Die Freiheit im Widerspruch: Ein Selbstbestimmungsrecht, sich selbst zu töten?

Imago Hominis (2014); 21(4): 245-248
Enrique H. Prat

Die Autonomie des Menschen ist eines der Hauptthemen der Philosophie der Aufklärung, doch die Väter der Aufklärung waren nicht der Meinung, dass die Autonomie (= Selbstbestimmung) des Menschen schrankenlose Willkür ist. Sie meinten nur, dass sie von anderen Menschen nicht willkürlich eingeschränkt werden kann. Kant hat Autonomie als Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft definiert.1 Mit der moralischen Selbstbestimmung meint er nicht eine ungebundene oder gar begründungsfreie Autonomie, sondern eine Bestimmung des individuellen Willens, die zugleich als Gegenstand eines allgemeinen Willens gedacht werden kann.2 Mit anderen Worten: Der autonome Mensch muss herausfinden, was vernünftig ist. Was vernünftig ist, ist auch das sittlich Richtige. Autonomie schließt Bindung an die Sittlichkeit konstitutiv ein. Die Autonomie einer unvernünftigen Selbstgesetzgebung wäre daher unsittlich und keine Autonomie mehr, sondern eher Heteronomie, d. h. Fremdbestimmung.

Die Selbstvernichtungsentscheidung: eine Absage an die Freiheit

Schon bei Kant3 ist der Selbstmord nicht Ausdruck von, sondern Absage an die Autonomie und Freiheit des Menschen, denn mit diesem Akt vernichtet sich ja gerade das Subjekt von Freiheit und Sittlichkeit selbst. Das Selbstbestimmungsrecht setzt ein Selbst als Rechtssubjekt voraus, das sich selbst bestimmen kann. Die Frage ist nun, ob der Mensch, der keiner eigenen Selbstbestimmungshandlung seinen Ursprung verdankt – niemand hat sich selbst gemacht –, sich selbst vernichten darf. Anhänger eines materialistisch-evolutionistischen Menschenbildes, die keinen Bezug zum Leben als Gabe oder Schöpfung kennen und den Menschen bloß als Produkt des Zufalls ansehen, sagen: „Warum nicht?“ Schließlich ist jedes Individuum ein Zufallsprodukt, wer mit sich selbst nicht zu Rande kommt, ist ein Opfer der Evolution. Eine Form der Anpassung ist eben die Selbstvernichtung. Das klingt zynisch, ist aber nichts anderes als ein konsequent zu Ende gedachtes materialistisch-evolutionäres Weltbild. Dieses ist zutiefst deterministisch, es leugnet Freiheit, d. h. es leugnet die Autonomie und die Selbstbestimmung, die es rein psychologisch einstuft. Halten wir fest: Mit bekennenden Materialisten hat es wenig Sinn, über Euthanasie, Töten auf Verlangen oder den Suizid zu debattieren, sie setzen an einem falschen Paradigma an. Es fehlt ihnen das Fundament, um geistige Vollzüge, Verstand und Willen ausreichend erklären zu können. Wenn sie dennoch von der Autonomie des Menschen und von Selbstbestimmung sprechen, sind sie inkonsequent.

Ein Recht auf Selbstvernichtung muss unabhängig vom Selbstbestimmungsrecht begründet werden. Letzteres legitimiert autonome Entscheidungen, zu tun und zu werden, was vernünftig, d. h. sittlich richtig ist. Selbstvernichtung als autonome Entscheidung ist die radikalste aller Entscheidungen des Menschen, der sich in der Frage Hamlets „to be or not to be?“ für das Nichtsein entscheidet. Sie steht im krassen Gegensatz zum allgemeinen Naturgesetz eines jeden Lebewesens, nämlich zum Selbsterhaltungstrieb. Zur Selbstvernichtungsentscheidung muss der Mensch die stärkste aller seiner inneren Kräfte überwinden, nämlich die biologische und die psychologische Kraft des Selbsterhaltungstriebes. Noch im 20. Jahrhundert galt es als unumstritten, dass eine innere selbstvernichtende Kraft, die stärker als der Selbsterhaltungstrieb ist, nur mit einer Psychopathie begründet werden kann. Selbstvernichtung bedeutet auf der anderen Seite einen gewalttätigen Identitätsbruch, nämlich die Wendung gegen sich selbst und gegen alle. Denn jeder Mensch ist zugleich Mit-Mensch.

