Das Leiden am Schmerz. Psychosozial-anthropologische Dimensionen

Imago Hominis (2014); 21(4): 259-267
Michael Bach

Zusammenfassung

Schmerz wird heute als bio-psycho-soziales Gesamtphänomen aufgefasst, an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung sowohl biologisch-physiologische als auch eine Reihe psychosozialer Faktoren beteiligt sind. Neben der – überwiegend sensorisch geprägten – Schmerzstärke („Pain Intensity“) ist die – überwiegend emotional geprägte – subjektive Beeinträchtigung durch den Schmerz („Pain Disability“) ein wesentlicher Aspekt in der Diagnostik und Therapie chronisch Schmerzkranker. Das „Leiden am Schmerz“ wird so zur Zielgröße vor allem psychotherapeutischer Interventionsmaßnahme im Rahmen einer multimodal ausgerichteten umfassenden Schmerztherapie.

Schlüsselwörter: Bio-psycho-soziales Modell, Pain Disability, Leiden am Schmerz, Schmerzpsychotherapie

Abstract

Pain is currently regarded a complex bio-psycho-social phenomenon. Its development and maintenance involve both biological and physiological factors, as well as a range of psycho-social factors. In addition to ‘pain intensity’ (predominantly determined by the sensory system), another key aspect in the diagnosis and treatment of chronic pain in patients is ‘pain disability’ (which depends on the emotional processing of pain). Consequently, the suffering of pain may be a target for psycho-therapeutic interventions within the framework of comprehensive multi-modal pain treatment programs.

Keywords: bio-psychosocial model, pain disability, suffering of pain, psychotherapy


Einleitung

Schmerz ist ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen, das zum Erfahrungsschatz nahezu jedes Menschen zählt. Jeder Schmerz hinterlässt eine Erlebnisspur, die spätere Schmerzerfahrungen beeinflusst. Wie bei anderen Erfahrungen auch, versucht der Mensch seinen Schmerz in einen Sinnzusammenhang mit seinem Denken und Fühlen zu stellen, eingebettet in den individuellen soziokulturellen Bedeutungszusammenhang und das jeweils vorherrschende Schmerzverständnis. Je nach Weltbild und konzeptionellem Zugang lässt sich Schmerz heute auf unterschiedlichen Ebenen definieren – als sensorischer Vorgang (medizinisch-nozizeptives Modell), als emotionales Erlebnis (Leiden am Schmerz), als Bürde bzw. Strafe oder als Herausforderung.1

Was ist Schmerz? – Klassische medizinische Modellvorstellungen

Seit der Antike ist die Beantwortung der Frage, was Schmerz sei, eng mit den jeweils vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Modellen zum Leib-Seele-Problem verbunden.

Platon (427 – 347 v. Chr.) vertritt in seiner Ideenlehre einen Leib-Seele-Dualismus. Der „eigentliche“ Mensch ist die Seele, die quasi im Körper gefangen ist („Kerker der Seele“). Schmerz ist nur eine Eigenschaft der Seele. Im Menschenbild des Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) gewinnt dagegen die Körperlichkeit an Bedeutung. Er zeichnet den Menschen grundsätzlich als Geist-Körperwesen. Der Körper ist wesentlich dem Geist zugeordnet, er ist „Werkzeug” (Organon) der Seele. Der Schmerz wird bei Aristoteles erstmals als Wahrnehmungsphänomen gekennzeichnet.

Thomas von Aquin (1225 – 1274) entwickelt das aristotelische Konzept der Einheit von Leib und Seele weiter und setzte sich damit gegen einen neuplatonischen leiblosen Spiritualismus ab. Er versteht den Bereich des (menschlichen) mentalen Lebens von materiellen Bedingungen abhängig und stellt sich damit gegen den Dualismus. Zugleich lässt sich das Mentale aber nicht einfachhin auf das Materielle reduzieren (Physikalismus), sondern bildet einen Wirklichkeitsbereich, der über das rein Physische hinausgeht.

Das 17. Jahrhundert war eine Periode des Umbruchs in der Medizin und in den Naturwissenschaften. Die von René Descartes (1596 – 1650) formulierte Trennung des Menschen in res extensa (Körper) und res cogitans (Seele) wirkte auch auf die Medizin ein. Descartes beschrieb Körper und Seele als zwei getrennte, aber interagierende Einheiten (psychophysischer Interaktionismus). Nun rückte die Erforschung der physikalischen Gesetze und damit auch der somatischen Mechanismen der Schmerzentstehung in den Mittelpunkt. Das neuzeitliche Menschenbild bahnte den Weg für eine die Medizin – teils bis heute – prägende mechanistische Denkweise.

