich einfach mal gefragt: ‚Kann es sein, dass du große Angst davor hast, den Erwartungen deiner Geschlechterrolle nicht zu entsprechen?‘ Dann sagt das Kind: ‚Ja, ich habe so Angst davor.‘ Und dann frage ich: ‚Schämst du dich manchmal, ein Junge zu sein?‘ Und auch das bejahte er. Ich habe das alles dokumentiert. Die Mutter sagte mir, dass die Therapeutin sofort mit den Hormonblockern beginnen wollte.

Wie sollte man mit jungen Menschen umgehen, die den Wunsch einer Geschlechtsumwandlung äußern? Eltern sind häufig sehr verunsichert und es herrscht ein gewisser Druck. Studien haben ergeben, dass in 80 bis 90 Prozent der Fälle dieser Wunsch von allein verschwindet.

Griebel: Diesen Kindern fehlt es an emotionaler Stabilität und der Möglichkeit, sich frei entfalten zu dürfen. Außerdem fehlt ihnen eine tiefe Verbindung zu ihren Eltern, die eine Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Kindes ist. Die Erwartungshaltung, wie ein Mann und eine Frau zu sein haben, sind noch immer sehr präsent. Man sagt, dass alles schon viel freier geworden ist. Ja, das mag sein, aber emotional nicht. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte eines Jungen, den ich begleite. Er hat mir erzählt, dass er an einem Schultag zu weinen angefangen hat und von den Kumpels ausgelacht wurde. Seitdem hat er sich verschlossen und hat gesagt: ‚Ich wollte dann einfach nie wieder weinen.‘ Jetzt denkt er womöglich: Als Mädchen habe ich vielleicht die Möglichkeit, zu weinen.

Wichtig ist deshalb, über Gefühle mit den Kindern zu sprechen. Man sollte dem Kind Mut machen und sagen: Es ist egal, ob du die und die Talente als Junge hast oder nicht. Trotzdem darfst du dich in deinem Körper entfalten und wohlfühlen. Und du bist trotzdem ein Junge. Wenn ein Kind sich dafür schämt, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, dann hat das nichts damit zu tun, dass es im falschen Körper ist. Man muss sich mit dem Kind hinsetzen und diese Gefühle hinterfragen, bis man zur Ursache kommt. Sehr häufig ist die Ursache in den familiären Beziehungen zu finden.

Forscher haben nachgewiesen, dass Kinder, die sich wünschen, ihr Geschlecht zu ändern, oft unter anderen psychischen Krankheiten leiden. Können Sie das aus Ihrer Erfahrung bestätigen?

Griebel: Auf jeden Fall. Es wird nicht geschaut, ob die Kinder unter Dissoziation oder anderen Persönlichkeitsstörungen leiden und ob diese womöglich die Ursache für die Ablehnung des Geschlechts sind. Aber sehr viele, die wegen Transgender behandelt werden, leiden eigentlich unter Angststörungen, Depressionen, Borderline, Autismus oder ADHS. Man sucht Lösungen im Ändern der geschlechtlichen Identität. Aber all die eigentlichen Belastungsstörungen werden dadurch marginalisiert, weil sie nicht behandelt und mit einer hormonellen oder operativen Behandlung „kompensiert“ werden. So wird im Grunde dazu beigetragen, dass das Trauma dieser Kinder zur Normalität wird. Zu denken, das darin die Lösung bei Transgender-Problemen besteht, ist ein Wegschauen von den eigentlichen Ursachen.

Was kann man konkret als Hilfe anbieten, auch im näheren Umfeld, vor allem Eltern? Wie kann man mit dem Kind sprechen?

Griebel: Als Elternteil würde ich nicht auf die Äußerungen des Kindes bezüglich Transgender eingehen. Ich rate Eltern immer, das Kind nicht mit dem gewollten Namen anzusprechen. Es ist keine Lösung, nach dem nächstmöglichen Endokrinologen-Termin zu schauen, wenn die eigentlichen Ursachen nicht behandelt wurden. Die zugrundeliegenden psychischen Probleme haben zunächst per se nichts mit dem Geschlecht zu tun, sondern mit einer emotionalen Instabilität. Und emotionale Stabilität kann man nicht durch Geschlechtsumwandlung erzeugen.

Ich rate Eltern auch, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen und ihre eigene Kindheit zu reflektieren. Wenn man als Elternteil missbraucht wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ähnliche Muster auf sein Kind überträgt.

Erstaunt es Sie, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz trotz neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse in den neu erarbeiteten Leitlinien immer noch die transaffirmative Methode empfohlen wird? Dass also das von Kindern und Jugendlichen neu deklarierte Geschlecht immer therapeutisch, medikamentös und später auch operativ bestätigt („affirmiert“) werden soll? Länder wie Schweden, Finnland, Großbritannien und Frankreich schlagen ja mittlerweile andere Wege ein, in denen Psychotherapie den Vorrang hat.

Griebel: Ich verstehe nicht, wie man diese Behandlung noch erlauben kann. Kinder haben so jung noch keine Möglichkeit, sich selbst zu finden, haben vielleicht Stress daheim, sind total sensibel und unsicher. Und dann diesem Kind zu erlauben, wie es in Deutschland seit November 2024 der Fall ist, mit 14 schon auf das Standesamt zu gehen und seinen Namen und Geschlechtseintrag zu ändern, ist für mich absolut verantwortungslos. Aber viel verheerender ist, wenn man seinen Körper so jung mit Hormonen manipuliert oder sogar mit Operationen. Man ist nicht selbstbestimmt, wenn man lebenslang von Hormonen abhängig ist, die man eigentlich gar nicht bräuchte.

Sie haben sich selbst eine Zeit lang als Mann identifiziert und sind heute wieder mit Ihrem biologischen Geschlecht als Frau im Einklang. Was war Ihr Schlüsselerlebnis, um zu erkennen, dass die Geschlechtstransition nicht die Lösung für Ihre Probleme war?

Griebel: Als ich erfuhr, dass auch mein Bruder vergewaltigt worden ist, war das ein absoluter Schlüsselmoment für mich. Ich habe gesehen, dass es nicht an meinem Geschlecht lag, dass mir traumatische Dinge widerfahren sind. Und dann ist meine intensive Reise durch die generationsübergreifenden Traumata losgegangen. Ich habe erkannt, dass mein Körper nicht schuld an meinen negativen Erfahrungen ist. Und so konnte ich mehr zu mir selbst finden.

Immer mehr junge Menschen zeigen sich enttäuscht nach einer Transgender-Behandlung. Der Weg ins eigene Geschlecht ist oft hart, weil die Betroffenen auf Unverständnis stoßen. Außerdem bleiben irreversible Schäden. Wie saß Ihr Weg aus? Was raten Sie Menschen, die den Weg der Detransition gehen wollen?

Griebel: Für mich war es nicht sonderlich schwierig, den Weg zurückzugehen, weil ich zu der Zeit in Afrika war. Wäre ich in meinem gewohnten Umfeld geblieben, wäre es schwieriger gewesen. Ich habe dann meine Haare wieder wachsen lassen, angefangen, mich wieder ein bisschen zu schminken, um einfach mal zu schauen, was ich mag. Und so konnte ich meinen Körper langsam wieder annehmen. Vielleicht hilft es bei der Detransition, einfach mal das gewohnte Umfeld zu verlassen, wenn das möglich ist, weil man sich ohne den kritischen Blick anderer freier fühlt.

Das Gespräch führte IMABE-Redakteurin Debora Spiekermann.

Institut für Medizinische
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