Die finale Fassung der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung wurde am 7. März 2025 publiziert. Diese Leitlinie beansprucht, den medizinischen Standard im Behandlungsfeld zu setzen und soll in Deutschland, Österreich sowie der Schweiz Anwendung finden. Doch es ist fraglich, ob sie tatsächlich breite Anwendung finden wird. Zahlreiche Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und andere Kliniker im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie sowie verwandter Berufsgruppen halten diese Leitlinien für höchst problematisch und werden sie wahrscheinlich nicht übernehmen (Queer Nations, 8.3.2025).
Umstrittene Entstehung: Kritiker waren nicht erwünscht
Schon die Genese war von Konflikten gekennzeichnet: Vor knapp einem Jahr wurde die fertiggestellte Leitlinie in einer Pressekonferenz vorgestellt und an ausgewählte Kreise zum Review übergeben. Bereits damals hieß es aus der Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), es seien jedoch keine inhaltlichen Kommentierungen mehr möglich. Dies führte unter Fachleuten zu Unmut. 14 Universitätsprofessoren kritisierten die Leitlinie daraufhin in einem offenen Brief.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), mit rund 10.000 Mitgliedern die größte medizinische Fachgesellschaft in dem Feld, hatte in einer 111-seitigen Stellungnahme die Leitlinie kritisiert. Auch der Deutsche Ärztetag hatte sich gegen eine Behandlung von Jugendlichen mit Pubertätsblockern oder geschlechtsumwandelnden Hormonen außerhalb wissenschaftlicher Studien ausgesprochen. Die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) hat ebenfalls eine Zustimmung zu den Leitlinien abgelehnt.
Was ist eine „vorübergehende Geschlechtslosigkeit“?
Florian D. Zepf, Klinischer Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Jena, äußert nun grundlegende und schwerwiegende Bedenken gegen das Dokument. „Die neue Leitlinie schlägt eine neuartige Unterscheidung vor – zwischen stabiler ‚Geschlechtsinkongruenz‘ und vorübergehender ‚Geschlechtslosigkeit‘“, erklärt Zepf kritisch in einem Gastbeitrag (14.3.2025) für die Initiative Queer Nations. „Allerdings gibt sie keine spezifischen Kriterien an, wie diese beiden Gruppen im Voraus zu unterscheiden sind – und es ist auch nicht klar, mit welcher Validität dies tatsächlich geschehen könnte.“
Der Publizist Till Randolf Amelung sieht in der Leitlinie erhebliche Gefahren. „Die vorschnelle Affirmation kann dazu führen, dass junge Menschen in eine Richtung gedrängt werden, ohne dass sie ausreichend Gelegenheit hatten, ihre Identität in Ruhe zu reflektieren“, betont Amelung, selbst ein Transmann. Eine neutrale psychologische Begleitung sei von entscheidender Bedeutung, um Fehlentscheidungen zu vermeiden.
Mangelnde Evidenz und problematische Diagnoseansätze
Selbst die Ersteller der Leitlinie räumen ein, dass es kaum medizinische Evidenz für ihre zentralen Aussagen gibt. Sie haben das Dokument aufgrund „fehlender kontrollierter Wirksamkeitsnachweise und einer insgesamt unsicheren Evidenzlage“ von einer evidenzbasierten S3 zu einer auf Basis eines „Expertenkonsens“ (S2k) Leitlinie herabgestuft.
Zepf verweist auf eine aktuelle Studie mit Krankenversicherungsdaten, die zeigt, dass nach fünf Jahren nur 36,4 % der Betroffenen eine fortbestehende Diagnose hatten. „In allen untersuchten Altersgruppen lag die Diagnosepersistenz unter 50 %“, betont der Psychiater. Bei 15- bis 19-jährigen Frauen waren es lediglich 27,3 %, bei 20- bis 24-jährigen Männern immerhin 49,7 %.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie lehnt Leitlinie ab
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) lehnt in einem umfangreichen Sondervotum die Präambel der Leitlinie ab. Sie kritisiert einen primär affirmativen Ansatz, der „den Wunsch und Willen der Beratung bzw. Behandlung suchenden Person zum einzigen relevanten Maß“ mache. Die vorliegende neue Leitlinie entspreche nicht den notwendigen evidenzbasierten Standards, um junge Menschen angemessen zu unterstützen.
Operationen führen zu höherem Suizidrisiko
Eine im Februar 2025 veröffentlichte Studie aus den USA zeigt, dass Kritik der DGPPN am affirmativen Ansatz gerechtfertigt ist: Die Analyse von 107.583 Patientendaten aus dem Zeitraum 2014 bis 2024 offenbarte, dass diejenigen, die sich einem chirurgischen Eingriff unterzogen, ein deutlich höheres Risiko für Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken und Substanzkonsumstörungen aufwiesen als diejenigen, die keinen chirurgischen Eingriff vornehmen ließen.