Eine Weiterentwicklung stellt der psychophysische Parallelismus von Leibnitz (1646 – 1716) dar, auf dessen Grundlage später die ersten psychophysiologischen Modelle von Wundt (1832 – 1920) und Tutchener (1867 – 1920) entstanden. Gemeinsam ist diesen Modellen die Auffassung von Schmerz als eigenständige sensorische Erfahrung, die durch postulierte neurophysiologische Strukturen und Prozesse vollständig erklärbar wurden. Dem Gehirn wurde bei der Schmerzverarbeitung eine eher passive Rolle als Rezeptororgan für spezifische Nervenreize zugeschrieben. Die psychische Seite des Schmerzerlebens und der Schmerzverarbeitung wurde als komplementäre Begleiterscheinung gedeutet. Eine Weiterentwicklung dieser Sichtweise findet sich in der von v. Frey (1985) entwickelten Spezifitätstheorie. Komplexe Schmerzsyndrome, wie Kausalgie oder Phantomschmerz, lassen sich mit diesen Modellen allerdings nicht hinreichend erklären.

Eine Alternative stellen die sogenannten Pattern-Theorien dar, beruhend auf der Annahme von Goldscheider (1894), dass Schmerz dann zentral wahrgenommen werde, wenn die Summe der einströmenden peripheren Nervenimpulse eine bestimmte Schwelle überschreitet. Eine Weiterentwicklung erfuhr dieses Modell in der zentralen Summationstheorie von Livingston (1943) und der sensiblen Interaktionstheorie von Noordenbos (1959).

Insgesamt bleiben diese Konzeptionen dem Grundgedanken des psychophysischen Parallelismus verhaftet, demzufolge die psychische Seite des Schmerzes lediglich mit der somatosensorischen Seite „mitreagiert“. Die Schlüssigkeit dieser Modelle wird in Frage gestellt angesichts der Existenz von Schmerzsyndromen ohne organisches Korrelat – sog. somatoformen Schmerzsyndromen; nach Auffassung der Spezifitäts- oder Pattern-Theorien können diese keine echten Schmerzen sein, da ihnen die physiologische Grundlage (weitgehend) fehlt. Ein Ausweg aus dieser konzeptionellen Schwachstelle schien die Stigmatisierung von betroffenen PatientInnen als „Simulanten“, „Rentenneurotiker“ oder „Hysteriker“.2 Etwa zeitgleich zur Spezifitäts- und Pattern-Theorie wurde von Marshall (1894) die Affekt-Theorie des Schmerzes entwickelt, die von zwei parallelen Systemen ausgeht, die simultan aktiviert werden: das sensorische und das affektive System. Gemeinsam mit den beiden letztgenannten Modellen lassen sich somit an der Schwelle des 20. Jahrhunderts Denkströmungen erkennen, die auch heute noch als Bausteine eines übergreifenden ganzheitlichen Schmerzkonzeptes integriert werden können.

Was ist Schmerz heute? – Bio-psycho-soziale Modelle

Vermutlich das erste multidimensionale Schmerzmodell, in dem biologische und psychologische Mechanismen zu einer einheitlichen Theorie zusammengefasst wurden, stellt die Gate-Control-Theorie dar.3 Zentrale Aussage dieser Schmerzmodulationstheorie ist die Formulierung eines neuronalen Tormechanismus im Hinterhorn (Substantia gelatinosa) des Rückenmarks, der die Übertragung einlangender Schmerzimpulse von den peripheren Schmerzbahnen (A-Delta- und C-Fasern) auf Bahnen des Rückenmarks steuert. Im Gegensatz zu früheren Reiz-Reaktions-Modellen weist diese Konzeption dem ZNS eine umfassende aktive Rolle bei der Modulation des nozizeptiven Erregungsmusters durch deszendierende anti-nozizeptive Kontrollmechanismen zu. Große Bedeutung erlangte diese Theorie weiters durch die Berücksichtigung zentralnervöser Netzwerke – unter anderem subkortikaler Motivations- und Emotionssysteme – für die Schmerzverarbeitung. Körperliche und seelische Vorgänge werden hier als interagierende Dimensionen angenommen, wobei die psychische Komponente als integraler, gleichrangiger Bestandteil der menschlichen Schmerzerfahrung und nicht nur als individuelle Begleitreaktion auf den Schmerz angesehen wird.4 Die gegenseitige Abhängigkeit psychischer und physischer Vorgänge bei der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung lässt sie als funktionelle Einheit verstehen.

