Geordnete Sexualität. Über die Tugend der Keuschheit

Imago Hominis (2010); 17(4): 315-329
Katharina Westerhorstmann

Zusammenfassung

Wenn der verantwortungsbewusste Umgang mit Sexualität gesellschaftlich vor allem ex negativo diskutiert wird, wie z. B. in den Missbrauchsskandalen der vergangenen Monate, sind theologische und philosophische Ansätze gefragt, die zu einer Erneuerung des Umgangs mit Sexualität beitragen können. Eine Ordnung der Sexualität, die sich vernunftgemäßen und damit menschlichen Kriterien unterwirft, soll daher im Folgenden im Sinne einer Tugend der Keuschheit vorgestellt werden, die die leibliche Dimension ebenso betrifft wie die seelische. Die genannte Tugend wird dabei als eine zur festen Disposition gewordene, gute Gewohnheit erläutert, die zu einer gelungenen Integration der Sexualität in das gute Leben des Geschenkhaften bedarf.

Schlüsselwörter: Sexualethik, Sexualität, Tugendethik, Keuschheit, Moral

Abstract

If the responsible treatment of sexuality is discussed within society – particularly ex negativo, as was the case, for example, in the abuse scandals of recent months – theological and philosophical approaches are required that can contribute toward a renewal of how we deal with sexuality. An order of sexuality that complies with sensible – and, hence, humane criteria – is therefore presented in the following essay within the sense of a virtue of chastity that refers not only to the dimension of the body but also of the soul. The virtue mentioned is explained as a good habit that has become a set disposition that calls for the successful integration of sexuality into the good life to which something additional has to be given.

Keywords: Sexual Ethics, Sexuality, Virtue Ethics, Chastity, Moral


In einer Zeit, in der, wie in den vergangenen Monaten, der verantwortungsbewusste Umgang mit Sexualität gesellschaftlich vor allem ex negativo, nämlich am Beispiel von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen diskutiert wird, besingt der Frankfurter Jesuit und Neutestamentler Ansgar Wucherpfennig das „Lob der Keuschheit“.1 Das mag vor dem Hintergrund der massiven Vorwürfe gerade an die jesuitische Ordensgemeinschaft zunächst verwundern, der Tenor der Äußerungen Wucherpfennigs lässt jedoch bald aufhorchen. Neben persönlichen Bemerkungen verfolgt der kurze Beitrag das Ziel, den Blick auf eine längst beinahe in Vergessenheit geratene Tugend zu lenken, um einen Weg aus der aktuellen Misere zu zeigen: “Bezüglich der Keuschheit ist eine Bekehrung der gesamten Kirche notwendig.“2

Der Begriff der „Keuschheit“

Nun haben wir es in der Frage der Keuschheit mit gerade einem jener Themen zu tun, die eine Kluft zwischen kirchlicher Verkündigung und gesellschaftlichem Mainstream zuweilen besonders deutlich werden lassen. So wertet Konrad Hilpert die Auffassung von „Keuschheit und Askese als Tugenden“ sogar als „drückende Hypothek“ der Geschichte.3 Das ist wohl auch einer der Gründe, warum aktuelle deutschsprachige Publikationen zu diesem Thema überschaubar sind.4 In seinem Buch „Kleriker“ hatte Eugen Drewermann bereits 1989 das Ende der Keuschheit verkündet und gemeint: „Der Begriff der ‚Keuschheit’ [ist] unrettbar ins Lächerliche, Abartige und Perverse abgeglitten.“5 Konsequenterweise forderte er die Abschaffung des Begriffs der Keuschheit mit dem Hinweis, er solle, wo etwa „keusch“ gemeint sei, „übersetzt“ bzw. ersetzt werden durch „Redewendungen … wie: so sensibel, daß es die Seele ruft, so zärtlich wie der Hauch des Windes über dem Gras, so sanft wie der Flügel eines Schmetterlings“.6

Das klingt modern, indes muss nach kaum mehr als zwanzig Jahren angemerkt werden, dass die Lebenswirklichkeiten der Menschen, ihre Erwartungen an Kirche (und Theologie) in Bezug auf die Darstellung von moralischen und ethischen Positionen sowie ihr sexuelles Verhalten und Wünschen kaum noch zu diesem poetisch-klingenden Konzept der Reduzierung auf die reine Gefühlsebene zu passen scheinen.

Dies aber scheint für eine dem Menschen angemessene Ordnung der Sexualität im Sinne der Tugend der Keuschheit dürftig zu sein, da weder die personale und moralische Beziehung zur Person selbst (und nicht nur als einem vor allem sexuellen Wesen) noch die für die Sexualität elementare Frage nach einer angemessenen Beziehung zu einem Anderen reflektiert und thematisiert wird.

Treue und Verlässlichkeit stehen als tugendhafte Charaktereigenschaften auch bei jungen Menschen hoch im Kurs, wenn auch bisweilen nur als Ideal, das noch nicht die Kraft zur Umsetzung beinhaltet.7 Die Äußerungen von F. Nietzsche wirken daher beinahe roh und abstoßend. So formulierte er 1888: „Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ‚unrein’ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.“8 Nicht nur Nietzsche und Freud versuchten, mit freilich je unterschiedlichen Ansätzen, Ende des 19. Jahrhunderts die tatsächlich übertriebene Furcht vor allem Sexuellen und Triebhaften aufzubrechen, um die menschliche Natur zu ihrem Recht zu bringen. Dabei haben sie sowohl gegen die Keuschheit als sexuelle Enthaltsamkeit und asketische Tugend als auch gegen die Moral(lehre) der Christen als Ganze polemisiert, um den Menschen zu befreien. Ähnlich, wenn auch politischer motiviert, wollte sich auch die 68er-Bewegung des letzten Jahrhunderts von den Zwängen einer kirchlichen und gesellschaftlichen Moral vollständig befreien.

Dass die Keuschheit als sittliche Tugend einen besonderen Wert hat und zu den Dingen gehört, die ihrem Wesen nach „schön“ und gut sind, gehört daher nicht mehr zum Common sense. Vielleicht jedoch liegt das vor allem am Klang des Begriffs, der unmittelbar bestimmte Assoziationen hervorruft, die stark vom persönlichen Erleben und der öffentlichen Meinung geprägt wurden. So soll im weiteren Verlauf dieser Ausführungen gezeigt werden, dass der Begriff „Keuschheit“ Inhalte transportiert, die gerade in unserer Zeit z. B. als zentral für eine Partnerschaft verstanden werden: Die hohe Qualität der Beziehung, (gegenseitige) Hingabe bei Wahrung der eigenen Identität, Treue sowie die Achtung vor dem Anderen und seiner Würde. Den Anderen eben nicht lediglich als Objekt der eigenen Lustbefriedigung zu betrachten, sondern als Person, die selbst das Ziel der Liebe, Zuneigung und Bejahung ist.9 Die heutigen Schwierigkeiten mit dem Begriff der „Keuschheit“ liegen zumeist in der Tradition der christlichen Morallehre begründet, die in kasuistischer Verengung im Bereich der Sexualität, mithin in der Unkeuschheit die schlimmste Sünde erkannte, und so die sexuellen Triebe als den eigentlichen Kampfplatz des Lebens erachtete.

Daraus ließe sich nun schließen, dass wegen der belasteten Begriffsgeschichte, der Begriff nicht nur überflüssig, sondern inzwischen sogar störend sei in dem Versuch, die personale Dimension der Geschlechtlichkeit in anthropologisch-sittlicher und auch in theologischer Hinsicht zu entfalten. Hans Rotter meint dementsprechend: „Der Begriff ‚Keuschheit’, der ursprünglich etwa Bewusstheit oder Verantwortungsbewusstsein besagt, heute aber oft nur noch sexuelle Enthaltung meint, ist für die positiven Werte geschlechtlich reifen Verhaltens viel zu eng.“10

Es muss jedoch gefragt werden, ob das, was ursprünglich mit dem Begriff Keuschheit gemeint war, derzeit so allfällig gesellschaftlich präsent ist, dass es lediglich eines neuen Begriffs bedürfe, da der alte in der gegenwärtigen Situation nicht mehr passend erscheint. Dann könnte tatsächlich ein neuer Begriff hilfreich sein, um dieselbe Wirklichkeit auf modernere Weise auszudrücken. Dies kann jedoch wiederum nur in dem Fall gelingen, wenn das Faktum gelebter Keuschheit sozusagen vor aller Augen liegt und eine unproblematische Neubezeichnung zu erwarten wäre. Schließlich bringt eine solche Umbenennung die Gefahr mit sich, dass mit der weiteren Eliminierung des Begriffs der „Keuschheit“ aus den theologischen, auch philosophischen Schriften sich zugleich die damit ausgedrückte Tugend und Lebensweise mithin vollständig aus dem Blickfeld, auch der Christen, verlieren könnte. Denn bislang ist kein anderer Begriff in Sicht, der den Bedeutungsrahmen von Keuschheit und Klarheit, sexuelle Ordnung und Reinheit umfasst. Zudem ist es unsicher, ob sich ein neues Wort überhaupt durchsetzen würde, da die Erfahrung zeigt, dass neue Begriffe vor allem dann in den gesprochenen Wortschatz übernommen werden, wenn der Bedeutungsinhalt einen Anhalt an der alltäglichen Erfahrung hat. Dass das nun bei der Keuschheit derzeit gerade weniger der Fall ist, braucht nicht eigens erwähnt zu werden.