Kritik an Empfehlung für Pubertätsblocker und Hormontherapie
Ein zentraler Kritikpunkt sind die Empfehlungen für Pubertätsblockaden und Hormontherapien. „Die Empfehlungen spiegeln nicht angemessen wider, dass es immer noch keine klaren Beweise für dauerhafte und wesentliche Verbesserungen bei Minderjährigen gibt“, warnt Zepf, der federführend die kritische Stellungnahme von 14 namhaften Medizinern im Jahr 2024 verfasste. „Wir wissen, dass potenzielle Schäden auftreten können. Daher muss dieser Ansatz zum jetzigen Zeitpunkt als experimentell angesehen werden.“ Die Leitlinie ignoriere wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse und basiere auf einer unklaren, in der klinischen Praxis nicht anwendbaren Differenzierung.
Familienrechtliche Entscheidungen über Kindeswohl basieren auf fragwürdiger Grundlage
Ein besonders kontroverser Aspekt betrifft familienrechtliche Entscheidungen. „Die Leitlinie schlägt vor, dass im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und Kindern über medizinische Eingriffe eine unabhängige rechtliche Prüfung entscheiden sollte“, erläutert Zepf. Er sieht darin erhebliche Risiken: „In Deutschland könnte dies bedeuten, dass Kinder aus der Obhut ihrer Eltern genommen werden oder Eltern das Recht verlieren, medizinische Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen.“
Es gibt keine unveränderliche Geschlechtsidentität völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht
Die Leitlinie basiere auf einer wissenschaftlich unbewiesenen Annahme. Sie gehe davon aus, dass jedes Kind eine allgegenwärtige, ubiquitäre und unveränderliche Geschlechtsidentität habe, die „völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht“ sei. Diese Perspektive berücksichtige nicht, „dass das Selbstbild von Jugendlichen oft eine Selbstinterpretation ist“ und eine klare Unterscheidung nicht mit hinreichender Validität getroffen werden kann.
Auch Till Randolf Amelung warnt vor einer voreiligen Festlegung: „Viele Menschen, die sich als Jugendliche als trans identifiziert haben, finden später zu einer anderen Geschlechtsidentität. Eine frühzeitige medizinische Transition kann irreversible Konsequenzen haben, die im Nachhinein bedauert werden könnten.“
Psychotherapie: Keine Konversionstherapie, sondern explorative Hilfe
Ein zentrales Missverständnis, das Psychiater Zepf vehement korrigiert, betrifft den Charakter einer explorativen Psychotherapie. „Eine solche Therapie ist keine Konversionstherapie, sondern zielt darauf ab, die Gründe für geschlechtsspezifische Symptome ergebnisoffen zu explorieren.“ Der Vorwurf einer Konversionstherapie sei irreführend. Tatsächlich sei es wichtig zu verstehen, dass sich Selbstinterpretationen von Minderjährigen im Laufe der Zeit oft verändern. Eine offene, ergebnisunabhängige psychotherapeutische Begleitung kann helfen, die komplexen Hintergründe zu verstehen. Es gehe darum, jungen Menschen in ihrer Entwicklung und Selbstfindung sensibel und professionell zur Seite zu stehen.
Stimmen besorgter Eltern vor unnötiger Medikalisierung
Der Verein TransTeens Sorge Berechtigt (TTSB) bringt die Ängste vieler Eltern auf den Punkt: Sie befürchten, dass ihre Kinder „zu früh und zu schnell in ihrer Selbst-Diagnose Trans bestätigt“ und „unnötig medikalisiert werden“. Genderdysphorie könne ein Symptom, eine Identifikations-Schablone oder ein Bewältigungsmechanismus sein.
Deutschsprachige Länder bleiben hinter internationalen Entwicklungen zurück
Interessanterweise gehen internationale Entwicklungen in eine andere Richtung. Länder wie Schweden, Großbritannien, Finnland und nun auch die USA, die lange Zeit Vorreiter in Sachen affirmativer Behandlung waren, haben mittlerweile die Behandlung Minderjähriger mit Hormonen und Geschlechtsoperationen stark eingeschränkt.
Die deutschsprachigen Länder stehen mit der S2k-Leitlinie nun isoliert da. Experten fordern daher, dass die Leitlinie zurückgezogen und im Lichte aktueller medizinischer Erkenntnisse überarbeitet wird.