Die Komplexität der Gate-Control-Theorie kann als Überwindung einer rein deterministischen Reiz-Reaktions-Konzeption des Schmerzes hin zu kybernetischen Schmerzmodellen verstanden werden. Aus der Sicht kybernetischer Systeme hängt die Schmerzreaktion nicht nur vom Schmerzreiz ab (im Sinne einer determinierten Reaktion auf einen weitgehend unabhängigen äußeren Auslöser), sondern auch von der Reaktionsbereitschaft des Organismus (als inneren Zustand). Der Organismus (oder noch besser: die Person) kann hier als aktives System verstanden werden, das sich auf den Reiz hin ausrichtet, ihn gleichsam intendiert bzw. in seiner Bedeutung als Reiz vorwegnimmt. Im Sinne des kybernetischen Grundprinzips der inneren Homöostase veranlasst die Abweichung von einem Soll-Wert den Organismus (die Person) zur Reaktion auf einen relevanten Reiz. Unsere gegenwärtige Auffassung von kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Schmerzmodulationsmechanismen lässt somit die Schmerzverarbeitung bis hin zur bewußten Wahrnehmung nicht mehr als „alles-oder-nichts“-Vorgang begreifen, sondern als komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann: Hier öffnet sich der Weg zur modernen (pharmakologischen, invasiven oder psychologisch-psychotherapeutischen) Schmerztherapie.

Ausgehend vom kybernetischen Ansatz formulierte Engel (1977)5 das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell. In seiner Grundkonzeption handelt es sich hierbei um ein hierarchisch angeordnetes Verständnis des Menschen bestehend aus Subsystemen (Nervensystem, Organsysteme, Organe, Gewebe, Zelle, Organelle, Molekül) und übergeordneten Systemen (Partnerschaft, Familie, Gesellschaft, Subkultur, Kultur, Staat/Nation, Biosphäre). In der Wissenschaftstheorie der modernen Psychosomatik wurde das bio-psycho-soziale Modell weiterentwickelt zum sog. Situationskreis-Modell.6 Nach diesem Modell bilden Umwelt und Organismus ein dynamisch sich entwickelndes ganzheitliches System, das neben der somatosensorischen bzw. physiologischen Ebene durch psychische und sozio-kulturelle Beziehungsebenen geprägt ist. Auf der Basis phylogenetisch geprägter Programme durchläuft das Individuum in seiner Ontogenese verschiedene Entwicklungs- und Reifungsstadien im Austausch mit seiner Umwelt. Im Unterschied zum Tier, bei dem die Umgebungswahrnehmung in wesentlichen Aspekten determiniert ist, besitzt der Mensch die Möglichkeit, seine „individuelle Wirklichkeit“ in Abhängigkeit von spezifischen Lebenserfahrungen in seinem jeweiligen soziokulturellen Kontext zu konstruieren. Dieses sich individuell entwickelnde Programm stellt ein adaptatives Bewältigungsrepertoire für die jeweiligen Lebenserfordernisse dar. Ist dieses Programm unzureichend adaptativ (beispielsweise im Rahmen von lebensverändernden Ereignissen, akuten traumatischen Krisen, chronischen Belastungssituationen etc.), so bilden sich vermehrt (patho-) physiologische Fehlfunktionen aus, die krankheitsfördernde oder -aufrechterhaltende Bedeutung erlangen können.

Ein wichtiger Schritt hin zu einem mehrdimensionalen Schmerzverständnis war die Schmerzdefinition der Internationalen Schmerzgesellschaft (IASP): „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“.7 Schmerz wird somit heute als bio-psycho-soziales Gesamtphänomen aufgefasst, an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung neben der biologisch-physiologischen (sensorischen) Ebene auch affektiv-emotionale, motivationale und evaluativ-kognitive Faktoren beteiligt sind. Die aus dem cartesianischen Denken tradierte Auffassung einer Dichotomisierung zwischen „somatischen“ und „psychischen“ Schmerzen kommt zwar dem Bedürfnis nach klar abgrenzbaren klinischen Entitäten nahe. Ausgehend von einem ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ist jedoch die Frage, ob Schmerzen „somatogen“ bzw. „psychogen“ bedingt seien, im Sinne eines „entweder-oder“ heuristisch nicht mehr sinnvoll. Vielmehr stellt sich die Frage, in welchem Umfang biologische und psychosoziale Faktoren im jeweiligen Einzelfall pathogenetisch bzw. pathoplastisch wirksam sind.