Als alternative Lösung böte sich beispielsweise eine Erneuerung des Verständnisses der Keuschheit an, wie es nach Dietmar Mieth auch „Kants Lehre über den Gebrauch von Begriffen entspricht“.11 Mieth wählt dafür den „Kern scholastischer und moraltheologischer Weisheit“ aus: „die menschliche Geschlechtlichkeit ‚gemäß der Vernunft’, d. h. gemäß der in der Erfahrung erkennbaren Ordnung der Wirklichkeit zu leben. Bejahung der Trieb-
struktur, Verfeinerung personaler Qualitäten und das hohe Lied der Liebe … sind Strukturen der Rettung im Leitbild der Keuschheit“.12 Wenn jedoch Mieth anschließend die Treue ausdrücklich nicht mit der Keuschheit verbunden wissen möchte, sondern sie ausschließlich als selbstverständlichen Bestandteil der Liebe darstellt, greift der Ansatz zu kurz. Denn, dass Keuschheit für die Treue einen stärkenden und flankierenden Wert haben kann, scheint nur schwer widerlegbar.

Heute wird der Begriff der Keuschheit, so er überhaupt gebraucht wird, zumeist vor dem Hintergrund einer der beiden folgenden Ansätze eingebracht: Entweder wird die vielfach nicht mehr verstandene, kirchlich formulierte Forderung nach Keuschheit gleichgesetzt mit einem überkommenen, nicht mehr zeitgemäßen Moral-System, einem unerlaubten Eingriff in die Intimsphäre und den Gewissensbereich des einzelnen (Christen), die darum abzulehnen sei, oder aber „Keuschheit“ wird zum Kampfbegriff gegen den Verfall moralischer Werte und unsere versexualisierte Wirklichkeit. Keuschheit wird deshalb mancherorts wieder zum einzig ausschlaggebenden Prädikat und Prüfstein überzeugten Christseins.

Beide Wege sollen hier nicht eingeschlagen werden. Vielmehr soll im Folgenden nun eine Darstellung dessen erfolgen, was man zunächst unter „Keuschheit“ versteht, wie es um die Rezeption und das „Verfallsdatum“ des Begriffs an sich steht, ob die Werte, die dem Sinngehalt von „Keuschheit“ entsprechen, bereits zum christlichen Menschenbild gehören und welche Position eine moraltheologische bzw. sexualethische Reflexion einnehmen kann. Man könnte die folgenden Überlegungen mit dem Versuch einer „Rehabilitierung der Keuschheit“13 vergleichen, indem die personale Dimension der Geschlechtlichkeit hervorgehoben und auf das Ganze der Existenz bezogen werden soll. Ein solcher Ansatz könnte möglicherweise eine breitere Zustimmung erwarten lassen, da Keuschheit als Lebensweise auch in anderen religiösen und kulturellen Kontexten eine Rolle in der Ordnung des geschlechtlichen Lebens spielt.14

Geordnete Sexualität als Tugend der Keuschheit

Aus der Moralphilosophie nicht explizit christlicher Provenienz gibt es inzwischen dazu Vorschläge, die Notwendigkeit einer Tugend der Keuschheit zu überdenken. Dafür plädiert beispielsweise die britische Moralphilosophin Philippa Foot, die sich selbst als „a card-carrying atheist“15 bezeichnet. Foot stellt die Keuschheit in den Rahmen des natürlichen Guten und der Tugend: Es „könnte … für uns gut sein, vorurteilslos zu fragen, ob es nicht eine Tugend der Keuschheit gibt. (Eine solche Tugend würde natürlich, wie gesagt, in verschiedenen Kulturen und Zeiten unterschiedliche Form annehmen.) Ich denke, daß sogar heute, in der westlichen Welt, Bedarf an einer solchen Tugend vorhanden ist.“16 Vor allem sexuelle Treue sieht Foot von der Keuschheit her gefordert, da diese sowohl für das Gelingen tieferer personaler Beziehungen notwendig sei und der Sorge für die Kinder den wesentlichen Rahmen biete.17 Man müsse jedoch nach den Grundlagen und Beweggründen für die Tugend der Keuschheit fragen.18

Zugleich ist es offenbar unerlässlich, eine unserer Zeit angemessene Ausdrucksweise der Keuschheit zu entwickeln, die den Erfordernissen und dem Kontext einer Zeit entsprechen, wie auch Foot hervorhebt. „Es wäre beispielsweise erhellend zu fragen, in welcher Weise sich die Tugend der Keuschheit im Kontext der gegenwärtigen westlichen Sitten und Gebräuche ausdrücken kann.“19

Keuschheit kann dabei nicht als eine einzelne Tugend verstanden werden, die das Ideal des menschlichen Lebens darstellt, sondern als ein Teil einer Sexualethik, die zum Gelingen des menschlichen Lebens beiträgt. Die Auffassung vom Menschen, der mit Hilfe seiner Vernunft die grundlegenden sittlichen Wahrheiten, die zu seinem Menschsein als solchem gehören, erkennen kann, ist dabei vorausgesetzt. Peter Geach, Freund von Philippa Foot und ebenfalls Moralphilosoph britischer Herkunft, meint deshalb, dass die entschiedene Wertschätzung der Keuschheit sogleich unmittelbar die Erkenntnis und Anforderung enthalte, dass der Mensch der Umsetzung dieser Tugend ins eigene Leben bedürfe: „If you opt for virtue, you opt for being the sort of man who needs to act virtuously ... And if you opt for chastity, then you opt to become the sort of person who needs to be chaste”.20

Bei Albert Camus findet sich die möglicherweise biographisch beeinflusste Äußerung: „Zügellose Sexualität führt zu einer Philosophie der Sinnlosigkeit der Welt. Die Keuschheit hingegen verleiht ihr (der Welt) einen Sinn.“21 Hierin spiegelt sich die Auffassung, dass Sinn (und möglicherweise die damit verbundene Erfüllung) sich letztlich nicht dem Zugreifenden und Konsumierenden erschließt, sondern dem, der warten und seine Ansprüche um eines Größeren willen auch zurücknehmen kann.