Der Mensch hat das Privileg der Freiheit (und konsequenterweise die Verantwortung für sein Tun) erhalten. Dies begründet seine Würde: „Menschenwürde“ hält den Raum offen, innerhalb dessen der Vorrang des Selbstseins vor dem Etwas-Sein und damit das auszeichnend humane, das freiheitliche Niveau eines menschlichen Selbstverhältnisses allererst möglich ist.4 Aus dieser Perspektive stellt sich nun die Frage, ob die Selbstbestimmungsentscheidung, endgültig aus der Freiheit herauszutreten, vielleicht als angemessen betrachtet werden kann?

Wer diese Argumentation vertritt, führt das Wesen der Freiheit ad absurdum. In Betrachtungen über das Wesen der Zeit kommen Augustinus5 ebenso wie H. Bergson6 zu dem Schluss, dass das Leben eines Menschen eine biographische Einheit aus den verschiedenen Lebensphasen bildet, die keine Teilung zulässt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden ein Kontinuum. Eine Selbsttötung ist allemal ein Gewaltakt, der das biographische Kontinuum des Menschen zerstört. Die Person lebt ja nicht bloß im Augenblick des Jetzt, ihre Identität ist Folge der biographischen Einheit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Menschen verstehen die Vergangenheit als „ihre Vergangenheit“ und Zukunft als das, was „mir offensteht“. Wer unter Rekurs auf die Freiheit die Freiheit zerstört, verweigert sich daher einer Dimension der eigenen Identität, der eigenen Zukunft.

Ein Selbstvernichtungsrecht ist mit einem Selbstbestimmungsrecht nicht kompatibel, ganz im Gegenteil, es würde die Selbstbestimmung permanent gefährden. Beide schließen also einander aus.

Der Selbstmord hat eine tragische Note: In ihr instrumentalisiert sich der Mensch selbst. Er sieht sich selbst nur noch als Mittel, um einen wünschenswerten Zustand zu erreichen. Versagt nun dieses Mittel, dann räumt er sich selbst beiseite. Wir stehen aber zu unserem eigenen Leben, das die Bedingung jedes instrumentellen, auf Zweck hingerichteten Handelns ist, nicht nur in einem rein instrumentellen Verhältnis.

Echte Autonomie darf nicht eingeschränkt werden

Die ethische Legitimität der Beihilfe zur Selbsttötung bzw. Tötung auf Verlangen (Euthanasie) wird meistens mit dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung begründet. Würde man aber dieses Recht wirklich ernst nehmen, so müsste jedweder Todeswunsch eines erwachsenen, zurechnungsfähigen und informierten Menschen erfüllt werden. Interessant ist, dass man in der Debatte aber immer gleich Einschränkungen macht: Offenbar gibt es ein starkes Bedürfnis jenen, die auf Verlangen töten oder beim Suizid mitwirken sollen, den Todeswunsch rational nachvollziehbar darzustellen. Als nachvollziehbar gelten zumeist ausschließlich der Grund unheilbarer Krankheit und der individuelle Todeswunsch. Richten sich solche Regelungen nicht gegen die Selbstbestimmung? Ja, meint der Philosoph Robert Spaemann: „Eine solche Einschränkung hat nun aber mit dem Prinzip der Selbstbestimmung nichts zu tun, ja sie widerspricht ihr sogar. Sonst müsste man jedem Menschen das Recht einräumen, die Kriterien für die Bewertung seines Lebens selbst festzulegen. Selbstmord aus Liebeskummer oder der sogenannte Bilanzselbstmord müssten demnach gleichrangig bewertet werden.“7 Echte Autonomie darf nicht eingeschränkt werden, nur eine Pseudoautonomie, d. h. eine falsche Autonomie kann eingeschränkt werden.