Chronifizierung von Schmerz und „Pain Disability“

Die Ergebnisse der modernen Schmerzforschung legen nahe, akuten und chronischen Schmerz als zwei grundlegend unterschiedliche Arten von Schmerz zu differenzieren. Akuter Schmerz ist in der Regel kurz andauernd und üblicherweise somatisch-nozizeptiv ausgelöst (durch Verletzungen, Entzündungen, körperliche Fehlfunktionen etc.). Der akute Schmerz besitzt hier eine biologische Warnfunktion, indem er (meist aufgrund einer lokalisierbaren Verknüpfung mit der auslösenden Ursache) auf zugrundeliegende (organ-)pathologische Prozesse hinweist und auf eine unmittelbare Begrenzung der potentiellen Gewebsschädigung ausgerichtet ist (z. B. Entfernen der Hand von einer heißen Herdplatte). Gleichzeitig besitzt der akute Schmerz eine unmittelbar rehabilitative Funktion, indem er (z. B. bei Unfällen oder Entzündungen) zur Ruhe und Schonung zwingt. Die schmerzassoziierte emotionale Reaktion (Ängstlichkeit, Betroffenheit, reduzierte Stresstoleranz) lässt sich am ehesten als (nicht zwingend pathologischer) Begleitumstand des Schmerzerlebens auffassen, der eine unmittelbare emotionale Validierung des akuten Schmerzgeschehens ermöglicht. Insgesamt dient der akute Schmerz der Erhaltung der bio-psycho-sozialen Unversehrtheit und Funktionsfähigkeit.

Chronischer Schmerz ist grundsätzlich etwas anderes als ein lang anhaltender Schmerz. Im Verlauf von mehreren Wochen bis Monaten (nach aktueller Definition: mehr als 3 Monate) finden auf unterschiedlichen somatischen und psychosozialen Ebenen Chronifizierungsvorgänge statt, die eine sekundäre Kausalkette für die weitere Aufrechterhaltung des Schmerzes darstellen. Dieser Chronifizierungsprozess lässt sich nicht mehr rein nozizeptiv erklären, zunehmend rücken psychosoziale Faktoren der Chronifizierung in den Vordergrund. Durch die schrittweise Verselbständigung des Schmerzgeschehens von seiner ursprünglich auslösenden Ursache verliert der chronische Schmerz seine biologische Warnfunktion; er ist nicht mehr Hinweis auf eine (zugrundeliegende) Verletzung oder Erkrankung, sondern ist selbst zu einer eigenständigen „psycho-somatischen“ Erkrankung geworden (so wird auch oft von der „chronischen Schmerzerkrankung“ gesprochen).

Im Zusammenhang mit den psychosozialen Aspekten der Schmerzchronifizierung wurde das Konzept der „Pain Disability“ formuliert: Neben körperlichen Einschränkungen (z. B. der Beweglichkeit) führt Schmerz zu subjektiver Beeinträchtigung bzw. Behinderung in unterschiedlichen psychosozialen Funktionsbereichen (Arbeit, häusliche Tätigkeit, Freizeitaktivitäten, Partnerschaft und anderen sozialen Beziehungen). Der Zusammenhang zwischen (körperlicher) Schädigung und (psychosozialer) Beeinträchtigung ist nicht-linear.8 So weisen beispielsweise Schmerzkranke mit vergleichbarem körperlichem Befund höchst unterschiedliche Grade der subjektiven Beeinträchtigung und Behinderung („disability“) auf. Weiters ließ sich zeigen, dass das Erleben von Beeinträchtigung und Behinderung weniger mit der Schmerzintensität, als vielmehr mit der kognitiv-emotionalen Betroffenheit – dem „Leiden am Schmerz“ – in Zusammenhang steht.9 Das Leiden am Schmerz („suffering“) lässt sich hier als Gefühlszustand auffassen, der mit dem Erleben oder der drohenden Erwartung einer Beeinträchtigung einhergeht.10 Hieraus folgt, dass nicht allein der Schmerz (bzw. die Schmerzintensität), sondern auch der damit verbundene Leidensdruck zu entsprechenden Verhaltenskonsequenzen führt, wie beispielsweise Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen, Einnahme von Medikamenten, sozialer Rückzug und Krankenstand. In der Interaktion Betroffener mit der Umwelt erlangt der erlebte Schmerz jeweils unterschiedliche Bedeutung. Das Ausmaß der erlebten psychosozialen Beeinträchtigung und Behinderung ist dabei in hohem Maße durch soziokulturelle Faktoren mitgeprägt.11

Aus der Betrachtung des „Leidens am Schmerz“ ergeben sich neue Zugänge zur Diagnostik und Therapie von Schmerzzuständen, die über ein rein schulmedizinisch-naturalistisches Schmerzkonzept weit hinausreichen. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass die fehlende Berücksichtigung solcher psychosozialen Aspekte fälschlicherweise zu einer einseitig medizinischen Sichtweise von subjektivem Leidensdruck und Beeinträchtigungsausmaß führt, was zusätzliche iatrogene Chronifizierungsvorgänge nach sich ziehen kann.12

Warum leiden manche Menschen mehr als andere?

