Als erstes Land in Europa neben dem Vatikan hat Österreich eine allgemeine Impfpflicht (Bundesgesetz über die Impfpflicht gegen COVID-19) beschlossen. Das Gesetz, das am 5. Februar in Kraft treten wird, sieht vor, dass sich alle Personen ab 18 Jahren mit Haupt- oder Nebenwohnsitz in Österreich verpflichtend gegen COVID-19 impfen lassen müssen. Ausgenommen sind nur Schwangere und Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, sowie Genesene für einen Zeitraum von sechs Monaten. Die Sanktionen - Bußgelder in der Höhe von 600 bis 3.600 Euro - werden allerdings erst ab Anfang April greifen, da erst ab Mitte März kontrolliert werden soll. Zuvor sollen finanzielle Anreize (Gutscheine, Prämien für Gemeinden mit hoher Impfquote) zu mehr Impfungen führen.
137 der 170 Parlamentarier stimmten für die Impfpflicht, 33 sprachen sich dagegen aus, 13 Abgeordnete nahmen an der Abstimmung nicht teil (vgl. ORF, online 20.1.2022). Es gab keine freie Abstimmung innerhalb der Parteien, außer bei den Neos, die keinen sog. "Klubzwang" kennen. Noch vor wenigen Monaten hatten beide Regierungsparteien eine Impfpflicht abgelehnt. Als die Einführung einer Impfpflicht im November 2021 angekündigt wurde (vgl. Bioethik aktuell, 6.12.2021), kam es in ganz Österreich zu Großdemonstrationen. Die FPÖ hat prompt erklärt, dass sie über den Verfassungsgerichtshof (VfGH) und Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Impfpflicht vorgehen will (vgl. Kurier, 21.1.2022).
Ob die Impfpflicht in der geplanten Form wirklich das geeignete Instrument zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ist, entzweit die Fachwelt (vgl. Profil, online 18.1.2022): Während etwa die Virologin Dorothee von Laer (Meduni Innsbruck) „absolut für die allgemeine Impfpflicht“ eintritt, da nur so die „bis jetzt nicht geimpfte Bevölkerung“ überzeugt werden könne, rät der Epidemiologe Gerald Gartlehner (Donau Universität Krems), die allgemeine Impflicht zu überdenken, was auch nach deren Einführung möglich sei. Die Politik hätte einen „viel vehementeren Kurs fahren“ sollen, um mehr Menschen zur dritten Booster-Impfung zu bewegen, so der Epidemiologe. Verhindern könne man eine Durchseuchung aber nicht. Am Ende der Omikron-Welle werde ein Großteil der österreichischen Bevölkerung immun sein und damit auch „das Risiko für schwere Verläufe für kommende Wellen viel geringer“, sagt Gartlehner im Die Furche-Podcast (12.1.2022).
Der Deutsche Ethikrat hat angesichts der Omikron-Variante seine Empfehlung zur allgemeinen Impfpflicht zurückgenommen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die bisherige Impfquote bei zukünftigen, harmloseren Mutationen doch ausreiche, um in eine kontrollierte endemische Lage zu gelangen, so Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx. Außerdem hätte die Politik noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Impfrate zu erhöhen (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online 12.1.2022).
Um das Fortschreiten der Omikron-Welle zu stoppen, ist eine Impfpflicht jetzt zu spät, für einen Impfschutz ab Herbst ist sie zu früh. Da auch unklar ist, wie lange der Impfschutz nach einem dritten oder vierten Stich anhält, wurden auch in Österreich innerhalb der Parteien Zweifel laut, ob ein derartiger Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte gerechtfertigt sei. Zum Gesetzesentwurf waren trotz der kurzen Begutachtungsfrist mehr als 108.000 Stellungnahmen eingelangt.
Innerhalb der ÖVP gab es seitens der Wirtschaftskammer raue Töne gegen eine Impfpflicht, Stimmen nach einer Verschiebung wurden laut. In der Parlamentsdebatte legte der ÖVP-Abgeordnete Werner Saxinger kalmierend den Fokus darauf, dass die Impfpflicht nicht sofort scharf vollzogen werde, sondern eine Art „Vorsorge“ darstelle. Man werde „strafen, wenn es epidemiologisch nötig ist“. Er betrachte es als ein „Impfpflicht-Rahmengesetz“.
Angesichts der milderen Omikron-Variante, die zu einer weitgehenden Immunisierung der Bevölkerung führe, falle das Prinzip der Verhältnismäßigkeit weg, argumentierte der Gesundheits- und Pandemiesprecher der Neos, Gerald Loacker. Er stimmte gegen die Impfpflicht, seine Parteichefin Beate Meinl-Reisinger dafür. Wenngleich auch sie hofft, dass Bußgelder womöglich nicht mehr nötig seien: „Man muss sich auf den Herbst vorbereiten, aber vielleicht muss man das Gesetz gar nicht ‚scharfstellen‘“ (vgl. Die Presse, online 20.1.2022).
Das Gesetz gibt als Ziel den "Schutz der öffentlichen Gesundheit" vor. Der Verfassungsjurist Benjamin Kneihs (Uni Salzburg) kritisiert, dass dies zu "schwammig formuliert" sei (vgl. ORF_Sendung Im Zentrum, 16.1.2021). Eine Kommission solle ein Ziel überprüfen, ohne dass festgelegt wurde, nach welchen Parametern dieser "Schutz" gemessen werden soll. Auch eine generelle "Minimierung" der Virusverbreitung sei ein Ziel. Eine Minimierung sei freilich immer wünschenswert, tauge aber kaum als Argument für einen Eingriff in Grund- und Freiheitsrechte, gibt Kneihs zu bedenken (vgl. ORF online, 10.1.2022).
Gleichzeitig werden Warnungen laut, dass massenhafte Verstöße gegen die Impfpflicht Polizei und Justiz überlasten könnten. Die Regierung rechnet allein für das Jahr 2022 mit 1,8 Millionen Strafverfügungen. Womit es in der Folge zu 1,4 Millionen Verwaltungsstrafverfahren (nach Einsprüchen) bei den Bezirkshauptmannschaften und zu 100.000 Verfahren bei den Landesverwaltungsgerichten kommen würde, wenn Strafen nicht bezahlt werden oder diesen widersprochen wird (vgl. Standard, online 12.1.2022). Richter und Staatsanwälte fordern schon jetzt eine Verdoppelung des Personals, vor allem im Verwaltungsbereich. Sonst drohe die Gefahr, dass Verfahren nicht im zeitlichen Rahmen abgewickelt werden könnten und die Impfpflicht damit ein Papiertiger bliebe.
In Deutschland wird die Einführung einer Impfpflicht derzeit debattiert. In Italien gibt es seit Anfang Jänner eine Impfpflicht für Über-50-Jährige, auch am Arbeitsplatz (vgl. Standard, online 6.1.2022). Tschechien hingegen hat das Vorhaben einer Impfpflicht für alle ab 60 Jahre und bestimmte Berufsgruppen wieder zurückgenommen. Man wolle die Gräben in der Gesellschaft nicht vertiefen, begründete der neue liberalkonservative Ministerpräsident Petr Fiala die Entscheidung.