IMABE-Symposium: Mental Health und Arbeitswelt

Imago Hominis (2013); 20(4): 242-244
Susanne Kummer

Schlafstörungen, chronische Angstzustände, Depression, Erschöpfungszustände: Sind wir heute anders krank? Offenbar ja. Die Gesamtsumme der Krankenstände in Österreich sinkt zwar laufend, die Krankenstandstage aufgrund psychischer Störungen steigen jedoch an. Insgesamt hat sich in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Krankenstandstage wegen psychischer Erkrankungen beinahe verdreifacht. Jährlich entstehen dadurch messbare gesamtwirtschaftliche Kosten in der Höhe von 3,3 Milliarden Euro. Mit durchschnittlich 40 Fehltagen führen psychische Erkrankungen mit Abstand zu den längsten, krankheitsbedingten Fehlzeiten am Arbeitsplatz.

Die Balance zwischen Arbeitswelt und Freizeitstress, zwischen Leistung und Lebenssinn scheint aus dem Ruder gelaufen zu sein. Diese Entwicklung wirft zahlreiche Fragen auf: Worin liegen die Ursachen der allmählichen Verschlechterung der seelischen Gesundheit? Was können Betriebe präventiv für die seelische Gesundheit ihrer Mitarbeiter tun? Reagiert der Mensch mit Krankheit auf kranke Umstände in seinem Arbeitsumfeld? Oder sinkt seine Belastbarkeit? Welche Rolle spielt das private Umfeld? Welche Faktoren gehören zu einer „guten Arbeit“, in der Anerkennung, Sinn und Motivation zu finden sind?

Die von IMABE immer wieder initiierte Interdisziplinarität garantierte auch diesmal den Blick über den Tellerrand, verhinderte die eingeengte Spezialisten-Perspektive, förderte ungewohnte Blickwinkel und ermöglichte Fragestellungen, die in der heutigen Gesellschaft üblicherweise ausgeblendet werden. Schon in der Einleitung fiel zwangsläufig das Wort von der „Work-Life-Balance“, das von den Vortragenden einstimmig zurückgewiesen wurde. Man kann nicht von einem Leben neben der Arbeitszeit reden, so PV-Generaldirektor Winfried Pinggera in seinem Eingangsstatement zu der von IMABE gemeinsam mit der Pensionsversicherungsanstalt, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, der AUVA und der Österreichischen Ärztekammer veranstalteten Tagung.

Schafft sich die Medizin einen neuen Markt von Krankheiten?

Der Hamburger Mediziner und Sozialpsychiater Klaus Dörner nahm seine eigene Zunft kritisch unter die Lupe: „Ist das Psychische wirklich in der Medizin am besten aufgehoben?“ Während früher auch andere – etwa kulturelle, soziale, ökonomische oder religiöse – Gründe als Erklärung für ein zunächst nicht klar definierbares psychisches Unwohlsein gültig waren, habe inzwischen die Medizin das Monopol über die Definition, was seelisches Leiden ist, übernommen, so Dörner. Die Kehrseite: Seelisches Leiden werde dadurch pathologisiert und medikalisiert. „Wir beobachten, dass die Zahl der schweren psychischen Störungen gleich bleibt, während die Zahl der leichteren Befindlichkeitsstörungen sich offenbar beliebig vermehren lässt“, kritisierte der Sozialpsychiater.

Der epidemische Anstieg von psychischen Erkrankungen zur Volkskrankheit Nummer Eins verdanke sich dem Ideal der Beschleunigung und Leistungssteigerung, das seit der Industrialisierung vorherrscht. Außerdem verstünde sich die Medizin heute als vor allem naturwissenschaftliche Disziplin, die von Leid befreien soll – und dazu einen Markt von Medikamenten und Therapeuten hochrüstet. „Die Zahl der Depressionen hat sich vervierfacht, die Zahl der Therapeuten hat sich verachtfacht. Da ist ein Zusammenhang erkennbar.“

Dörner plädierte dagegen für ein Umdenken: Statt alle Probleme in medizinische Probleme umzuwandeln, sollte man im Sinne Viktor Frankls auf das Sinnstreben des Menschen und seine Leidensfähigkeit setzen – und ihn nicht nur auf seine Arbeits- und Genussfähigkeit zu reduzieren. Außerdem müsse der „Leistungsbeschleunigungszwang“ neutralisiert werden: Im Umbruch von der Industrie-Epoche zur Dienstleistungs-Epoche sieht der Sozialpsychiater eine historische Chance für eine Humanisierung der Arbeitswelt.

„Um als Unternehmen attraktiv zu sein, müssen wir ein Umfeld bieten, wo sich Mitarbeiter entwickeln können“, erklärte Joachim Burger, Geschäftsleiter Human Resource bei T-Mobile Austria. Das Angebot von Gleitzeit oder die Möglichkeit, auch einmal von Zuhause aus Arbeiten zu können, gäbe den Mitarbeitern einen Freiraum. De facto würde dieser selten genutzt, die „gefühlte Freiheit“ würde sich aber positiv auf das Arbeitsklima auswirken, so Burger. Dank des Gesundheitsmanagements konnte die Mitarbeiterzufriedenheit im Konzern auf 75 Prozent gesteigert werden, berichtet Burger. Er forderte mehr Unterstützung für gesundheitspräventive Maßnahmen – da würden die Unternehmen häufig „alleine gelassen“.