Die Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen lässt sich gegenwärtig am besten als Wechselwirkungs- bzw. Aufschaukelungsmodell zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren begreifen. Die für das „Leiden am Schmerz“ besonders relevante psychosoziale Dimension des Schmerzerlebens und der Schmerzverarbeitung wird durch folgende Faktoren geprägt:

Prädisponierende psychosoziale Faktoren

Einem tiefenpsychologischen Verständnis der Schmerzentstehung folgend, gehen wir heute davon aus, dass die Emotionsregulation am Beginn unseres Lebens überwiegend viszeral-somatisch gesteuert wird, d. h. überspitzt formuliert: Wir „somatisieren“ unsere Emotionen. Durch Reifung von diencephalen, limbischen und paralimbischen Strukturen erfolgt in den ersten Lebensjahren die schrittweise Entwicklung von Gefühlen und – eng in Verbindung mit der Sprachentwicklung – eine zunehmende „Desomatisierung“ bzw. „Mentalisierung“ oder kognitive Repräsentanz von Emotionen.13 Entscheidend für diesen Entwicklungsprozess sind positive frühkindliche Bindungserfahrungen. Unsichere Bindungserfahrungen (z. B. emotionale Vernachlässigung) oder Traumatisierungen während dieser frühen Phase können die kognitiv-emotionale Reifung blockieren bzw. verzögern, die Folge ist eine „emotionale Hilflosigkeit“ bei psychosozialen Belastungen und Konflikten bis ins Erwachsenenalter. Diese auch als „Alexithymie“ (wörtlich: „Keine Worte für Gefühle“) beschriebene Affektregulationsstörung gilt als ein Vulnerabilitätsfaktor für die Schmerzentstehung im Rahmen psychosozialer Krisen. Eine Reihe weiterer Vulnerabilitätsmodelle sind in diesem Zusammenhang formuliert worden („negative affectivity“, „repression/sensitization“, „somatosensory amplification“ und andere). Gemeinsam ist allen diesen Modellen die Betonung eines Defizites der kognitiv-emotionalen Reifung aufgrund ungünstiger Beziehungserfahrungen, aus der letztlich eine „Störung“ der Beziehungsfähigkeit zu sich selbst, zu seinem Körper und zu anderen Menschen resultiert.14 Neuere verhaltensmedizinische Modelle gehen davon aus, dass traumatische frühkindliche Prägungen zu bleibenden neurohumoralen Veränderungen führen, wie z. B. einer anhaltenden Stressregulationsstörung durch eine verminderte Cortisol-Reagibilität, aus der eine auf Dauer schädliche Disinhibition immunologischer und inflammatorischer Prozesse resultiert.15