Üblicherweise wird die Keuschheit der Kardinaltugend der Mäßigung, die auch „Zucht“ genannt wird, zugeordnet.22 Damit ist die Selbstbeherrschung in Bezug auf die Sexualität, taktvolle Zurückhaltung sowie das Anerkennen des legitimen Rahmens für sexuelle Handlungen gemeint. Es geht um die Einschränkung oder auch Zügelung der natürlichen Triebe, damit sie, statt zerstörerisch zu wirken, zur Entfaltung eines guten Lebens beitragen. Wie jede andere Tugend soll die Keuschheit das Handeln des Menschen und damit ihn selbst in seiner ganzen Person und Wirklichkeit durch die rechte Vernunft auf das Gute hin ausrichten.23 Nach Klaus Demmer liegt es bereits „im Wesen des Menschen“ begründet, dass „an der Ordnung geschlechtlichen Verhaltens … kein Weg vorbei“ führt.24 Daher ist eine  ordnende Kraft notwendig, die der Sexualität den rechten Weg zwischen den Extremen der Leib- und Triebverneinung einerseits und der egoistischen Verwirklichung von Lustinteressen  andererseits weisen soll.25

Die in der Keuschheit erlangte innere Ordnung der sexuellen und gefühlsmäßigen Dimension des eigenen Lebens ist ein unmittelbarer Wert, der nach Bernhard Fraling indes noch ein letztes Ziel hat: „dass jemand seine eigene geschlechtliche Bestimmung, … so in seinen personalen Lebensvollzug integriert, dass sie der Realisierung menschlicher Liebe dient.“26 Die Keuschheit ermöglicht nach Fraling erst echte Liebe und Liebeshingabe. So wird Keuschheit: „… die Tugend, durch die der Mensch seine sexuellen Kräfte nach Gottes Plan ordnet.“27

Die Betonung der Keuschheit als Tugend, die der Entfaltung bedarf, die sich somit auch dynamisch und prozesshaft entwickelt, eröffnet die Möglichkeit, auch nach einem erlebten Scheitern eine Neuorientierung bzw. einen Neubeginn ins Auge zu fassen und das Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren. So stellt der Wüstenvater Cassian den enthaltsam Lebenden mit demjenigen auf die gleiche Stufe, der nach einer Zeit ungeordneter sexueller Praxis zu einem geordneten, keuschen Leben zurückfindet.28 C. S. Lewis meint sogar, dass es gerade dieser „stete Neubeginn“ im Charakter der Keuschheit sei, der den Menschen vor dem Irrtum bewahre, dass er sich bereits unwiderruflich im Besitz dieser Tugend befinde, was schlichtweg unmöglich sei.29

Die Tugend allein, verstanden als menschliche Tüchtigkeit in der Verwirklichung des sittlich Guten, kann jene Leib und Seele gleichermaßen umfassende Keuschheit jedoch noch nicht vollständig beschreiben. Das hat einen Grund, der im Menschen selbst liegt. Nietzsche hat das richtig gesehen und mit poetischer Klarheit ausgedrückt: „Doch alle Lust will Ewigkeit -, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“30

Das Geschenkhafte an der Keuschheit

Auch die erfüllteste menschliche, auch sexuelle Beziehung kann die Beständigkeit des augenblicklichen Glücks nicht schenken. Daher ist die Selbstzügelung des eigenen Drangs nach Lust und sexueller Betätigung nicht nur in moralischer Hinsicht geboten, sondern mithin die angemessene Antwort des Menschen auf den unendlichen Wunsch nach Ganzheit und Glück, der in dieser Welt nicht erfüllt werden kann. Für den Menschen gilt grundsätzlich, dass ein maßvoller Umgang mit den Genüssen dieser Welt die Vergänglichkeit des Irdischen in Erinnerung ruft und somit korrigierend auf ein maßloses Streben nach Lust wirkt. Augustinus preist dementsprechend den allein als keusch, der sein letztes Streben auf Gott hinlenkt und sich letztlich an ihn hält.31

Dann ist es die Liebe Gottes, die ihrerseits die Keuschheit im Gesamtzusammenhang menschlicher Wirklichkeit, die die Gottesbeziehung umfasst, ausrichtet und formt. Denn selbst die Wüstenväter, darunter vor allem auch Cassian, der selbst viel vom Kampf um Reinheit und Keuschheit hielt, wussten darum, dass der Mensch sich nicht nur nicht selbst das Glück schenken kann, sondern dass auch das menschliche Können im Bereich der Keuschheit und Reinheit begrenzt ist. Gewisse Höhen sittlichen Lebens können sicherlich erreicht werden durch Mühe, Anstrengung und der vernunftgemäßen Ausrichtung auf das jeweils rechte Maß, das zugleich zum Kennzeichen des geistlichen Lebens wird. Guter Wille und Askese allein jedoch sind noch keine hinreichenden Voraussetzungen für eine Keuschheit. Zu einer wirklichen sexuellen Integrität bedarf es des göttlichen Beistandes, denn es ist ein „Gnadengeschenk“, das nicht nur die Motivation zu einer die Keuschheit beinhaltende Lebensweise bereithält, sondern das menschliche Bemühen ergänzt und letztlich zum Ziel der Liebe und Keuschheit führen kann.32

Das christliche Gebot der Keuschheit (enkrateia) wird neutestamentlich zunächst im Zusammenhang mit Gerechtigkeit und Gericht genannt (vgl. Apg 24, 25) und zudem als Gabe formuliert (Vgl. Gal 5, 23), als Frucht des Heiligen Geistes, die mit Beherrschtheit oder Enthaltsamkeit zu übersetzen ist. Der Begriff selbst ist im Neuen Testament lediglich an drei Stellen gebraucht. So ist die Keuschheit oder Enthaltsamkeit offensichtlich weder die erste, noch die wichtigste der in dem Zusammenhang (Gal 5, 22 f.) genannten guten Eigenschaften, die in den Bereich personaler Tugend und Vollkommenheit hineingehören. Da die Liebe in 1 Kor 13 als „forma virtutum … geschildert wird, die jegliches andere Gut erst wirklich gut macht“33, besteht offenbar auch ein inwendiger Zusammenhang zwischen der Liebe und der Keuschheit. Eine Verbindung der Auffassung von Keuschheit als Tugend und als Frucht göttlicher Gnade kann uns damit eine erste Antwort geben.34

Hier wird zugleich deutlich, dass es sich um eine Haltung oder Beschaffenheit eines Menschen handelt, die sowohl seine leibliche als auch seine geistige Wirklichkeit betrifft. Leib und Seele spielen, wie in der gesamten Wirklichkeit des Menschen, unmittelbar ineinander und eine vereinseitigte Befassung mit einer der beiden Dimensionen hätte eine deutlich verkürzte Sicht der Keuschheit zur Folge. Klassischerweise wurde aus diesem Grund unterschieden zwischen körperlicher bzw. leiblicher und geistiger bzw. seelischer Keuschheit.35

Leibliche Keuschheit und Enthaltsamkeit

Zumeist klingt im Begriff der Keuschheit sogleich ausschließlich Verzicht und letztlich vor allem vollständige sexuelle Enthaltsamkeit mit. Auch im Rahmen von Askese wird sie genannt, wobei diese dann jedoch zumeist nicht in ihrem ursprünglichen Sinn als Einübung, die mit der griechischen Tugend (arete) vergleichbar wäre, verstanden wird, sondern vor allem im Sinn des zu Unterlassenden. Lange Zeit herrschte dieses Missverständnis vor, das zudem beinhaltete, dass Keuschheit zugleich völlige Enthaltsamkeit meine, ja letztlich identisch sei mit Jungfräulichkeit.36 Die „eheliche Keuschheit“ gab daher zuweilen Anlass zu Missdeutungen, beispielsweise die so genannte „Josefsehe“ als Inbegriff einer vollkommenen, keuschen Ehe zu verstehen. Dass „Keuschheit“ nicht mit völliger Enthaltsamkeit gleichzusetzen ist, und es möglicherweise dennoch einen Zusammenhang gibt, muss genauer erläutert werden. Wie die Keuschheit angemessen gelebt wird, hängt ganz entscheidend von der Lebenssituation des Einzelnen ab. Die unterschiedlichen Lebensweisen erfordern eine je spezifische gelebte Keuschheit, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.

Geistige Keuschheit

Dass sich die Keuschheit eines Menschen nicht allein auf die körperliche Integrität eines Menschen bezieht, sondern ausdrücklich eine „innere“ Seite besitzt, scheint heute nicht selbstverständlich. In der christlichen Antike, vor allem in der Zeit der Mönchsväter, an der Schwelle zum Mittelalter, gehörte „Der Kampf um die Keuschheit“37 zum geistlichen Kampf, den die Mönche in ihrem Alltag zu bestehen hatten. Dabei ließen sich nach dem bereits erwähnten Cassian verschiedene Stufen der Keuschheit erreichen, die mit einer immer größeren Freiheit von der sexuellen Neigung der Natur und des menschlichen Körpers einherging. Die sich körperlich manifestierende Keuschheit, also der Verzicht auf sexuelle Betätigung im umfassenden Sinn, ob nun z. B. mit Frauen oder in der einsamen Selbstbefriedigung, entspricht dabei noch einer niedrigen Stufe, die nach Auffassung Cassians noch verhältnismäßig leicht zu erreichen ist. Die höheren Stufen gehen mit einer inneren Befriedung des Geistes einher, der nicht mehr durch sexuelle Begierde aus der Bahn geworfen oder auch nur beeinflusst wird.38

Vielen ist heute eine solche Denkweise fremd geworden, so dass sich fragen lässt, wie eine geistige Keuschheit in der heutigen Zeit aussehen kann. Durch die starke Präsenz sexueller Inhalte und Bilder in den Massenmedien, die kaum noch Grenzen der Intimität und auch des guten Geschmacks respektieren, ist sicher der Einzelne in seinem Rezeptions- und Konsumverhalten stärker herausgefordert, als es noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war, als z. B. pornographische Bilder beinahe ausschließlich demjenigen begegneten, der sich willentlich und bewusst darum bemühte oder sich zumindest darauf einließ. Inzwischen jedoch wird in beinahe jedem Kinderzimmer der Geschlechtsakt zum Normalfall dessen, was Fernsehen zeigen darf. Vielleicht ist es gerade deshalb notwendig, in diesem Bereich sensibler zu werden, um den vor allem medialen Reizen zur sexuellen Begierde nicht widerstandslos ausgeliefert zu sein.