Prävention für seelische Gesundheit: Elternhaus, Schule und Social Skills

Psychiatrische Erkrankungen sind die Nummer eins bei den Zuerkennungen von Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspensionen. Chefarzt Rudolf Müller, Pensionsversicherungsanstalt, lieferte dazu Daten und Fakten aus Österreich. Wurden 1999 in Österreich 1,3 Millionen Krankenstandstage wegen psychischer Erkrankungen gezählt, waren es 2009 schon 2,4 Millionen und 2012 bereits 3,4 Millionen. In Österreich leidet jeder Fünfte einmal in seinem Leben an einer Depression. Bei den Frauen ist jede Vierte betroffen, bei den Männern jeder Achte. Jeder sechste Österreicher hat Angststörungen. Frauen sind stärker betroffen als Männer, und es trifft sie in jüngeren Jahren. Warum trifft es Frauen mehr als Männer? Eine Aufsplitterung in andere Faktoren – wie viele Mütter, kinderlose Frauen, doppelt belastet Frauen usw. – ist bislang nicht erfasst, wäre aber eine kritische Prüfung wert.

Dass Frauen doppelt so häufig wie Männer aufgrund von Depressionen in Behandlung sind, führt Christian Haring, Ärztlicher Leiter der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie B am LKH Hall in Tirol, auch auf die traditionellen Diagnose­kriterien zurück: „Frauen passen wohl auch besser in das vorhandene Profil als Männer.“ Ärzte haben es nicht mit isolierten Patienten zu tun, sondern mit Menschen, Familien und deren Umfeld. Haring machte deutlich, dass in der Auflösung der Strukturen von Arbeitswelt und Familie – etwa die Zunahme von Single-Haushalten – sowie in der Verschiebung von Werten ein Co-Faktor dafür liege, dass Menschen heute seelisch verwundbarer seien. Resilienz ist die Fähigkeit, in Krisensituationen zu bestehen oder sogar daran zu wachsen. Als Basis für protektive Faktoren mentaler Stärke nennt der Tiroler Psychiater Elternhaus, Schule und das frühe Einüben in Social Skills. „Wenn ich selbst nicht existent bin, sondern nur außen gesteuert, bin ich extrem anfällig“, betont Haring und unterstreicht die Bedeutung von „inneren Quellen“, die jeder Mensch zum Fließen bringen muss.

Arbeit hat einen Zweck und braucht Sinn

„Das innere Bedürfnis des Menschen nach Lebenssinn ist keinesfalls durch Effizienz und das Funktionieren in der Arbeit abgedeckt“, betonte die deutsche Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Vorständin des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion EUPHRat in Heiligenkreuz. Eine Phänomenologie der Arbeit im Zeitalter seelischer Erkrankungen zeigt: Arbeit hat einen Zweck und braucht Sinn. Wer ein Haus baut, will natürlich, dass es bald fertig wird und setzt die Mittel ein: rational, effektiv, zielbewusst. Der Zweck ist ein Ziel, das in einer zeitlichen Begrenzung, nämlich möglichst schnell, mit rationellen Mitteln erreicht werden soll. „Sinn dagegen hat kein Ziel in der Zeit, sondern ist ein Vorgang, der sich selbst trägt“, so die Philosophin. Das Hören einer Symphonie sei beispielsweise in sich sinnvoll, zweckfrei. Die Musik schneller spielen, nur um es „endlich hinter sich zu haben“, wäre Unsinn.

Wenn der Sinn der Arbeit nur auf eine Zweck-Nutzen-Relation reduziert wird oder sie nur gemacht wird, um es schneller hinter sich zu haben, erlauben keine Freude und Befriedigung am eigenen Tun. Genau das sei aber der tiefere Sinn von Arbeit im christlich-jüdischen Erbe: nicht nur Last, sondern Weltgestaltung, Hingabe und Selbstgestaltung, „im Tun die Freude am Tun selber“.

Grenzen der Sinnvermittlung

In der Podiumsdiskussion hielten sich Referenten nicht bedeckt, sondern lieferten einen spannenden Beitrag dafür, welche ungewohnten Blickwinkel und das Sprengen von Denkmustern ein interdisziplinärer Austausch bieten kann. So löste die Frage aus dem Publikum, ob es die Aufgabe der Führungskraft sei, für die Mitarbeiter Sinn zu stiften, bei Personalmanager Burger Kopfnicken, bei Philosophin Gerl-Falkovitz hingegen Kopfschütteln aus. Burger berichtete, wie große Unternehmen versuchen – und wohl auch gedrängt werden – zur Harmonisierung von Arbeit und Muße und damit zur Mental Health ihrer Mitarbeiter beizutragen. Das fängt bei sportlichen, kulturellen oder Bildungsprogrammen an und endet bei Dienstleistungsangeboten für alle Lebenslagen: vom Betriebskindergarten bis zum Schuheabholdienst, von der anonymen Hotline für Angehörige bis zur Vermittlung eines Scheidungsanwaltes. Gerl-Falkovitz warnt allerdings: Wie weit aber darf und soll der öffentliche Raum in den privaten eindringen? In der Diskussion wurde befürchtet, dass möglicherweise die Grenze zur Sinnvermittlung und Lebensbewältigung erreicht oder gar überschritten werde – zum Zwecke der Effizienzsteigerung. Wenn es bei der Sorge um Mental Health nicht um die Menschen an sich, sondern bloß um das Einsparen von Kosten durch Vermeidung von Krankenständen oder die Steigerung von Effizienz ginge, dann endet man in der „Verzweckung von Sinn“ durch ökonomische Vorgaben. Mental Health, so könnte man das Ergebnis der Tagung formulieren, ist nicht aus der Arbeitswelt herstellbar. Niemand kann Sinn stiften, Sinn kann nur entdeckt werden. Die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen – in Arbeit, Gesellschaft, aber auch in der persönlichen Lebensführung – ist die hohe Kunst.

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer, IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
skummer(at)imabe.org

Institut für Medizinische
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