Auslösende psychosoziale Faktoren

Vor Beginn der Schmerzerkrankung finden sich häufig lebensverändernde Ereignisse (in erster Linie Verlusterfahrungen wie z. B. Trennungen, Beziehungskrisen, Verlust des soziokulturellen Umfeldes durch Migration), auch akute Traumatisierungen oder chronische Belastungen und Konflikte (am Arbeitsplatz und/oder in der Partnerschaft bzw. Familie). Psychodynamisch betrachtet, erfüllt der Schmerz hier nicht selten eine „psychoprothetische“ Funktion, d. h. er begrenzt und kompensiert eine narzistische Kränkung, die beispielsweise durch den Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes oder des sozialen Umfeldes entstanden ist. Auch die „Konfliktverdrängung ins Somatische“ im Sinne des klassischen Konversionsmechanismus wird für manche Betroffene diskutiert. Belastungssituationen und die damit einhergehende sympathische Aktivierung und Erhöhung der Muskelanspannung können zur Entstehung einer symptomspezifischen Reaktionsstereotypie führen, beispielsweise Muskelanspannung unter Stress.16 Eine längerfristige Aktivierung eines Körpersystems bei gleichzeitig fehlender Möglichkeit zur Regeneration bewirkt allmählich eine stressassoziierte Hyperreagibilität dieses Körpersystems. Neben Stresserfahrungen aufgrund kritischer Lebensereignisse oder alltäglicher Belastungen („daily hassles“) wird das wiederholte Erleben von Schmerzepisoden seinerseits zu einer Stressquelle. Stressbezogene Bewertungsprozesse spielen in der Folge eine zentrale Rolle bei der Schmerzverstärkung und Schmerzaufrechterhaltung.17 Umgekehrt kann auch die Nichtbeachtung körpereigener Stress-Signale (wie z. B. Muskelanspannung, Blutdruckanstieg) die Schmerzentwicklung begünstigen durch die Unterdrückung von Gegenregulationsmöglichkeiten (z. B. „Durchhalten“ statt Regenerationspausen im Sinne einer symptomspezifischen Reaktionsstereotypie18). Psychophysiologische Studien zeigen, dass die explizite Erwartung schmerzhafter Situationen den nachfolgenden nozizeptiven Input verstärken kann, umgekehrt kann die Erwartung einer Schmerzabnahme die Schmerzwahrnehmung reduzieren.19 Schmerzpatienten, die Aktivität mit Schmerz assoziieren, neigen folglich dazu, Aktivitäten zu vermeiden; die daraus resultierende körperliche Dekonditionierung führt zu einer erhöhten Schmerzanfälligkeit. Weiters können Vorstellungen, Gedanken und Erinnerungen an schmerzhafte Ereignisse zu peripheren physiologischen Stressreaktionen führen, wie beispielsweise Anstieg des Hautleitwertes oder der Muskelanspannung, die ihrerseits potentielle Auslöser für eine nozizeptive Aktivierung sind.20 Auch auf die Bedeutung Stress-assoziierter Schlafstörungen für die Schmerzentstehung und -chronifizierung soll hier hingewiesen werden.21

Aufrechterhaltende Faktoren

Am Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz finden sich als psychosoziale Faktoren die Verstärkung des Schmerzerlebens und Ausdrucksverhaltens im Rahmen von Lernprozessen, wie z. B. das Erlernen von Schonhaltungen durch Schmerzvermeidung, die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf dysfunktionale Körpervorgänge, die Verstärkung des Schmerzerlebens durch Bezugspersonen oder Gratifikationsangebote (sog. „sekundärer Krankheitsgewinn“ durch z. B. Schmerzensgeld oder Berufsunfähigkeitspension). Aus kognitiv-behavioraler Sicht besteht eine enge Wechselwirkung zwischen Schmerz und kognitiven, affektiven und behavioralen Faktoren. Zahlreiche empirische Untersuchungen unter Labor- und Feldbedingungen konnten belegen, dass der Krankheitsverlauf bei chronischen Schmerzen in entscheidendem Maße von Gefühlen der Hilflosigkeit und Bedrohung durch den Schmerz, von Selbstwirksamkeitserwartungen und subjektiven Schmerzbewältigungsfertigkeiten (z. B. kognitiven Coping-Mechanismen) beeinflusst wird.22 Je stärker die Neigung zu katastrophisierenden Bewertungen von körperlichen Beschwerden, umso ungünstiger ist die Krankheitsbewältigung. Einige prospektive Studien und Ergebnisse der Prädiktoren-Forschung konnten belegen, dass negative Kognitionen bereits die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von körperlichen Beschwerden begünstigen können und damit auch pathogenetische Bedeutung erlangen. Hierdurch gelang erstmals die empirische Formulierung von Diathese-Stressmodellen auf der Basis nicht nur somatischer, sondern auch psychosozialer Vulnerabilitätsannahmen.23

Konsequenzen für die Schmerztherapie

Geht man von einem mehrdimensionalen bio-psycho-sozialen Ätiologiemodell chronischer Schmerzen aus, so sind auch bei der Therapieplanung somatomedizinische, psychotherapeutische, ergotherapeutische sowie sport- und bewegungstherapeutische Interventionsansätze zu kombinieren. Insbesondere die organmedizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsverfahren sind beim chronischen Schmerz nicht als konkurrierende, sondern einander ergänzende – im besten Sinn des Wortes „psycho-somatische“ – Behandlungskonzepte aufzufassen. Eine Meta-Analyse von 65 Effektivitätsstudien solcher multimodaler Schmerztherapien zeigt eindeutig eine signifikante Überlegenheit gegenüber eindimensionalen Behandlungssettings: Nach einer multidimensionalen Schmerztherapie fanden sich klinische Verbesserungen von durchschnittlich 56 Prozent, gemittelt für unterschiedliche Erfolgskriterien, wie z. B. Reduktion der Schmerzstärke, des subjektiven Beeinträchtigungsgrades, Aktivitätsniveau, Medikamentenverbrauch, Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.24 Die Behandlungseffektive lagen hier im Durchschnitt etwa doppelt so hoch wie die Effekte eindimensionaler Behandlungen. In mehreren prospektiven Langzeitstudien ließ sich weiters zeigen, dass diese Behandlungseffekte bei sorgfältig durchgeführter Psychotherapie langfristig stabil sind. Dennoch erzielen chronische SchmerzpatientInnen in den meisten multimodal-psychosomatischen Therapieprogrammen deutlich schlechtere Behandlungserfolge. So weist die sog. MESTA-Studie, eine Meta-Analyse über 65 Interventionsstudien an rund 30.000 PatientInnen, für die Behandlung chronischer SchmerzpatientInnen eine Effektstärke von 0.49 aus, verglichen mit 0.84 für depressive Störungen oder 0.71 für Angststörungen.25

Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass in den meisten Schmerzbewältigungsprogrammen direkt symptombezogene Psychotherapie-Verfahren im Vordergrund stehen. Hauptanliegen dieser Interventionen ist die Förderung der Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit den Schmerzen und deren Folgen, sodass diese nicht passiv-leidend und hilflos ihren Schmerzen ausgeliefert sind, sondern aktiv und bewusst in das Schmerzgeschehen eingreifen können. Ansatzpunkte einer aktiven Schmerzbewältigung sind einerseits die Einflussnahme auf die (inneren und äußeren) Auslöser der Schmerzen, andererseits die Schmerzreduktion durch Anwendung verschiedener (erlernbarer) Techniken (Symptomlinderung). Ein weiterer Behandlungsschwerpunkt ist der Aufbau gesundheitsbezogener Maßnahmen (z. B. Reduktion des Analgetika-Konsums, gestufter Aktivitätsaufbau, psychosoziale Rehabilitation und Reintegration) mit dem Ziel einer Förderung von Lebensqualität trotz chronischer Schmerzen.

Gerade für jene SchmerzpatientInnen, die ein hohes Ausmaß an psychosozialer Beeinträchtigung und einen ausgeprägten Leidensdruck aufweisen, erscheint eine überwiegend bewältigungs-orientierte Schmerzpsychotherapie nicht ausreichend. Neben den direkt symptombezogenen Behandlungsmaßnahmen sollten hier symptomübergreifende (konfliktzentrierte, erlebnisorientierte, interaktionelle) Interventionsstrategien zum Einsatz gelangen. Diese sind indiziert, wenn die Schmerzsymptomatik in Zusammenhang steht mit tiefgreifenden Störungen der Affektregulation (z. B. im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen), traumatischen Erfahrungen (z. B. schwerwiegender Misshandlung oder Missbrauch), akuten lebensverändernden Ereignissen (häufig im Rahmen von Verlusterfahrungen, wie z. B. Trennung, Tod, Migration) oder einer Dekompensierung infolge chronischer Überlastungssituationen. Zielsetzung der symptomübergreifenden Schmerzpsychotherapie ist die Verbesserung der Affektregulation und Beziehungsfähigkeit zu sich, seinem Körper und zu anderen Menschen.26

Im Zuge der Diskussion um unterschiedliche konzeptionelle Zugänge zur Psychotherapie chronischer Schmerzen – bekannt als „Schulenstreit“ der Vertreter einzelner Therapierichtungen – wird immer wieder die Frage nach Differentialindikation und differentieller Therapie diskutiert. Hier ist kritisch anzumerken, dass beispielsweise die Frage: „Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie bei chronischem Schmerz“ allein schon durch die Komplexität von Schmerzsyndromen hinsichtlich ihrer Ätiologie und der an ihrer Aufrechterhaltung beteiligten Prozesse zur kaum lösbaren Aufgabenstellung wird, zumal direkte Vergleichsstudien unterschiedlicher psychotherapeutischer Maßnahmen zur Schmerzbehandlung bislang nur vereinzelt vorliegen. Eine Differentialindikation für einzelne Therapiemaßnahmen lässt sich daher beim gegenwärtigen Wissensstand nur spekulativ erstellen. Als Alternative bietet sich hier ein integrativer Ansatz an, bei dem Interventionen verschiedener Therapierichtungen zu einem schulenübergreifender Psychotherapie-Ansatz integriert werden. Mehrere Arbeiten in jüngster Zeit liefern Hinweise, dass sich die Psychotherapie chronischer Schmerzen in Richtung einer störungsspezifischen, schulenübergreifenden Behandlungsform hinentwickelt, die sich auf die Erkenntnisse der empirischen Grundlagen- und Anwendungsforschung unterschiedlichster Fachbereiche beruft.27