Die geistlichen Väter der Mönche haben für solche Fälle zur Enthaltsamkeit der Augen geraten, die diejenigen Dinge, Bilder und Orte meiden ließ, die die Begierde wecken konnten. Würde man sich heute diesen Rat zueigen machen, wäre das Kino ebenso Tabu wie Plakatwände, bereits Vorabendfernsehen, Werbung und auch das Internet. Was kann der Ausweg sein für Menschen, die in dieser Welt leben und sich doch diese Art der inneren Unversehrtheit bewahren möchten? Dazu bedarf es sicher zunächst der Entscheidung, das mit den Augen Wahrgenommene an der Ordnung der Sexualität zu messen und gegebenenfalls auf den Konsum anders ausgerichteter Medien zu verzichten. Zudem gilt es, Wege zu einer neuen Sensibilisierung für die andere Person, die in der partnerschaftlich gelebten Sexualität, zu eröffnen.

Durch die Trennung von Liebe und Sexualität, wie es in den Jahren nach der sogenannten „sexuellen Revolution“ gefordert und praktiziert wurde, geriet auch das personale Gegenüber der geschlechtlichen Lust häufig aus dem Blick, und der bloße Körper wurde vielfach zum Objekt der Begierde.39 Dass so Sexualität und Liebe voneinander getrennt erschienen, war wohl eine sich besonders verheerend auswirkende Errungenschaft jener Zeit.40 Die Sichtweise, die den anderen Menschen als Person sieht und achtet, der als er selbst letztlich Ziel der liebenden Sehnsucht ist, bahnt einen Weg zu einer keuschen Lebensweise, die zugleich aus dem Egoismus einseitiger Suche nach Befriedigung der eigenen Wünsche zu befreien vermag.

Im Hinblick auf ein Training in Bezug auf den Umgang mit visuellen Reizen vor dem Hintergrund, eine geistige Keuschheit anzustreben, ist noch die Beobachtung von Josef Pieper zu nennen, der die besondere Bedeutung der geistigen Keuschheit hervorhebt, die als erwartende und empfangende Grunddisposition des Menschen zur Erkenntnis in Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit befähigt: „Die Tugend der Keuschheit macht den Menschen mehr als alles andere fähig zur Beschauung.“41

Keuschheit in den verschiedenen Lebensformen42

1. Vor- bzw. außereheliche Keuschheit

Dieser Bereich ist derjenige, der zumeist unmittelbar mit dem Geltungsbereich einer Keuschheitsnorm identifiziert wird. Zumeist wird darunter der Verzicht auf sexuelle Handlungen außerhalb des legitimen ehelichen Rahmens verstanden. Dass es sich dabei um eine unvollständige Sichtweise handelt, ist bereits deutlich geworden. Wie aber steht es nun um die Keuschheit als Lebensform von (Noch-)Nichtverheirateten? Traditionellerweise gebrauchte man im Christentum dafür den Begriff der „Jungfräulichkeit“. Mit der Zeit jedoch hat sich gesellschaftlich eine semantische Verschiebung des Begriffsinhaltes insofern vollzogen, dass nunmehr Jungfräulichkeit ausschließlich als quasi biologische, sexuelle Unversehrtheit verstanden wird, die zugleich einen negativen Inhalt konnotiert, weil dieses Noch-Nicht einer sexuellen Betätigung ab dem frühen Jugendlichenalter kaum noch als notwendig oder angemessen angesehen wird. So wird die in der Vergangenheit hochgepriesene „Jungfrau“ zur unbequemen Anfrage an die eigene sexuelle Praxis und als exemplarisches Gegenmodell zur aufgeklärten Gesellschaft. Der entsprechende Begriff für den jungen Mann hat sich indes nie gebildet, da mit dem „Junggesellen“ lediglich der unverheiratete Mann bezeichnet wird. Zuweilen wird deshalb kurioserweise vereinfachend beim Mann ebenfalls von „Jungfrau“ gesprochen, wenn die sexuelle Nicht-Betätigung ausgesagt werden soll.

Gleichzeitig zum gesellschaftlichen Mainstream, der sexuelle Kontakte ab dem Jugendalter weitgehend als normal und durchaus angemessen, ja sogar in gewisser Hinsicht notwendig empfindet, findet sich vermehrt die Auffassung, dass hinsichtlich der Brüchigkeit moderner Beziehungen (vgl. z. B. die hohen Scheidungsraten) gängige Auffassungen über Persönlichkeitsbildung und Sexualität überprüft werden müssten. Die Tugend der Keuschheit würde Beziehungen erfordern und auch fördern, deren Qualität sich nicht anhand von sexuellen Kriterien ablesen lässt, sondern das Augenmerk auf die Freundschaft und Vertrautheit der Partner legen würde.43

Die Diskussion der letzten Jahrzehnte um die menschliche Sexualität und deren Ausdrucksweisen hat sicher eine stärkere Sensibilisierung für die innere Seite und damit die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Keuschheit hervorgebracht, denn bloße Jungfräulichkeit ohne Keuschheit ist unglaubwürdig, und ihr fehlt die Ausstrahlung. Die einseitige Beachtung rein äußerlicher Keuschheitsideale, die z. B. im 19. Jahrhundert noch das Entblößen der Füße als „unkeusch“ empfand, hat dazu beigetragen, dass der Keuschheitsbegriff in Verruf kam. Unter dem Deckmantel einer bürgerlichen „Moral“, die vielfach eher einer Doppelmoral entsprach, war (dem Mann) alles erlaubt, frei nach dem Motto: „Wenn schon nicht keusch, dann wenigstens heimlich“.44 Wollte man jedoch aus diesem Grund nun die Forderung nach vorehelicher Enthaltsamkeit aus dem Grundsystem der christlichen Auffassung von Mensch- bzw. Christsein und Sexualität heraustrennen, so bliebe lediglich ein verschwommenes Bild verantwortlich gelebter und geordneter Sexualität übrig. Auf der anderen Seite hilft eine Verurteilung jener, die der vor allem von Seiten der Kirche formulierten Weisung in diesem Punkt nicht folgen oder zudem meinen, ihr nicht folgen zu können, hier kaum weiter. Demgegenüber erscheint es geboten, die wichtigen Potentiale für die Persönlichkeitsentwicklung bezüglich einer reifen Sexualität, Personalisierung der Liebe und die Ermutigung zu einer keuschen Daseinsweise aufzuzeigen, in der die Ausbildung der sittlichen Kräfte und das Vertrauen auf die göttliche Liebe, aus der ja alle menschliche Liebe ihre Form erhält, die Richtung weisen.

2. Keuschheit und die evangelischen Räte

Die Überschrift lässt noch offen, ob Keuschheit zu den „evangelischen Räten“ hinzugehört, die einen wesentlichen Teil des Ordensgelübdes darstellen, oder ob sie nur in einer irgendwie gearteten Verbindung zu ihnen steht. Für Rupert Scheule macht gerade diese Ungenauigkeit den Schwachpunkt des Keuschheitsbegriffs aus, da der Unterschied zwischen einer gelebten Sexualität in der Ehe und dem Verzicht darauf in einem ehelosen Leben doch erheblich sei.45 Die Keuschheit, wenn sie zu den evangelischen Räten gezählt wird, bezeichnet zum einen den Verzicht auf die Ehe. Ein eheloses Leben im Sinne der evangelischen Räte, soll Ausdruck der „ungeteilten Liebe“ sein, die der einzelne nicht nur innerlich leben, sondern auch äußerlich in seiner Lebensweise bezeugen möchte. So geht es in der Keuschheit als Ehelosigkeit um mehr als nur um das „Nein“ gegenüber aller sexuellen Betätigung, vielmehr soll das positive „Ja“ zu Gott, den Menschen und der Schöpfung die innere Form des Keuschheitsversprechens ausmachen. Wäre es nur eine gänzliche Absage an die sexuelle Natur des Menschen, wäre sie nur schwer mit Leben und einer eigenen Art von Fruchtbarkeit im geistlichen Sinn zu füllen.

Gleichzeitig stirbt die Sexualität in einem bewusst ehelos Lebenden nicht ab, sondern soll umgewandelt werden in eine Dynamik der Liebe, die weiterhin Gott und den anderen Menschen sucht, ohne jedoch eine sexuelle Befriedigung einzuschließen. Für den Menschen als leiblich verfasstes Wesen ergibt sich die Herausforderung, mit der eigenen Sexualität auf andere als die körperliche Weise der sexuellen Betätigung umzugehen. So kann die alltägliche Arbeit, die Beziehungen zu anderen Menschen und der Dienst an einer Sache Ausdruck dieser zutiefst bejahenden Lebenskraft werden. Dass der Übergang nicht so einfach ist, wie hier in wenigen Zeilen dargestellt, sondern eine umfassende Persönlichkeitsbildung und spirituelle Reife verlangt, muss nicht eigens erläutert werden. Aus diesem Grund ist auch von einer Dynamik in dem Prozess der Verwirklichung der „Evangelischen Räte“ zu sprechen. Je nachdem, ob man den Zölibat des Priesters nun an dieser Stelle hinzunimmt oder als eigene Form der Ehelosigkeit behandelt, gilt für den zölibatären Geistlichen sicher die gleiche Notwendigkeit, die Ehelosigkeit und Keuschheit positiv zu gestalten.

Auf der anderen Seite bedeutet Keuschheit im Gesamtkonzept eines Lebens nach den evangelischen Räten sicherlich mehr als den bloßen Verzicht auf die Ehe und sexuelle Gemeinschaft. Wie auch in der Ehe bedarf es zugleich einer Bemühung um geistige „Reinheit“ und innere Ordnung der Sexualität. Denn „zur vollen Reinheit“ reicht, „die körperliche Keuschheit nicht aus… Die Integrität des Inneren gehört notwendig dazu.“46 Das „reine Herz“ des Matthäusevangeliums setzt uns auf die Spur, dass es dabei nicht um verklemmte „Prüderie“ geht47, sondern um die innere Entschiedenheit und letztlich wohl auch um die Gnade der inneren Bewahrung der Liebe und Zuneigung, die letztlich ein einziges Ziel haben, nämlich Gott selbst. Von der Ausrichtung auf ihn her können auch alle anderen Beziehungen ihren angemessenen Ausdruck finden. Denn es geht nicht um Jungfräulichkeit oder enthaltsame Abstinenz als Selbstzweck.48 Die größere Liebe ist das Ziel und sie bedarf ihrerseits – um sich bestmöglich entfalten zu können – der Keuschheit.49

3. Sexualität in der Ehe im Sinne der Keuschheit

Eheliche Keuschheit ist wohl der Bereich, der die Untersuchung zur Tugend der Keuschheit noch einmal besonders interessant werden lässt. Wie William P. Roberts treffend darstellt, ist es uns ein wenig unvertraut, mit der Frage nach der Keuschheit in der Ehe umzugehen: „We always hear of members of religious communities taking a vow of chastity, but rarely has there been word of the vow of chastity solemnly and publicly made in marriage. But both are vows of chastity.”50 So ließe sich die Keuschheit als der Ehe angemessen verstehen, wenngleich – das liegt ja in der Natur der Sache - in anderer Weise als in einem sexuell enthaltsamen Leben, da sie die Möglichkeit der Weitergabe des Lebens beinhalten soll.

Wenn das Leben als „Gabe“51 verstanden wird, die der Mensch empfangen und zur Entfaltung anvertraut bekommen hat, liegt darin zugleich die Option, die erhaltene Gabe auch weiterzugeben. Das Kind wird dann zum sichtbaren Ausdruck der Liebe von Mann und Frau, der liebenden, fruchtbar gewordenen Begegnung von Ich und Du.52 Eine keusch gelebte Sexualität in der Ehe beinhaltet ein vertrauensvolles gegenseitiges Hingeben und Empfangen, denn auch für die Ehe gilt: „Solange in der Liebe nur Befriedigung eines Triebes gesucht wird, ist die Enttäuschung garantiert.“53 Daher bietet die grundsätzliche Offenheit für die Weitergabe des Lebens die Perspektive, im sexuellen Akt einander nicht nur Bestätigung und die Bezeugung der Liebe zu schenken und sie voneinander zu empfangen, sondern auch gemeinsam zu Schenkenden zu werden. Obgleich die biologische Fruchtbarkeit zwar letztlich nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen steht, so kann er doch in der geschlechtlichen Begegnung mit einem Du „eintauchen in den Strom des Lebens und der Weitergabe des Lebens“54. Dass das neue Leben selbst für Mann und Frau dabei zugleich tatsächlich immer unverfügbar bleibt, wird an der doch relativ hohen Anzahl ungewollt kinderloser Paare ganz praktisch deutlich.55 Das Kind wird den Eltern als Geschenk zuteil, und sie sind darauf angewiesen, es zu erwarten und zu empfangen. Das sichert zugleich den Nachwuchs vor der Vorstellung, Kinder ließen sich „machen“. Hier lässt sich Derrida anführen, der die Eigentümlichkeit einer jeden wahren Gabe darin sah, dass sie „stets im Namen des Anderen statt[findet]“ und der uns so einen Hinweis auf den eigentlich göttlichen Geber des Lebens eröffnen kann.56

Die spezifisch eheliche Keuschheit ist nach Roberts bleibend durch drei Merkmale ausgezeichnet: „1. Wahre Partnerschaft, 2. Achtung vor der personalen Würde, 3. Einfühlungsvermögen.“57 Hier wäre vor allem noch die eheliche Treue hinzuzurechnen, die jedoch auch bereits als elementarer Ausdruck der Gerechtigkeit und der Achtung vor der personalen Würde des Ehepartners sowie des gemeinsam eingegangenen Bundes verstanden werden kann. Treu zu sein bedeutet zunächst die bewusste Entscheidung und Umsetzung der Ausschließlichkeit sexueller Gemeinschaft mit dem eigenen Partner. Diese ausschließliche Bindung führe nach Gerl-Falkovitz sogar häufig dazu, dass Menschen die Keuschheit zum ersten Mal überhaupt erst in der Ehe leben könnten.58

Für die volle Verwirklichung der ehelichen Treue im Sinne der Keuschheit kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, der sich auf sexuelle Wünsche und Vorstellungen bezieht, die nicht den Ehepartner zum Ziel haben. Eine solche Herausforderung erfordert es, „das mehr oder weniger unpersönliche sexuelle Verlangen, das sich auf viele verschiedene Personen richten kann, zu vermenschlichen, zu personalisieren und zu sozialisieren. Das heißt, es muss auf die eine Person gelenkt werden, mit der man verheiratet ist, und zwar auf ihr Herz.“59 Das schließt unmittelbar die Erkenntnis ein, dass es möglich ist, auf genau diesen sexuellen Trieb regulativ Einfluss zu nehmen und ihn korrigierend umzuleiten. So bliebe gewährleistet, dass dem gegenseitigen Versprechen der ehelichen Treue auch eine innere Wirklichkeit entspricht und die äußere, leibliche Keuschheit nicht durch geistige Untreue vergiftet wird. Das jedoch „verlangt vom Menschen ein hohes Maß an Verzicht und Selbstbeherrschung“60 sowie das bereits erwähnte „Training“ moralischer Fähigkeiten.61

Auch die grundsätzliche Einstellung gegenüber dem Partner spielt eine entscheidende Rolle, die sich durchaus treffend mit Hilfe der augustinischen „uti-frui-Unterscheidung“ aussagen lässt: „Wir können einen anderen Menschen als Sexualpartner ‚gebrauchen’ (‚uti’) und ihn dadurch zum Gegenstand unseres Begehrens machen, oder wir können uns an ihm ‚erfreuen’ und seine Gegenwart im spontanen Erleben ‚genießen’ (‚frui’), wie es seiner Würde als Person entspricht.“62

Augustinus beschreibt in De doctrina christiana, dass der Mensch sich zu allem Sein und allen Dingen dann richtig verhält, wenn er sie (nur) gebraucht. Er soll sich dabei jedoch nicht innerlich an die Dinge der Welt, an das Irdische, binden und auch nicht zu viel von ihm erwarten. Gleichzeitig ist nach Augustinus das Sich-Freuen, das Genießen („frui“), der Beziehung des Menschen zu Gott vorbehalten.63 Diese Feststellung kann uns darauf hinweisen, dass sich der Mensch in der Ehe zwar in gewisser Hinsicht am anderen erfreuen und das Zusammensein mit ihm „genießen“ darf, dass aber zugleich die Sehnsucht des Menschen durch einen anderen Menschen nie vollständig erfüllt werden kann. Es überfordert eine Ehe, wenn sich ein oder beide Partner jeweils vom anderen die sexuelle oder emotionale Letzt-Erfüllung erhoffen. Nur wenn diese Relation gewahrt bleibt, dass ein Mensch dem anderen zwar ein wirkliches, doch kein letzthin erfüllendes Glück schenken kann, bedeutet das für die Beziehung die notwendige Entlastung, durch die sie geschützt bleibt vor unrealistisch überzogenen Erwartungen.64

Nach Eberhard Schockenhoff ist „der Einklang von Liebe und Sexualität … Aufgabe affektiv-moralischer Selbsterziehung.“65 Dieser geforderte Einklang von Liebe und Sexualität kann als anthropologische Grundlage der Tugend der Keuschheit verstanden werden. Die entgrenzend-ekstatische Erfahrung der Sexualität muss eingebettet sein in die vollständige Bejahung des Anderen und in die personale Liebe und Hingabe an jene konkrete Person. So wird der Eros durch den legitimen Anspruch des Anderen und dessen Würde als Person begrenzt und der Gefahr einer selbstischen Genusssucht entgegengewirkt. So führt Schockenhoff weiter aus: „Damit die psychosexuelle Dynamik des Menschen dem Wachstum seiner Beziehungsfähigkeit und einer kultivierten Partnerschaft zwischen Frau und Mann dient, bedarf es … ihrer bewussten Integration (von „integer“ = ganz, vollständig) in die willentliche Bejahung des anderen, also der psychodynamischen Leistung jener heute namenlos gewordenen Tugend, für die es früher das alte Wort ‚Keuschheit’ gab.“66

Zugleich, und hier soll ein mindestens ebenso sensibler Punkt in der Frage ehelicher Sexualität angesprochen werden, ist der Rahmen gegenseitiger personaler Annahme in Gefahr, wenn der eheliche Verkehr als Forderung zum Machtfaktor wird und so dem Inhalt von liebender Vereinigung in der Ehe diametral entgegensteht.67 Komplementär dazu argumentiert Bernhard Fraling, dass der Aufbau einer sexuellen Beziehung auf Mitleid ebenso unangemessen wäre: „Man kann nicht Liebe … zu einem Medium der Wohltätigkeit machen. Das würde den Partner degradieren und über kurz oder lang zu schweren Enttäuschungen führen.“68

Ausblick

Schon 1960 hatte Eustace Chesser in einem Buchtitel gefragt „Is chastity outmoded?“ Tatsächlich ist die Frage heute ebenso gerechtfertigt, ob „Keuschheit“ – als Begriff oder als Lebensweise – unmodern geworden ist. Vielleicht konnten jedoch die vorangegangenen Überlegungen einen Weg aufzeigen für ein erneuertes Verständnis von geordneter Sexualität im Sinne der Keuschheit, sodass diese nicht mehr nur als moralische Überforderung oder asketische Höchstleistung verstanden werden muss. Mag demnach sich auch die Sprache verändert und die Einstellungen gegenüber der Sexualität des Menschen in den letzten drei bis vier Dekaden vor allem in Westeuropa verändert haben, so lassen sich eventuell dennoch zwei entscheidende Aspekte ablesen, die heute für eine angemessene Sexualethik stehen können: Die Tugend der Keuschheit als sittliche Verfasstheit, die durch Bildung, einübende Betätigung und persönliche Entscheidung entwickelt wurde sowie das Vertrauen auf göttliche Hilfe, die das menschliche Leben und Bemühen letztlich erst gelingen lässt. Die Kombination beider Ansätze könnte dazu beitragen, Keuschheit als Lebensweise plausibel und als einen Wert attraktiv zu machen, der zur Daseinsweise eines gelungenen Lebens hinzugehört und der menschlichen Sexualität ihren spezifisch humanen Charakter bewahrt.