Das Selbstbestimmungsrecht kann auch deswegen nicht zur Begründung der Beihilfe zur Selbsttötung herangezogen werden, weil es sehr zweifelhaft ist, ob der Sterbewunsch des Patienten immer als sein eigentlicher Wille angesehen werden darf. Die Erkenntnis des bevorstehenden Lebensendes löst Gefühle von Entsetzen, Schock, Angst, Wut, Verzweiflung und Depression aus. Jeder Arzt hat nach langjähriger Praxis die Erfahrung gemacht, dass schwerkranke Patienten oft den Mut verlieren und direkt oder indirekt, mehr oder weniger explizit den Wunsch äußern, nicht weiter behandelt werden zu wollen. Manchmal handelt es sich nur um eine Klage, manchmal aber um einen bedingten Wunsch („Wenn es so weiter geht, lassen Sie mich sterben“) und manchmal um eine klare Bitte oder gar einen Befehl, mit der Behandlung aufzuhören, denn es habe keinen Sinn mehr. Die ärztliche Praxis und viele Untersuchungen zeigen, dass dieser Wunsch meist nicht mit dem eigentlichen Willen des Patienten übereinstimmt. Patienten sind für gewöhnlich, sobald es ihnen besser geht, sehr froh und unendlich dankbar dafür, dass der Arzt den Wunsch nicht ernst genommen hat.

Selbsttötung als Absage an die Gesellschaft

Die bisherige individualethische Argumentation kann durch eine sozialethische ergänzt werden. Personen sind nicht nur Individuen, sondern stehen auch wesentlich in Beziehung zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Man kann erst „Ich“ sagen, wenn es auch ein „Du“ gibt. Ja, unser „Selbst“ schließt den „Anderen“ von Anfang an mit ein.8 Anerkannt und geliebt zu werden, gehört zu den primären geistigen Bedürfnissen des Menschen. Selbstvernichtung ist deshalb nicht „nur eine private Angelegenheit“, sondern immer auch eine soziale, ist nicht nur Selbstvergessenheit, sondern auch eine Ablehnung des „Du“. Gerade deshalb leiden auch Angehörige und Freunde extrem darunter, wenn sie einen geliebten Menschen, der durch Suizid stirbt, verlieren. Die Selbstmordhandlung bedeutet sprachlich „Ich kann mit Dir nichts mehr anfangen; Deine Liebe, Deine Zuwendung genügen nicht, um mein Leben noch lebenswert zu machen, ich verzichte auch darauf und töte mich“. Selbstmord ist immer auch eine Absage an das menschliche Umfeld und an die Gesellschaft, ein Affront gegen sie. Auch der eingangs erwähnte Materialist, der mit dem evolutionären Paradigma argumentiert, wird sich sehr schwer tun, eine Selbstzerstörungshandlung als ein Selbstbestimmungsrecht anzusehen, wenn er den Menschen eingebettet in einem gesellschaftlichen Liebes- und Abhängigkeitsgeflecht ansieht, dem er bei einer solchen individualistischen Handlung einen Schaden zufügt.

Beihilfe zur Selbsttötung aus Liebe, Barmherzigkeit oder Mitleid?

Häufig wird gefordert, man solle dem Verlangen nach Beihilfe zur Selbsttötung in einer Situation eines nicht länger tragbaren physischen und seelischen Schmerzes nachkommen. Das meistens schon zu Ende gehende Leben habe keinen Sinn mehr, die Situation sei entwürdigend für den Betroffenen und für jene, die in seiner Umgebung sind. Es sei eine Mitleidshandlung, dem Tötungswunsch nachzukommen. Mag sein, dass manche sich vorstellen können, den geliebten Menschen aus Liebe zu töten. Dann aber müsste man sich über die Auffassung ihrer Liebe unterhalten. Wenn Liebe Bejahung ist, und wenn das Leben immer unter allen Umständen, d. h. unabhängig von der – nach außen erscheinenden oder auch nach Innen empfundenen – Lebensqualität,9 eine unauslöschbare Würde besitzt, dann bedeutet zu töten niemals Bejahung, Zuwendung oder Mitleid und ist daher auch kein Akt der Nächstenliebe. Davon abgesehen ist es nicht nur vorstellbar, sondern eine Tatsache, dass es auch schwerstkranke Menschen mit infauster Prognose gibt, die allein gelassen werden, keine Angehörige mehr haben, keine Freunde und keine emotionalen Ansprechpartner. Es gibt keine realistische Möglichkeit, diesen Menschen einen Lebenssinn zu vermitteln und ihren Lebenswillen wieder zu erwecken. Auch in solchen Fällen ist eine Tötungshandlung ethisch nicht zu rechtfertigen. Diese Menschen würden gerne weiterleben, wenn sie einen Sinn vermittelt bekommen, eine neue Lebensaufgabe, ein „Wofür-Leben“ erhalten. Auch wenn die Gesellschaft die Pflicht hätte, sich um diese Menschen zu kümmern und ihnen in dieser hoffnungslosen Situation zu helfen, kann es sein, dass es de facto nicht mehr geht, weil es an den geeigneten Einrichtungen fehlt. Gerade in diesen Fällen muss geprüft werden, ob lebensverlängernde Maßnahmen zu rechtfertigen sind, und ein Therapierückzug angebracht oder sogar geboten wird. In solchen Situationen von Selbstmord oder der Beihilfe zum Selbstmord zu sprechen, ist jedoch nicht richtig. Der Mangel an Lebenswillen ist nicht einem Selbsttötungswillen gleichzusetzen, sondern ließe sich eher zusammenfassen in: „Wenn ihr mir nicht helfen könnt, lasst mich zumindest in Ruhe sterben“.

Das Angebot, Ärzte zu Tötungsgehilfen von Suizidgefährdeten zu legitimieren und dies als Wahrung der Selbstbestimmung zu verkaufen, wäre, mit Spaemann gesprochen, der infamste Ausweg, den die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen.

Referenzen

  1. Kant I., Reflexionen zur Metaphysik, Nr. 6070, Akad. Ausgabe 18, 443
  2. Schockenhoff E., Recht auf Leben – Recht zu sterben. Grenzen menschlicher Selbstbestimmung am Lebensende, Imago Hominis (2001); 8(1): 23-30
  3. vgl. Kant I., Metaphysik der Sitten, IV, 429 ff; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, VI, 421 ff
  4. Hoffmann T. S., Menschenwürde als Maßstab humaner Praxis. Einige prinzipielle Überlegungen zu einem stets aktuellen Begriff, Imago Hominis (2006); 13(1): 37-48
  5. Augustinus, Bekenntnisse, Buch XI
  6. Bergson H., Zeit und Freiheit, Diederichs, Jena (1911);  Materie und Gedächtnis, Diederichs, Jena (1914)
  7. vgl. Spaemann R., Es gibt kein gutes Töten, in: Spaemann R., Fuchs Th., Töten oder sterben lassen?, Herder (1997), S. 22-23
  8. Buber M., Das dialogische Prinzip, 7. Ausgabe, Lambert Schneider (1994), S. 32; vgl. auch Säuglingsforschung Stern D. N., The Interpersonal World of the Infant, Basic Books, New York (1985)
  9. Prat E., Lebensqualität als Entscheidungskriterium, Imago Hominis (1996); 3(2): 107-115

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
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