Der wissenschaftliche Springer-Verlag hat die Veröffentlichung einer psychologischen Studie in den Archives of Sexual Behavior (2023:52, 1031–1043 (2023). https://doi.org/10.1007/s10508-023-02576-9) formell zurückgezogen. Die im März 2023 publizierte Studie befasst sich mit den sozialen und medizinischen Faktoren der Entstehung einer Genderdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. Die Studie ist weiterhin als Open Access mit dem Hinweis verfügbar, dass sie zurückgezogen wurde. Die breite öffentliche Debatte verhalf dem Beitrag mit bislang 154.000 Zugriffen zu einer enormen Reichweite (Wall Street Journal, 9.6.2023).
Dem Verlag wurde unter anderem vorgeworfen, mit dieser und anderen peer-reviewed Studien eine LGTB-diskriminierende Agenda zu unterstützen. Transgender-Organisationen und Vertreter der Wissenschaft drohten damit, die Zeitschrift zu boykottieren. Sie forderten zudem die sofortige Absetzung des Herausgebers (Open Letter, 5.5.2023). Gegen diese Anschuldigungen protestierten mehr als 2.000 Wissenschaftler, Mediziner und andere Berufsgruppen. Sie forderten einen offen wissenschaftlichen Diskurs darüber, wie den jungen Patienten am besten geholfen werden kann (Open Letter, 5.5.2023, Foundation Against Intolerance & Racism (FAIR)). Außerdem setzten sie sich für den Verbleib des Herausgebers ein.
Eine Umfrage unter Eltern von transgender Jugendlichen sollte Aufschluss geben
Die Originalstudie des Psychologen und Studienleiters Michael Bailey (Northwestern University/USA) befasste sich mit der medizinischen Vorgeschichte und den sozialen Faktoren im familiären Umfeld von Geschlechtstransitionen. Grundlage war eine Umfrage unter 1.655 Eltern, deren Kinder plötzlich ihr Geschlecht ändern wollten (Parents of ROGD-Kids). Dieses Phänomen wird als „Rapid Onset Gender Dysphoria“ (ROGD) bezeichnet (Bioethik aktuell, 6.11.2018). Überwiegend betroffen waren Mädchen im Teenager-Alter.
Die Analyse ergab, dass sowohl sozialer Einfluss als auch bereits bestehende psychische Gesundheitsprobleme ausschlaggebende Faktoren für den Transwunsch waren. Die Autoren schlussfolgern, dass in der Behandlung psychischen Interventionen der Vorzug gegeben werden sollte gegenüber vorschnellen hormonellen oder chirurgischen Eingriffen.
Das Peer-reviewte Journal zieht sich auf fadenscheinige Gründe zurück
Die Begründung für den Rückzug aus formalen Gründen, der bereits am 12. Juni 2023 erfolgt ist, wird seit einigen Monaten in der Fachwelt diskutiert. Die angelegte Messlatte für die Zustimmung der Teilnehmer zur Kumulation ihrer Daten wurde in der Vergangenheit bei ähnlichen Studien nicht eingefordert. Offenbar stoßen hier politische Interessen auf wissenschaftliche Regularien, so dass das Zulassungsverfahren von wissenschaftlichen Publikationen anderen Bedingungen unterliegt.
Der Filter für die Zustimmung der Teilnehmer wird im Nachhinein verschärft
Die Begründung der Herausgeber und des Chefredakteurs lassen aufmerken, weil sie die bisherigen wissenschaftlichen Gepflogenheiten im Hinblick auf anonymisierten Datennutzung verschärfen. Es handle sich beim Rückzug dieser Studie um einen Verstoß gegen die Herausgeberleitlinien. Die Teilnehmer der Umfrage hatten kein schriftliches Einverständnis zur Veröffentlichung der anonymisierten Daten ihrer Antworten in einer wissenschaftlichen Publikation gegeben. Auch hätten sie der Publikation ihrer Daten in dem speziellen Zeitschriftenbeitrag nicht zugestimmt. Das statistische Material sei deshalb aus der Publikation entfernt worden, um die Privatsphäre der anonymen Studienteilnehmer zu schützen.
Gleichzeitig erklärte Springer, die Autoren hätten nichts falsch gemacht. Fachleute zeigten sich gemäß den bisherigen Regeln für die informierte Zustimmung („informed consent“) verwundert. Ein solches Kumulationsverbot ohne Einwilligung zur Kumulation würde vermutlich das Ende der Nutzung von Daten aus Umfragen bedeuten.
Was hatte die Studie Beunruhigendes herausgefunden?
Die Daten legen eine statistische Korrelation zu bereits vorliegenden psychischen Auffälligkeiten und dem Wunsch von Kindern und Jugendlichen nach einer Geschlechtsumwandlung nahe. Auch soziale Faktoren scheinen auf diesen Wunsch einen Einfluss zu haben. Immer wieder wollen Transgender-Organisationen die Veröffentlichung von medizinischen oder psychologischen Studien zu dieser Thematik verhindern (Society of Evidenced Based Gender Medicine-SEGM, 10.6.2023). Die Gabe von Pubertätsblockern und eine „gender-affirmative“ Hormon- und chirurgische Therapie sei der optimale Behandlungsweg.
Großbritannien empfiehlt vorzugsweise psychologische Behandlungen
Damit stehen sie im Widerspruch zu den Empfehlungen zahlreicher Fachgesellschafen: So hat nach mehrjähriger Prüfung das britische National Health Service beschlossen, dass Pubertätsblocker, die die sexuelle Reifung von Jungen und Mädchen stoppen, nur noch im Rahmen von klinischen Studien verordnet werden dürfen (Pressemitteilung, 23.6. 2023). Den betroffenen Patienten mit Genderdysphorie wird primär zu einer psychologischen Behandlung geraten. In der für ganz Großbritannien zuständigen Londoner Tavistock-Klinik stieg die jährliche Zahl von etwa 500 im Jahr 2012/13 auf 5.000 Überweisungen im Jahr 2021/22. Die Klinik wurde aufgrund grober Missstände mittlerweile geschlossen (Bioethik aktuell, 10.8.2022).
Keine Verbesserung der psychischen Gesundheit durch Geschlechtsumwandlung
In den vergangenen drei Jahren wurde die Praxis der Geschlechtsumwandlung bei Jugendlichen verstärkt unter die Lupe genommen. Systematische Überprüfungen konnten die erhofften bedeutenden Verbesserungen der psychischen Gesundheit junger Menschen nicht nachweisen und zeigten erhebliche Risiken auf, darunter nachgewiesene Risiken für die Knochenentwicklung, wie eine aktuelle Studie in den Current Sexual Health Reports (2023: 15, 113–123 https://doi.org/10.1007/s11930-023-00358-x) ergeben hat. Neben England haben auch Finnland und Schweden den Einsatz von Pubertätsblockern auf klinische Studien beschränkt. In Norwegen und Frankreich wird von der Behandlung ebenfalls abgeraten.
Als Grund für die Restriktionen in Großbritannien werden die fehlenden Erkenntnisse zu der Behandlung mit Pubertätsblockern genannt. Auch würde ein erheblicher Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen unter psychischen Problemen oder neurologischen Entwicklungsstörungen leiden und/oder in einem schwierigen familiären oder sozialen Umfeld aufwachsen, die nach Ansicht des NHS den Wunsch nach einer Behandlung fördern könnten, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 30.6.2023).