Referenzen

  1. Wucherpfennig A., Lob der Keuschheit, Vatican-Magazin (2010); 8-13
  2. Wucherpfennig A., siehe Ref. 1, S. 10 f.
  3. Hilpert K., Verantwortlich gelebte Sexualität: Lagebericht zu einer schwierigen theologischen Baustelle, HerKorr (2008); 62: 335-340, hier: S. 335
  4. Vgl. u. a.:
    Hilpert K., siehe Ref. 3
    Reiter J., Sexualität im Wertepluralismus: was gilt noch in der katholischen Sexualmoral?, Die Neue Ordnung (2009); 63: 416-428
    Scheule R. M., Hochkultur des Versprechens. Die Evangelischen Räte in ihrer sozialethischen Dimension, ThG (2009); 52: 284–297
    Mertes K., Ganz und gar wegsehen, Jesuiten (3/2009); S. 16 f.
    sowie den Bericht von K. Nientiedt bereits von 1991: Nientiedt K., Last der Tradition – Keuschheit als Freiheit. Ein Literaturbericht zum Thema Religion und Sexualität, HerKorr (1991); 45: 427-431
  5. Drewermann E., Kleriker. Psychogramm eines Ideals, Walter Verlag, Olten/Freiburg/Breisgau (1989), S. 709
  6. Drewermann E., siehe Ref. 5, S. 722. Wie Wunibald Müller zu Recht bemerkt, ersetzt Drewermann hier nicht nur den traditionellen Begriff durch eine neue Sprache, sondern das Wort „Keuschheit“ wird mit einem vollständig „neuen Sinngehalt“ versehen. Müller W., Keuschheit als Ja zur Sexualität, in: Müller W., Scheuer M., Herzig A. (Hrsg.), Frei zum Leben. Die Weisheit der evangelischen Räte, Echter Verlag, Würzburg (1996), S. 11-47, hier: S. 12. So argumentiert auch M. Bußmann und strebt eine Rehabilitierung der Keuschheit dadurch an, dass der Begriff gemieden und stattdessen durch prosaische Umschreibungen von Sensibilität und Sinnenhaftigkeit ersetzt werden solle. Vgl. Bußmann M., Keuschheit – zur Rehabilitierung einer ‚verkommenen’ Tugend, WuA (1990); 31: 147-150, hier: S. 150. Dagegen argumentiert Mieth: „Wie das Wort ‚Liebe’ durch Einschränkung und Ausweitung zugleich immer wieder verkommen kann, so ist das Wort ‚Keuschheit’ … ‚verwortet und vernamet’, aber nicht ersetzbar.“ Mieth D., Keuschheit in der Ehe, WuA (1990); 31: 165-169, hier: S. 169
  7. „Moralische Vorstellungen wie ‚Treue’ und ‚Verantwortung übernehmen’ [haben] heutzutage für Jugendliche eine hohe Bedeutung … So bezeichnen 81% der Jugendlichen ‚Treue’ als einen Wert, der ‚in’ ist.“ Shell Deutschland Holding (Hrsg.), 15. Shell Jugendstudie. Jugend 2006, Fischer, Frankfurt/Main (2006), S. 56. Auch gegenüber der Familie lässt sich, trotz der hohen Anzahl von Trennungen und Scheidungen, eine deutlich positive Einstellung beobachten: Gegenüber den Vorjahren ist die Familienorientierung sogar ein weiteres Mal angestiegen. Mehr als drei Viertel der Jugendlichen (76%) stellen für sich fest, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können (2000: 70%, 2006: 72%). Shell Holding (Hrsg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich (16. Shell Jugendstudie), Fischer, Frankfurt/Main (2010), S. 17
  8. Nietzsche F., Der Antichrist. Gesetz wider das Christenthum, in: Nietzsche F., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Sechste Abt., Dritter Bd.: Nachgelassene Schriften (August 1888 – Anfang Januar 1889), de Gruyter Verlag, Berlin (1969), S. 252
  9. Vgl. Pieper J., Über die Liebe, in: Pieper J., Werke, Band 4, (1996), S. 296-414, hier: S. 314, 318
    Schockenhoff E., Sexualität und Ehe. Moraltheologische Überlegungen zu ihren anthropologischen Grundlagen, StZ (1997); 215: 435-447, hier: S. 437
    „Liebe darf nicht bloß eine subjektive Situation bleiben, in der sich die vom Trieb geweckten Energien der Sinnlichkeit und Affektivität äußern, denn dann erreicht sie ihr personales Niveau nicht und kann die Personen nicht miteinander vereinen. Damit sie Mann und Frau wirklich zu vereinen und vollen persönlichen Wert zu erlangen vermag, muß sie in der Bejahung der Person eine feste Grundlage haben.“ Wojtyla K., Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, Kösel Verlag, München (1979), S. 125
  10. Rotter H., Versuch einer Theologie der Sexualität, in: Plattform „Wir sind Kirche“, Liebe – Eros – Sexualität. „Herdenbrief“ und Begleittexte, Thaur (1996), S. 153-165, hier: S. 157
  11. Mieth D., siehe Ref. 6, S. 166
  12. Mieth D., siehe Ref. 6, S. 166
  13. Wojtyla K., siehe Ref. 9, S. 123
    Vgl. dazu Fraling B., Sexualethik. Ein Versuch aus christlicher Sicht, Schöningh Verlag, Paderborn (1995), S. 138
    Bußmann M., siehe Ref. 6, S. 147-150
  14. Vgl. dazu beispielsweise aus protestantischer Sicht Bonhoeffer D., Nachfolge, in: Bonhoeffer D., Werke, 4. Band, Chr. Kaiser Verlag, München (1989), S. 281: „Der Christ ist keusch, er gibt seinen Leib ganz in den Dienst des Leibes Christi.“
    Vgl. ebenfalls Bonhoeffer D., Ethik, in: Bonhoeffer D., Werke, 6. Band, München (1992), S. 130-131
    Aus eher liberal katholischer Perspektive vgl. dazu die Äußerung M. Bußmanns: „Daß Keuschheit als ‚vermiefte Prüderie’ keinerlei Chancen mehr hatte …, liegt daran, dass die christliche Sexualmoral es nie geschafft hat, deutlich zu machen, welche positiven Lebenswerte der Tugend der Keuschheit zu eigen sind, dass es nie gelungen ist, das Tabu-Thema Sexualität zu integrieren in die christliche Anthropologie und für konkret lebende Menschen klarzumachen, dass und wie Sexualität als gute Schöpfung Gottes jeden Menschen in allen Dimensionen des Menschseins prägt.“ Bußmann M., siehe Ref. 6, S. 147
  15. The Grammar of Goodness. An interview with Philippa Foot, Harvard Rev Phil (2003); XI: 32-44, hier: S. 35
  16. Foot P., Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze, Fischer (Tb), Frankfurt (1997), S. 41
  17. Vgl. ebd. Enthaltung von vorehelichem Geschlechtsverkehr sowie Homosexualität sieht Foot in der Forderung nach Keuschheit indes nicht enthalten.
  18. Vgl. Foot P., siehe Ref. 15, S. 35
  19. Foot P., siehe Ref. 16, S. 30
  20. Geach P., The Moral Law and the Law of God, in: God and the Soul, Routledge & Kegan Paul, London (1969), S. 123
  21. Camus A., Tagebuch 1942 – 1951, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (1967), S. 49
  22. Vgl. Pieper J., Zucht und Maß, in: Pieper J., Werke, Band 4: Das Menschenbild der Tugenden, Meiner Verlag, Hamburg (1996), S. 137-197, hier: S. 144 f. Josef Pieper übersetzt den entsprechenden griechischen Begriff der „sophrosýne“ treffend mit „ordnende Verständigkeit“. Ebd., S. 148
  23. „The essential value reason plays in virtue is to direct human actions to real good.“ DeMarco D., Human sexuality and the need for virtue, HPR (1996); 96: 7-13, hier: S. 12
  24. Demmer K., Gott denken – sittlich handeln. Fährten ethischer Theologie, Academic Press Fribourg, Herder, Freiburg/Breisgau (2008), S. 179
  25. „Nichts anderes aber macht das Wesen der Keuschheit als einer Tugend aus als dies: dass sie im Bereich der Geschlechtskraft die Ordnung der Vernunft … verwirklicht.“ Pieper J., siehe Ref. 22, S. 148
  26. Fraling B., siehe Ref. 13, S. 139
    „In the absence of love, what passes for virtuous behaviour is never fully virtuous.“ DeMarco D., siehe Ref. 23, S. 12
  27. Bots J., Sechstes Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“, in: Bots J., Penning de Vries P. (Hrsg.), Moral und Erfahrung. Geistliche Erfahrung als Quelle für das christliche Handeln in der Welt. Zur Theorie und Praxis der Unterscheidung der Geister, Butzon & Bercker, Kevelaer (2000), S. 83-94, hier: S. 85
  28. Vgl. Cassian J., Aus den Institutionen: Kampf gegen die sexuelle Zügellosigkeit, in: Cassian J., Sartory G., Sartory T., Spannkraft der Seele. Einweisung in das christliche Leben I, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau (1982), S. 60-67, hier: S. 62 (Inst VI, 4)
  29. Vgl. Lewis C. S., Sittlichkeit und Sexualität, in: Lewis C. S., Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glauben, Brunnen Verlag, Basel (1977), S. 98
  30. Nietzsche F., Also sprach Zarathustra. Das Nachtwandlerlied, in: Nietzsche F., Werke, Kritische Gesamtausgabe, Sechste Abt., Erster Band (1883 – 1885), de Gruyter Verlag, Berlin (1968), S. 400
  31. „Ille est vere castus, qui Deum attendit, et ad ipsum solum se tenet.” Augustinus A., De beata vita, ed. P. Knöll, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien (1922), S. 3, 18 (= CSEL 63)
  32. Vgl. Cassian J., Aufstieg auf den Berg der Keuschheit, 109 (C XII, 4).
  33. Fraling B., siehe Ref. 13, S. 139. „Man kann also gar nicht die Keuschheit in sich selbst beschreiben, ohne den inneren Zusammenhang dieser Tugend mit allen anderen, besonders der Liebe zu sehen.“ Ebd.
    „Without love all the other virtues are stripped of their real significance“. Roberts W. P., Christian Marriage. A Divine Calling, in: Salzman T. A., Kelly T., O’Keefe J. J. (Ed.), Marriage in the Catholic Tradition. Scripture, Tradition and Experience, Crossroad General Interest, New York (2004), S. 103
  34. Dem entspricht auch die Einordnung der Ausführungen zur Keuschheit bei Fraling unter „Aspekte theologischer Anthropologie“, vgl. Fraling B., siehe Ref. 13, S. 108-145, S. 138 ff.
    Vgl. dazu auch: „Unter dem Blickwinkel der Erlösung und im Rahmen der Entwicklung der Heranwachsenden und Jugendlichen wird die Tugend der Keuschheit, die in der Mäßigung enthalten ist – eine der Kardinaltugenden, die bei der Taufe durch das Wirken der Gnade emporgehoben und bereichert worden ist –, nicht als eine Einschränkung verstanden, sondern im Gegenteil als das Sichtbarmachen und zugleich das Bewahren eines kostbaren und reichen Geschenkes, der Liebe, die man empfangen hat im Hinblick auf die Selbsthingabe, die sich in der besonderen Berufung eines jeden verwirklicht.“ Päpstlicher Rat für die Familie, Menschliche Sexualität. Wahrheit und Bedeutung, in: VApS 127, Bonn (1996), Nr. 4
  35. Eine ausführliche Erörterung über die Abgrenzung von Geist und Seele ebenso wie eine differenzierte Darstellung des Verständnisses von Körper und Leib, kann an dieser Stelle leider nicht geleistet werden. Es bietet jedoch für folgende Untersuchungen ein interessantes Feld.
  36. „Man hat [Keuschheit traditionell] in der Nähe von Enthaltsamkeit definieren wollen; das geht daraus hervor, dass die castitas perfecta eben vollkommene Enthaltsamkeit bedeutete. Das kann man nicht als die optimale Bewältigung des anstehenden Problems ansehen.“ Fraling B., siehe Ref. 13, S. 138
  37. Vgl. ausführlich zur Konzeption des spirituellen und moralischen Aufstiegs zu einem Leben in Keuschheit: Cassian J., Aus Collatio XII [C XII]: Abbas Chaeremon über den Aufstieg auf den hohen Berg der Keuschheit, in: Cassian J., Sartory G., Sartory T., Aufstieg der Seele. Einweisung in das christliche Leben II, Freiburg/Breisgau (1982), S. 105-126
    Vgl. dazu auch Foucault M., Der Kampf um die Keuschheit, in: Ariès P., Béjin A., Foucault M. (Hrsg.), Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Fischer Verlag, Frankfurt/Main (1986), S. 25-39
  38. Vgl. Cassian J., Über den Aufstieg auf den hohen Berg der Keuschheit, 112-113 (C XII, 6)
  39. „No one can deny that something has gone terribly wrong. This isn’t the future we imagined for ourselves and our children or the one that was promised by the advocates of the so-called ‘sexual revolution’.” Stubna K. D., Educating our young people to chastity, HPR (1998); 98: 18-27, hier: S. 18
  40. Bots J., siehe Ref. 27, S. 86
    Vgl. auch Bots J., siehe Ref. 27, S. 87
  41. Pieper J., siehe Ref. 22, S. 152-153
    Ähnlich auch Cassian J., Aus den Institutionen: Kampf gegen die sexuelle Zügellosigkeit, 65 (Inst VI, 18)
  42. Die folgende Darstellung der Keuschheit in drei verschiedenen Lebensständen berücksichtigt den Witwenstand nicht gesondert, wie klassischerweise üblich, sondern behandelt ihn implizit unter „Vor- bzw. außereheliche Keuschheit“, obwohl die Keuschheit nach einer gelebten Ehe sicher auch ihre eigene Prägung besitzt.
  43. Vgl. dazu meinen Beitrag zum Zusammenhang von Freundschaft und Ehe: Westerhorstmann K., Über die Einheit der Liebe. Freundschaft in der Ehe anhand der aristotelischen Freundschaftslehre, ThGl (2007); 97: 170-187
  44. Schraub I., Zwischen Salon und Mädchenkammer. Biedermeier bis Kaiserzeit, Ernst Kabel Verlag, Hamburg (1992), S. 207
  45. Vgl. Scheule R. M., siehe Ref. 4, S. 290
  46. Cassian J., Aufstieg auf den Berg der Keuschheit, 107 (C XII, 2)
  47. Vgl. West C., Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution nach Papst Johannes Paul II., FE-Medienverlag, Kisslegg (2005), S. 63-65
  48. H.-B. Gerl-Falkovitz macht auf die positive Kraft der Jungfräulichkeit in Bezug auf Ausführungen Teilhard des Chardins aufmerksam. Sie schreibt in diesem Zusammenhang von einer „geistigen Fruchtbarkeit, die dasselbe ist wie Jungfräulichkeit, freilich in deren schöpferischer Form, nicht in deren steriler oder toter Verzeichnung.“ Gerl-Falkovitz H.-B., Evolution der Keuschheit? Teilhard de Chardins Blick auf das Weibliche, Katholische Bildung (2006); 107: 4-14, hier: S. 7
  49. „Die Fülle … erhabener Liebe lässt sich nicht verwirklichen ohne ein keusches Leben. Liebe und Keuschheit sind wie eine doppelte Siegespalme, … dass man die eine nicht ohne die andere haben kann.“ Cassian J., Aufstieg auf den Berg der Keuschheit, 1982, 106 (C XII, 1). So auch Teilhard de Chardin, der die Keuschheit nicht als Absage an die Liebe, sondern vielmehr als ihre innerste Strahlkraft verstanden habe, die dann auch im Zusammenhang der kosmischen Entwicklung eine entscheidende Rolle spiele. Vgl. Gerl-Falkovitz H.-B., siehe Ref. 48, S. 10
  50. Roberts W. P., siehe Ref. 33, S. 105
  51. Zum „Sein als Gabe“ vgl. die gute Übersicht in: Wolf K., Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Kohlhammer Verlag, Stuttgart (2006), S. 184-187, passim.
  52. Martin Buber erläutert, wie „die wahre Ehe entsteht: daß zwei Menschen einander das Du offenbaren. Daraus baut das Du, das keinem von beiden Ich ist, die Ehe auf.“ Buber M., Ich und Du, in: Buber M., Das dialogische Prinzip, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (2006), S. 7-136, hier: S. 48
  53. Wolf K., siehe Ref. 51, S. 50. „Der gleiche [sexuelle] Akt ist also ganz zweideutig. Er kann etwas rein Egoistisches bedeuten. Und er kann bedeuten, sich in der Selbstvergessenheit zu verlieren, wo mir der andere so wirklich wird, wie ich mir selber wirklich bin.“ Spaemann R., „Die Liebe überwindet alles“. Paul Badde im Interview mit Robert Spaemann, Die Welt vom 14. Juni 2010, http://www.welt.de/die-welt/debatte/article8033918/Die-Liebe-ueberwindet-alles.html (Download vom 17. Juni 2010)
  54. Spaemann R., siehe Ref. 53
  55. Der Anteil von ungewollt kinderlosen Paaren liegt nach Hofheinz in Deutschland bei ca. 15 – 20 Prozent. Vgl.: Hofheinz M., Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Lit Verlag, Münster (2008), S. 21 ff.
    Vgl. u. a. auch: Müller S. E., Schmid-Tannwald I., Hornstein O. P. (Hrsg.), Unerfüllter Kinderwunsch. Assistierte Fortpflanzung im Blickfeld von Medizin und Ethik, Lit Verlag, Münster (2008)
  56. Derrida J., Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Merve Verlag, Berlin (2003), S. 46
    Zum Verhältnis von Gott und dem „Anderen“ bei Derrida vgl. Ruhstorfer K.-H., Adieu. Derridas Gott und der Anfang des Denkens, Freiburger Zeischrift für Philosophie und Theologie (2004); 51: 123-158, hier: S. 123 f.
  57. Roberts W. P., siehe Ref. 33, S. 106 (Übers. Die Verf.)
  58. Vgl. Gerl-Falkovitz H.-B., Frau, Männin, Menschin. Zwischen Feminismus und Gender, Butzon und Bercker, Kevelaer (2009), S. 252
  59. Bots J., siehe Ref. 27, S. 86
  60. Bots J., siehe Ref. 27, S. 86
  61. Vgl. Schockenhoff E., siehe Ref. 9, S. 437
  62. Schockenhoff E., siehe Ref. 9, S. 439
  63. Vgl. Augustinus A., De doctrina christiana, ed. Green W. M., Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien (1963), I, 4, 4; 22, 20 (= CSEL 80)
  64. Vgl. Zulehner P. M., Leibhaftig glauben. Lebenskultur nach dem Evangelium, Herder Verlag, Freiburg (1983), S. 51. „Eben die Erfahrung, dass auch das Leben in der Ehe nur spurenhafte Elemente intensiven, erhofften Lebens eröffnet, könnte den Menschen in Erinnerung erhalten, dass die menschliche Sehnsucht nach Erfüllung so verrückt, so maßlos, ja so unendlich ist, dass ein endlicher Mensch sie nie erfüllen kann.“ Ebd., S. 52
  65. Schockenhoff E., siehe Ref. 9, S. 437
  66. Schockenhoff E., siehe Ref. 9, S. 438
  67. Vgl. Blaquière G., Es wagen, die Liebe zu leben, Parvis Verlag, Hauteville (1995), S. 131
  68. Fraling B., siehe Ref. 13, S. 142

Anschrift der Autorin:

Dr. theol. Katharina Westerhorstmann
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Lehrbeauftragte für Ethik/Praktische Philosophie
Sautierstraße 53b, D-79104 Freiburg
k.westerhorstmann(at)gmx.de

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Anthropologie und Bioethik
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