Der von der Regierung beauftragte Bericht der Expertenkommission zur Evaluierung der Impfpflicht (8.3.2022) wurde im Ministerrat vorgelegt. Das Ergebnis: Eine sofortige Impfpflicht sei „nicht erforderlich“ bzw. „nicht angemessen“, wie es in dem 25-seitigen Report heißt. Nach Meinung der Fachleute wäre eine aktuelle Umsetzung rechtlich nur bei Personen möglich, die weder geimpft noch genesen sind. Allerdings gebe es auch bei dieser Gruppe medizinische und rechtliche Argumente für ein Hinausschieben der Umsetzung der Impfpflicht, schreiben die Experten (vgl. ORF online, 9.3.2022).
Die Regierung kommt den Empfehlungen nach. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) erklärte, dass man bei der Impfpflicht flexibel sein muss. „Wir folgen dem, was die Kommission vorschlägt. Deshalb wird die Impfpflicht vorerst ausgesetzt“, sagt Edtstadler. Der frisch angelobte und bereits dritte Gesundheitsminister in Pandemie-Zeiten, Johannes Rauch (Grüne), lobt den Bericht der Kommission zur Impfpflicht. Man werde sich an die Empfehlungen der Kommission halten und laufend neu evaluieren.
Die Kommission empfiehlt die Impfpflicht als solche zu behalten, aber die für Mitte März geplanten Strafen auszusetzen und in drei Monaten neuerlich über die Notwendigkeit der Impfpflicht zu entscheiden. Ein Eingriff in die Grundrechte sei derzeit zum Ziel der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems nicht gerechtfertigt. Ursprünglich hätten Ungeimpfte laut Impfpflicht-Gesetz ab dem 15. März (Phase 2) mit Bußgeldern belegt werden sollen (vgl. Bioethik aktuell, 21.1.2022). Diese Phase tritt nun doch nicht in Kraft.
In Hinblick auf die Impfpflicht gegen COVID-19 hält der Bericht fest, dass nach dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Impfpflicht als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit in den Kernbereich des Grundrechts auf Schutz des Privatlebens (Art 8 EMRK) fällt. Insoweit ist sie – auch wenn die Verabreichung einer Impfung medizinisch ein Eingriff von geringer Komplexität ist – aus grundrechtlicher Sicht ein schwerer Eingriff. Eine allgemeinen Impflicht erfordere deshalb auch die Prüfung von alternativen Maßnahmen im Vergleich zur Impfpflicht. Sollten gelindere Maßnahmen genügen, um das Ziel zu erreichen, sind diese geboten (vgl. Bioethik aktuell, 18.2.2022).
Die Kommission hält fest, dass die Impfung ein zentrales Element zur Bewältigung der Pandemie sei: „Die grundsätzliche Impfpflicht als probates Mittel zur Sicherstellung einer hohen Durchimpfungsrate ist prinzipiell weiterhin sinnvoll, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden“, heißt es in dem Bericht. Allerdings hingen das Ob und Wann einer Umsetzung der Impfpflicht aus medizinischer Sicht von mehreren Faktoren ab: von neuen Varianten und dem Verlauf der Infektionen im Frühling und Sommer (Epidemiologie), ab wann die Immunität nach einer Impfung oder Erkrankung schwindet, von der Wertigkeit von Therapien als möglichem Ersatz zur Impfung sowie weiteren Entwicklung der Impfakzeptanz in Hinblick auf Erstimmunisierungen und Auffrischungen.
Laut Expertenkommission sei es „sehr wahrscheinlich“, dass eine neue und möglicherweise massive Corona-Welle zu erwarten ist. Österreich müsse sich darauf entsprechend vorbereiten. Dennoch sei ein sofortiges Einsetzen der Impfpflicht aktuell „nicht erforderlich“ beziehungsweise „nicht angemessen“.
Mit 1. März 2022 waren in etwa 90% der österreichischen Bevölkerung gegen Infektion mit der Delta Variante und etwa 77% gegen Infektion mit der Omikron Variante, spezifisch, dem Subtyp BA.1, gut geschützt. Das geht aus Berechnungen des Teams um Simulationsforscher Niki Popper vom dhw, einem Spin-off der Technischen Universität (TU) Wien (vgl. COVID-19 Immunisierungsgrad, 2.3.2022) hervor. Dieser Wert ist im Laufe des letzten Monats auch durch die hohen Fallzahlen um etwa 11% gestiegen. Umgekehrt sinkt der Infektionsschutz aufgrund dritter Impfungen aus dem Spätherbst 2021 inzwischen wegen des zeitlichen Abstandes und Nachlassens der Wirksamkeit wieder.