Referenzen

  1. Loeser J. D., Concepts of pain, in: Stanton-Hicks M., Boas R. (Hrsg.), Chronic low back pain, Raven Press, New York (1982), S. 145-148; Flor H., Psychobiologie des Schmerzes, Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto (1991); Fordyce W. E., What is Pain? in: Fordyce W. E. (Hrsg.), Back Pain in the Workplace. Management of Disability in Nonspecific Conditions. A Report of the Task Force on Pain in the Workplace of the IASP, IASP press, Seattle (1995), S. 11-17
  2. zit. bei Egle U. T., Hoffmann S. O. (Hrsg.), Der Schmerzkranke. Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie chronischer Schmerzsyndrome aus bio-psycho-sozialer Sicht, Schattauer, Stuttgart-New York(1993)
  3. Melzack R., Wall P. D., Pain mechanism: A new theory, Science (1965); 150: 971-978
  4. Egle U. T., Hoffmann S. O. (Hrsg.), siehe Ref. 2
  5. Engel G. L., The need for a new medical model: a challenge for biomedicine, Science (1977); 196: 129-136
  6. von Uexküll Th., Wesiak W., Wissenschaftstheorie und psychosomatische Medizin, ein bio-psycho-soziales Modell, in: von Uexküll Th. (Hrsg.), Psychosomatische Medizin, Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore (1990), S. 5-38
  7. Merskey H., Bogduk N. (Hrsg.), Classification of Chronic Pain: Descriptions of Chronic Pain Syndromes and Definitions of Pain Terms, 2. Auflage, IASP Press, Seattle (1994), S. 210, dt. Übersetzung der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes 1976
  8. Waddell G., Biopsychosocial analysis of low back pain, Baillières Clin. Rheumatol (1992); 6: 523-557
  9. ebd.
  10. Fordyce W. E., siehe Ref. 1
  11. Egle U. T., Hoffmann S. O. (Hrsg.), siehe Ref. 2; Fordyce W. E., siehe Ref. 1
  12. Waddell G., siehe Ref. 8; Egle U. T., Hoffmann S. O. (Hrsg.), siehe Ref. 2; Fordyce W. E., siehe Ref. 1
  13. Lane R. D., Schwartz G. D., Levels of emotional awareness: a cognitive-developmental theory and its application to psychopathology, Am J Psychiatry (1987); 144(2): 133-43
  14. Rudolf G., Henningsen P., Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik, 7. überarbeitete Auflage, Thieme, Stuttgart (2013)
  15. Ehlert U., Verhaltensmedizin, Springer, Berlin/Heidelberg/New York (2003)
  16. Flor H., siehe Ref. 1
  17. Flor H., Hermann C., Schmerz, in: Flor H., Birbaumer N., Hahlweg K. (Hrsg.), Grundlagen der Verhaltensmedizin. Enzyklopädie der Psychologie – Klinische Psychologie, Band 5, Hogrefe – Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle (1999), S. 249-330
  18. Basler H. D., Franz C., Kröner-Herwig B., Rehfisch H., Seemann H., Psychologische Schmerztherapie, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg/New York (1990)
  19. Flor H., siehe Ref. 1
  20. ebd.
  21. Aigner M., Graf A., Freidl M., Prause W., Weiss M., Kaup-Eder B., Saletu B., Bach M., Sleep disturbancies in somatoform pain disorder, Psychopathology Nov-Dec (2003); 36(6): 324-8
  22. Flor H., Hermann C., siehe Ref. 17
  23. zusammenfassende Darstellungen bei Basler H. D. et al., siehe Ref. 18; Flor H., siehe Ref. 1, Flor H., Hermann C., siehe Ref. 17
  24. Flor H., Fydrich T., Turk D. C., Efficacy of multidisciplinary pain treatment centers: a meta-analyic review, Pain (1992); 49: 221-230
  25. Steffanowski A., Löschmann C., Schmidt J., Wittmann W. W., Nübling R., Metaanalyse der Effekte stationärer psychosomatischer Rehabilitation (MESTA-Studie) – Abschlussbericht, EQS, Karlsruhe (2005)
  26. Bach M., Aigner M., Bankier B., Schmerzen ohne Ursache – Schmerzen ohne Ende. Konzepte – Diagnostik – Therapie, Facultas, Wien (2001)
  27. ebd.

Anschrift des Autors:

Prof. Priv. Doz. Dr. Michael Bach
APR – Ambulante Psychosoziale Rehabilitation Salzburg
Imbergstraße 31A, A-5020 Salzburg
michael.bach@promente-reha.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: