Wie hältst du es mit der Religion…? Zum Verhältnis der Wissenschaften zur „Religion“

Imago Hominis (2009); 16: 277-285
Reinhold Knoll

Zusammenfassung

Mit der Dominanz der Naturwissenschaften geraten alle anderen Wissensformen unter Druck und müssen sich dem neuen Methodenkanon beugen. Davon ist auch die Theologie betroffen, will sie nicht aus dem Fächerkanon der Universitäten ausscheiden. Seither hat sie den Anforderungen pragmatischer Vernunft zu genügen. In den drei „Lebensbereichen“ der Modernen – Wissenschaft, Gesellschaft, soziale Werte – gewannen die Wissenschaften nicht nur das Übergewicht in der Bestimmung von Werthaltungen und -orientierungen, sondern beschnitten insgesamt die traditionelle Kompetenz von Kirche und „Religion“. Die Folge war sowohl die Verkürzung von Glaubensüberzeugungen zur Privatsache, als auch die zunehmende Unverbindlichkeit moralischer Wertbestimmungen in der Gesellschaft. In diesem Dilemma hat der „religiöse Mensch“ zu leben und kann nicht mehr damit rechnen, dass sein individueller Lebensentwurf öffentliche Anerkennung findet – die gelungene Säkularisation.

Schlüsselwörter: Naturwissenschaften, Wissenskompetenz, Religionsphilosophie, Weltanschauungsproduktion, Sittengesetz

Abstract

The dominance of the natural sciences threatens to overwhelm all other forms of science, which are forced to adapt to a new system of methods. This is true even for theology, which risks being eliminated from the subjects offered by universities. This has put theology under pressure to meet the requirements of pragmatic reason. Among the three areas of modernism – science, society and social values – science has formed the leading principle for determining values and orientation, thus cutting short the competence of church and religion. As a consequence, faith has been reduced to a private matter and moral principles in society have become subject to growing relativism. Religious people have to cope with this dilemma and can no longer expect their individual lifestyle choices to be respected in public – which results in secularisation.

Keywords: Natural Sciences, Philosophy of Religion, World-View, Moral Law


Was ist „Religion“?

Die Frage, die einmal Gretchen an Doktor Faust richtete und Goethe zu verwirrenden Antworten zu nötigen schien, war grundsätzlich falsch gestellt. Allerdings war diese ominöse Frage aus der Aufklärung entnommen, die sich sicher zu sein schien, dass das, was unter Religion zu verstehen ist, grundsätzlich auf jenen Bereich abzielt, auf dessen Territorium alle menschlichen Unsicherheiten und Ungewissheiten angesiedelt sein sollen. Dort herrschen also diese leidigen existentiellen Ängste, die bangen Fragen nach dem Sinn des Lebens oder alle andern bedrückenden Sorgen, die die Aufklärung als Einbildungen oder Fiktionen abtun wollte. Für geraume Zeit blieb dieses Argument unwidersprochen. Behauptet wurde, es wäre im Interesse der Religionen oder Kirchen gewesen, die Menschen nicht nur in ihren existentiellen Ängsten zu bestärken, sondern sie dadurch auch in Unmündigkeit zu halten. Diese Unterstellungen waren sehr plausibel formuliert worden. Daher war ab dem 17. Jahrhundert jenes Wissen ohne jede Schwierigkeit zur Wissenschaft geworden, was generell von der Theologie emanzipiert erschien oder in diesem Sinn argumentierte, nämlich, dass die Theologie nur in geringem Maß die neuen Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfülle. Dass diese Argumentation vornehmlich Merkmale naturwissenschaftlichen Denkens besaß, versteht sich von selbst. Und dennoch hatte Faust, der Gretchen die Antwort schuldig blieb, in der Folge der Szenen und Akte seine wissenschaftliche Reputation gründlich eingebüßt. Schon im ersten Akt wird die Suche nach Wahrheit beim Gelehrten zum wilden Hantieren mit Eprouvetten wegen des Interesses an Alchimie, wobei gleichzeitig die Neigung zum Selbstmord übermächtig wird, von dem ihn nur der Klang der Osterglocken abhalten konnte. Und die Frage, die Faust vermutlich im Sinn sentimentaler Schwäche beantwortet hätte, war deshalb falsch gestellt, weil sie von dem Ergebnis der prinzipiellen Trennung von Wissenschaft, Leben und Glauben ausging, ja diese als Widersprüche sah und als Ursache für alle Folgen dieser Bewusstseinsspaltung. Da half dem Doktor Faust auch nicht der Ausflug ins vergnügliche Leben, um andere Erfahrungen eigentlicher Wirklichkeit zu sammeln.1

Hat Glaube gegenüber Wissenschaft die schlechteren Karten?

Ist man wirklich daran interessiert, dieses Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und „Religion“ zu lindern, so wird die Geschichte der Wissenschaften kein guter Ratgeber sein. Vermutlich ist die in der Wissenschaftsgeschichte vorgenommene Verteilung der Schuldzuweisungen und der Vorwürfe schon seit jeher falsch gewesen. Einerseits soll man nachvollziehen, die Wissenschaften beseitigten die Dunkelheit mangelhaften Wissens, die Wissenschaftler selbst waren plötzlich „Anti-Heilige“,2 sehr oft Märtyrer für ihre wissenschaftliche Überzeugung – seit Galilei zumindest, andererseits erschwerten dunkle Mächte den Weg zu Fortschritt und Erkenntnis. Es war mehr oder weniger klar, wer zu diesen dunklen Mächten zählt. Dieser Vorwurf wurde noch schärfer, da mit der Reformation mehr oder weniger die katholische Kirche im Westen Europas übrig blieb, um als dunkle Macht apostrophiert zu werden. Diese fragwürdige Funktion hatte sie mit dem Adel und dem Feudalsystem gemeinsam.3

Nun kann man die Wissenschaftsgeschichte wie auch jene der Zivilisation in Europa in dieser Weise darstellen, wobei dann darüber Konsens besteht, dass Wissenschaften die Funktion der Religion in der Gesellschaft erheblich beschnitten haben. Dennoch ist die Frage neuerlich zu überprüfen: Sind Wissenschaften und Glaubensüberzeugung so einfach voneinander zu trennen? Haben Glaubensüberzeugungen gegenüber den Wissenschaften die schlechteren Karten?

Die Einsicht in die vielfältigen Quellen und Dokumente wird sehr schnell belehren, dass manche Repräsentanten auf beiden Seiten sich in der Vergangenheit in ihre Dogmatismen verrannten. Der Wiener Kardinal Franz König hatte vor vielen Jahren diesen Konflikt dadurch beizulegen versucht, indem er in seiner Rede 1968 in Lindau am Bodensee die Lehre Galileis rehabilitierte, sie widerspreche also nicht den Kriterien der Glaubenswahrheit und der Theologie im Allgemeinen.4 Gewiss verkörperte Galileo Galilei in der Wissenschaftsgeschichte einen Rang, der bis heute als Merkmal für den Erfolg der Wissenschaften gilt. Dass der Kardinal die Verurteilung Galileis bedauerte, war zur Steuerung künftiger wissenschaftlicher wie „religiös“ bestimmter Wahrheiten verständlich, aber deshalb problematisch, denn vor Galilei hat ein ebenso bedeutender Gelehrter den Tod am Scheiterhaufen gefunden, am Campo di Fiore in Rom: Giordano Bruno. Im Unterschied zu Galilei war dessen astronomische Theorie streng wissenschaftlich, während die damalige Verurteilung Galileis weit mehr politische als wissenschaftskritische Motive hatte, die von Seiten des „Vatikans“ als berechtigt gelten können. Diese nachträgliche Korrektur hat nicht die Kritik am verstorbenen Wiener Kardinal zum Ziel. Die darin zum Ausdruck gekommene Verwicklung und „Verschiebung“ der Problemhorizonte zeigt nur zu deutlich, dass wir bis heute keine ausreichende Klärung dieser Fragen fanden oder gar finden wollten. In dem Maß nämlich die beiden Kontrahenten, Wissenschaften und Glaube, in der Form von „Religion“ ihre Legitimation über „Rufschädigungen“ des Gegners gewinnen wollten, verspielten sie alles: Reputation und Rechtschaffenheit. Wenn man nun einlenkt, gewiss in der realistischen Einschätzung, dass Wissenschaften nunmehr eine „Macht“ wurden,5 so war es falsch zu meinen, die „Religion“ spiele als „Bewusstseins-produzentin“ seit der Aufklärung endlich keine dominante Rolle mehr und das Problem sei damit gelöst. Die Brüskierung des Glaubens, die die verschiedenen Institutionen seit der Zeit der Reformation teilweise selbst provoziert hatten, war durch eine Art der Wissenschaft möglich geworden, die sich grundsätzlich innerhalb ihrer Positivierungen des Erkenntnisinteresses bewegte, besser bekannt als Szientismus. Dessen Erfolg lag in der Spezialisation in den Naturwissenschaften und deren Folgen für das praktische Leben. Allerdings zeigen die originalen Ausgaben der großen naturwissenschaftlichen Entwürfe, so etwa von Johannes Kepler6 bis Isaac Newton7, dass die außerordentlich gelungenen Hypothesen und Beweisführungen aus einem seltsamen Mystizismus8 gespeist wurden, der in den Dokumentationen im Fortgang der erfolgreichen Wissenschaftsgeschichte tunlichst unterschlagen wurde. Das mag zwar kein zureichendes Argument im Plädoyer für die „Religion“ sein, aber stärkt bei seriösen Editionen die Einsicht, dass die „Schubkraft“ naturwissenschaftlichen Denkens nicht allein aus Experiment, Beobachtung und Mathematisierung oder Formalisierung gewonnen wurde, sondern auch aus „para-theologischen“ Überlegungen. Nach der Aufklärung hatte man sich später auch von diesen emanzipiert. Dass eine theologische Interpretation der „immateriellen“ Welt mit Wissenschaft kompatibel bleiben kann, ohne dass die Wissenschaftlichkeit Schaden erleidet, blieb allein in der chinesischen Kultur bis zur vorletzten Jahrhundertwende erhalten.9

Die „Adoption“ der Natur- in den Geisteswissenschaften

In Europa hingegen verstärkte sich nach der Reformation die Tendenz zu unterschiedlichen „Theologien“, deren Mutationen sich im naturwissenschaftlichen Weltbild behaupteten, mit dessen Hilfe dieser „Tempel der Natur“ errichtet wurde und schließlich auch den Geisteswissenschaften ein „Glaubensbekenntnis“ vorschrieb, das wohl am besten in der Verbindung zwischen Darwinismus und Sozialdarwinismus beschrieben werden kann.10

Der nun entstandene Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, immerhin das Thema seit der Aufklärung, ist vermutlich deshalb so mühevoll aufzulösen, da die erfolgten Penetrationen einerseits die Theologie verleiteten, die mondänen Formen des Wissenschaftsverständnisses zu adoptieren, andererseits die Wissenschaften in Formen von „Vernunftreligion“ zur Produktion von „Weltanschauungen“ ermunterten, die man auch als Ideologisierungsprozess bezeichnen kann. In der französischen Revolution war diese Veränderung erstmals thematisiert, ja die Naturwissenschaften sollten neuen „Kulten“ Pate stehen, zum Beispiel dem „Newton-Kult“, der in den ehemaligen Kirchen – etwa im Pantheon in Paris – gepflegt wurde.

Diese neuen „ Wissenschaften“ feierten durchschlagende Erfolge und der darin enthaltende Empirismus verfehlte nicht die Wirkung auf die Geisteswissenschaften, etwa im Historismus in der Methode der Diplomatik und Quellenkunde oder in der Philologie, hierauf in den Gesellschaftswissenschaften. Es schien, als sei Natur- und Gesellschaftsontologie der gleiche Gegenstand für alle Wissenschaften – und die Theologie begann diesen Wandel ebenfalls zu rezipieren, indem sie ihre Hauptaufgabe nicht in der Interpretation etc. der göttlichen Überlieferung erblickte, sondern in der „Philologisierung“ der vorgegebenen Texte.

Für den Soziologen ist dieser Wandel ein wichtiges Beispiel, sollte er den Blick nicht auf den Erfolg der Wissenschaften richten, sondern auch auf die damit verbundenen Formen der Institutionalisierung von Wissenschaft und Wissen.11

Der Wandel der Universität und des Wissens

Die Universitätsreformen im 19. Jahrhundert könnte man beinahe als säkularistische und laizistische Kirchengründungen dechiffrieren, deren begrenzte Toleranz und Kompromissbereitschaft sogar die Einrichtung theologischer Fakultäten einräumte. Nun hatten die Wissenschaften eine soziale Kompetenz erreicht, die sich grundlegend von der mittelalterlichen Universitätsverfassung unterschied, die ja ein Studium Generale vorgesehen hatte und keine fachspezifische Spezialisierung. Mit der Universität als sozialer Institution im 19. Jahrhundert hatte sich der Stellenwert der Wissenschaften verbessert, zugleich war der traditionelle Disput zwischen „Religion“ und Wissenschaft, der noch bis in die Aufklärung gereicht hatte, völlig verändert. Religion oder Theologie waren zu philologisch-historischen Fächern geworden, mit deren Professionalität die neue Wissenschaftlichkeit an der neuen Universität behauptet werden konnte. Was vormals für die Mutter der Gelehrsamkeit galt – die Theologie –, wandelte sich zur Religionsphilosophie, ein spezielles Fach innerhalb der Philosophie wie Naturphilosophie oder Geschichtsphilosophie. Die weiteren Konfrontationen sind nur aus den nunmehr veränderten Standorten innerhalb der Institution „Universität“ zu verstehen und weisen keine grundsätzliche Bindung an Glaubenswahrheiten als Voraussetzung der Dialoge und Streitgespräche mehr auf. Das bevorzugte die evangelisch-theologischen Fakultäten gegenüber den katholischen, die erst jetzt ihr zuweilen prekäres Naheverhältnis zu den römischen Behörden zu beobachten hatten. Zug um Zug hatte man während der Konfrontationen zwischen Wissenschaft und „Religion“ aus den Augen verloren, dass es in „Religionsfragen“ nicht allein um die Beibehaltung wissenschaftlicher Kompetenz ging, sondern auch um die drängenden Antworten auf die existentiellen Nöte der Menschen, um Seelsorge und Nächstenliebe.

Dieser knappe historische Exkurs hat der Einsicht zu dienen, dass unter dem Druck der Institutionalisierung von Wissenschaft und Wissen die Erfassung der „Lebenswelt“ und „Lebenswirklichkeit“ in einer „Optik“ betrachtet wurde, die unter anderem die Bereiche der Spiritualität und Kontemplation, der Seele und des Wissens um Erlösung für gegenstandslos erklärte – es sei denn, es wurden hybride Formen wissenschaftlicher Selbsterlösungen formuliert, vom Konzept des „Übermenschen“ bis zur Beschwörung von Revolutionen.12 Also waren die traditionellen Erinnerungen an Heilserwartungen und Aufforderungen zu Tugenden zu Illusionen gestempelt worden, die sich unhaltbaren Fiktionen oder „falschem Bewusstsein“ verschrieben hatten. Dass unter diesen Voraussetzungen die Dialoge nicht freundlich verlaufen konnten, versteht sich von selbst. Das kurze Aufbäumen in der katholischen Romantik13, die unter anderem erstmals die Dramatik der sozialen Lage der Gesellschaft in die Debatte warf, hatte die Qualifikation, eine Wissenschaft zu sein, nicht erreicht und war letztlich erfolglos, ihr Programm zu erfüllen: die Aufklärung über die Aufklärung. So hatte sich das katholische Geistesleben in Europa den Vorwurf der Rückständigkeit eingehandelt, während die evangelischen und reformierten Theologen ihre Position in der Religionsphilosophie um den Preis diverser Säkularisationen von Theologie verteidigten.

Wie bewältigen wir das neue Wissen?

Bis heute ist der zuweilen nur sehr „künstlich“ am Leben erhaltene Dialog zwischen Wissenschaft und Religion von diesen Prägungen bestimmt, die sich in der aktuellen Konsequenz nach drei Gesichtspunkten gliedern lassen.

  1. Wissenschaft und Glauben sind zwei völlig unterscheidbare Sphären, was aber nicht ausschließt, dass die Begründung von Positionen aufeinander angewiesen ist.
  2. Die Trennung führt zur Aufteilung von Zuständigkeiten, zur Konstruktion „zweier Wahrheiten“, was ja schon einmal in der Kirchengeschichte der Fall war: im lateinischen Averroismus und in der ockhamistischen Schule; und entweder wird dann
  3. die Wissenschaft dem Glauben untergeordnet oder der Glaube der Wissenschaft.14

Zur ersten Variante hatte sich Leibniz entschlossen, während die dritte seit Augustinus über Luther tradiert wird. Jedenfalls waren diese Varianten für das 18. Jahrhundert unbefriedigend für die Bestimmungen von Vernunft und Glauben. Bis heute sind die darin gelegenen Exklusionen wirksam, dass sich nämlich das Verhältnis zwischen dem Wissen von Gott und dem Wissen über die Welt „verkehrt proportional“ entwickelte. So stellte Hegel fest: „Je mehr sich die Erkenntnis der endlichen Dinge ausgebreitet (hat), indem die Ausdehnung der Wissenschaften beinahe grenzenlos geworden ist, alle Gebiete des Wissens zum Unübersehbaren erweitert (sind), um so mehr hat sich der Kreis des Wissens von Gott verengt… Es macht unserem Zeitalter keinen Kummer mehr, von Gott nichts zu erkennen; vielmehr gilt es für die höchste Einsicht, dass diese Erkenntnis sogar nicht möglich sei.“15

Für unsere Überlegung bedeutet Hegels Analyse, dass wir uns nicht einbilden dürfen, die Diskussion zu diesem Thema unbelastet neu eröffnen zu können. Je mehr wir uns der Illusion hingeben, dank unserer Naivität von dieser Geschichte nichts wissen zu müssen, desto eher werden diese historischen Strukturen wirksam und reanimieren eine Fragestellung, die uns vermutlich auch heute nicht beantwortbar erscheint, es sei denn, an Wochentagen der Wissenschaft zu dienen und sonntags die Kirche zu besuchen. Beide Sphären haben nichts gemeinsam, hatte einmal ein Biochemiker behauptet, um das Dilemma zu verdrängen.

Diese allgemeine Ansicht, dass beispielsweise mit dem Erfolg der Wissenschaften die „Inhalte“ der Religionen ins Märchenhafte gedrängt werden, übersieht völlig, dass die Entwicklung der „natürlichen“ Rechte des Menschen, die Konstruktionen von Moral und Ethik, die Kataloge der Tugenden und sittlichen Normen gleichsam als Axiom Vorstellungen benötigen, die ohne diese dramatische Begegnung des Moses am Berg Sinai und ohne die „Vorarbeiten“ eines Hammurapi in Babylonien und altorientalischen Rechts beim sumerischen König Ur-Nammu und dem König von Isin, Lipit-Istar, keine hinreichende soziale „Axiomatik“ erhalten hätten. Selbst an diesem Punkt ist man noch weit davon entfernt, dass im Christentum die Gottes-Beziehung sich auch an der Qualität der Beziehung zwischen den Menschen zu messen hat. Man wird beobachten müssen, dass zwar in der Säkularisation unserer Welt diese Motive weiterhin in Geltung bleiben sollen, jedoch nicht auf Dauer und zuverlässig als Handlungsnormen erhalten bleiben und auch beibehalten werden.

Wissenschaft ist keine Garantie für „Humanitätsschübe“

Es ist kein Vorwurf gegen die Wissenschaften, wenn man zum Schluss kommt, dass die Menschen offenbar bislang nicht in der Lage waren, die Resultate des Wissens und dessen Veränderungen durch Wissenschaft geistig zu bewältigen. Es ist das drängende Problem unserer Kultur, den Rang der Wissenschaften für unsere Orientierungen zu bestimmen. Wenn die Erfolge in Medizin, Naturwissenschaft und Technik eine neue Weltanschauung produzierten und mit Organtransplantation, Quantenmechanik und Weltraumfahrt neue Wirklichkeiten schufen, so ist in deren Schlagschatten das Gemurmel quälender Fragen zu hören, ob denn alles „gemacht“ werden soll, was wir machen können? Und dass die Erfolge der Wissenschaften die merkwürdige Parallele zum politischen Totalitarismus bilden, lassen wir lieber unerwähnt. Dafür haben wir uns jene Antwort zurecht gelegt, die einmal Kain dem Herrn gab, als er nach dem Verbleib Abels gefragt wurde: Ich bin nicht der Hüter meines Bruders.16

Wissenschaften sind keineswegs die Garantie für „Humanitätsschübe“, wie manchmal behauptet. Es gab Wissenschaften in den Regierungszeiten von Adolf Hitler, Josef Stalin und Mao Tse Tung, die mit den politischen Mächten im guten Einvernehmen waren. Da ist es schon verwunderlich, dass der gleiche Vorwurf weit häufiger die Religionen trifft. Der Unterschied der Vorwürfe ist dort gegeben, wo sich allerdings die Religionen nach anderen Maßstäben messen lassen müssen – nämlich nach ihren eigenen Vorgaben, die sie verletzten. Daraus leitet sich ein den Wissenschaften gegenüber weiterer, unterscheidbarer Sachverhalt ab. Es ist das Einbekenntnis von Schuld, die Bitte um Erbarmen, aber beide kannten die „neuen“ Wissenschaften nicht und sahen sich hier auch nicht in einer Verantwortung für ihre Forschungen. Wissenschaftliche Forschungen und deren Auswirkungen auf Natur, Gesellschaft und Menschen mussten erst vor wenigen Jahren mühevoll erlernen, auch eine ethische Verantwortung zu tragen. Diese Debatte blieb in allen Religionen geübte Praxis und führte von Fall zu Fall zur Revision verübten Unrechts.

Die Verkürzung der Religion: privat und altruistisch

Die Lösung dieser komplexen Verwicklungen war vor etwa 200 Jahren mit dem Rat angeboten worden, dass Religionsbekenntnis eine Privatsache sei, jedoch unvereinbar mit der Vorstellung eines freien Volkes. So hatte es auch Hegel gesehen und die meisten Philosophen nach ihm. Allerdings war die Privatisierung der Religion an Bedingungen geknüpft, über deren Erfüllung Philosophie und Wissenschaften entschieden: Die Lehren der Theologie müssen auf „allgemeiner Vernunft“ begründet sein, müssen die Phantasie und die Sinnlichkeit befriedigen und müssen drittens mit den politischen Kriterien einer Gesellschaft übereinstimmen, ohne dass die sozialen Integrationen irritiert werden.17 So war die Zulassung einer „Volksreligion“ um 1800 in der Philosophie wie ein Konkordat formuliert worden, jedoch gleichzeitig war das Christentum ermahnt worden, dass es mehrheitlich nur der zweiten Forderung nach Sinnlichkeit genügte. Es war eine weitere Komplizierung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben. Somit kann von Gott nur noch in Korrelation zum Menschen als religiösem Subjekt gesprochen werden, jedoch nicht mehr in Beziehung auf sein Wesen selbst. Der Theologie widerfuhr zwar die Ehre, eine Wissenschaft zu sein, so sie sich an der praktischen Vernunft orientiert oder pragmatisch bleibt und ihre Untersuchungen auf die Beziehungen eines Gottesbewusstseins zum Menschen konzentriert und somit Bedürfnisse der Vernunft erfüllt.18 „Volksreligion“ war schließlich für jenen Bereich gerade noch kompetent, wo sie die sozialen Defizite in den Formen von Caritas, von Fürsorge, Alten- und Krankenpflege auszugleichen versuchte. Unter diesen Bedingungen hatten selbst autoritäre Systeme keine großen Schwierigkeiten mit der Anerkennung der „Religion“ und deren Ausübung, noch weniger die positiven Wissenschaften, denen diese Zuwendungen zum Menschen als rätselhafter Altruismus erschien. In dieser Einweisung von „Religion“ in Funktionen bürgerlicher Gesellschaft und in der Eingrenzung auf eine individuelle Praxis erscheint die Kirche im europäischen Kontext entweder ein soziologischer Gegenstand geworden zu sein oder gar als ein historisches Relikt, das den Weg zum individualistisch gedachten „religiösen Subjekt“ eher behindert. Mit dieser Diagnose ist der Erfolg der „freien“ religiösen Bewegungen und Sekten erklärt, die sonderbare Durchdringung des Bewusstseins mit allen möglichen, religiös anmutenden Vorstellungen und modernen Mystizismen: ein in den Wissenschaften pardonierter Aberglaube.19 Damit ist aber der historische Gegensatz keineswegs gelöst.

Nicht was ist, sondern was sein soll

Wir können nun unsere Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und „Religion“ drehen und wenden, wie wir wollen, und werden dennoch kein befriedigendes Ergebnis erzählen. Der Grund dafür liegt am Umstand, dass wir bereits unter „Religion“20 einen aufklärerischen Terminus wählten, der eine ähnliche Zugehörigkeit beschreibt wie etwa die spätere Staatsbürgerschaft, so dass für die Debatten der Gegenstand bereits „präjudiziert“ erscheint. Wie eben Hegel zeigte, war die Entwicklung schon zu weit gediehen, um jene alte Einheit zu restaurieren, die das Mittelalter noch besessen hatte. Die Romantik war genau mit diesem Projekt gescheitert. Es wird auch nicht helfen, eine Vereinigung christlicher Naturwissenschaftler zu gründen, selbst wenn diese ihre Verblüffung eingestehen, bei immer komplexeren Untersuchungen einer „Mystik“ zu begegnen, die natürlich jedem alten Astronomen geläufig war. Da der Einblick in das geheimnisvolle „Räderwerk“ der Natur seit dem Szientismus nicht mehr als Anschauung der Werke Gottes galt, ist die Zivilisation zumindest einer Dimension beraubt worden, die nur ungenügend durch positive Normen von Recht und Moral ersetzt werden konnte. Es war der Preis des Fortschritts. In unserem Fall – sollten wir eine Antwort geben können – wird man wohl ein paradoxes Beispiel wählen müssen, um die Sachlage der Konfrontation zu rekonstruieren.

Nehmen wir an, wir fordern die Person X auf, den Geldmangel durch die Ermordung der Mutter zu beheben. Diese verfügt über Bargeld und Bankeinlagen und ist obendrein alt und gebrechlich. Wir dürfen annehmen, dass X dieses Ansinnen empört zurückweist. Diese heftige Reaktion lässt sich aber nicht hinlänglich begründen. Es wird X nicht mehr einfallen als der Einwand: Das tut man nicht! Jede weitere Begründung kann nämlich entkräftet werden. Dass Mord eine langjährige Kerkerstrafe nach sich zieht, erhöht nur das Risiko, gefasst zu werden, und korreliert mit der Höhe des Barvermögens der Mutter. Schließlich kann es „Kulturen“ geben, in denen Mord mit dieser Erfolgsaussicht zugelassen erscheint, wie es eben im Nationalsozialismus geübte Praxis war. Moralische Erwägungen greifen zu kurz, denn schon ein Ökonom wird in der Abwägung kostspieliger Altersversorgung und jenem Vermögen, das als Investitionskapital verwendet werden kann, eine eindeutige Empfehlung geben. Er kann sich auch einer Moral bedienen, dass der soziale Zweck des Kapitals einem individuellen überlegen ist. Das Leben der Mutter zählt weniger, vor allem wenn ihr Geld im Sparstrumpf steckt, als ein „arbeitendes“ Kapital mit sozialem Nutzen. Obendrein geschehen Morde jeden Tag, doch dieser Raubmord besitzt immerhin eine unwiderlegbare Zweckrationalität.

Wir erlernen recht schnell, dass X diesen Mord emotional ablehnt und es nicht rational begründen kann. Jeder religiöse Mensch steht in diesem Dilemma. Sollte er das 4. Gebot nach Moses ins Treffen führen, können wir ihm antworten, dass er an alte Legenden glaubt und die Ableitung darin enthaltener sittlicher Normen aus einem göttlichen Willen sein persönlicher Aberglaube ist, der historischer Prüfung nicht wirklich stand hält.

Verwenden wir dieses entsetzliche Ansinnen zur weiteren Analyse, werden wir uns darauf einigen können, dass unsere Wirklichkeit zumindest von drei Faktoren bestimmt wird. Da ist einmal der Faktor unserer Kenntnisse, die eine Wissenschaft bildeten, der Alltag und drittens gibt es „Wertvorstellungen“. Mit diesem Begriff umgehen wir bewusst Worte wie „Religion“, „Kult“ oder „Glauben“. Wir sehen, dass alle drei Faktoren independent sind, einander beeinflussen und Veränderungen, Transformationen und Wandlungen verursachen. Wenn Wissenschaft und Technik als höchster „Wert“ angesehen werden, verändern sie unseren Alltag, in dem bislang unser Handeln pragmatisch war. Gewiss hatte einmal die „Religion“ die wissenschaftliche Neugier beflügelt, wie sie eben unseren Alltag über „Wertvorstellungen“ strukturierte und „missionierte“. Allerdings hatten „Religionen“ Gewohnheiten des Alltags zu integrieren, wie sie auch die Erkenntnisfortschritte der Wissenschaften für Korrekturen der „Gottesbilder“ berücksichtigen mussten. Nun erfahren wir aus diesen Prozessen der Penetrationen, dass es Gruppen von Wertvorstellungen gibt, die je einen Bereich dominieren: moralische, ästhetische, pragmatische und religiöse.21 Sie alle beschreiben nicht, was ist, wie die Dinge beschaffen sind, sondern wie es sein soll und was zu tun ist. Gemäß dieser Kategorien werden wir den Mord, so ihn X beging, moralisch als böse verurteilen, jedoch wird der religiöse Mensch ihn als Sünde qualifizieren. Positivisten werden argumentieren, dass Mord sozial schädlich ist, doch auch einräumen, dass unter geänderten Bedingungen ein Verbrechen auch nützlich sein kann. Der religiöse Mensch kann dieser Flexibilität der Beurteilung nicht folgen, bestenfalls kann er die Schwere der Sünde diskutieren.

Eine paradoxe Lösung

Wir sehen, dass sehr reale Dinge über mehrere Dimensionen verfügen, deren Kompetenz auch dann bestehen bleibt, wenn wir meinen, dass ein Urteil durch ein anderes ersetzt werden könne. Da ist gewiss eine Wissenschaftsfeindlichkeit, wie diese verunsicherte Menschen oder Liebhaber der Natur äußern, ebenso sinnlos wie auch der prekäre Alltag der Menschen nicht unsere Ironie verdient. Ebenso sinnlos ist die Abschaffung von Religionen im öffentlichen Bereich oder gar die Entfernung religiöser Symbole, sollten wir diese Schritte als Steigerung von Toleranz oder Quelle unbefangenen Glücks ausgeben. Die Wissenschaften werden wohl nie das unglaubliche Phänomen ergründen, was das Heilige ist, das wichtigste Merkmal Gottes – und zugleich dem Menschen als Talent beigegeben.22 Es ist in unserem Bewusstsein – unabhängig von philosophischen Lehren, von Geschichte, Natur und Wissenschaft. Speziell die Naturwissenschaftler werden sich weiter den Kopf zerbrechen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, wenn sie das Geheimnis des Heiligen zu entschlüsseln trachten, da es so unergründbar ist wie die Liebe. Vermutlich sind die Wissenschaften aus diesem Grund auf die „Religionen“ eifersüchtig, da sie etwas zu haben scheinen, was ihnen stets verborgen bleibt. Deshalb drohte dem Doktor Faust die Verdammnis, weil er unter anderem auch die Liebe Gretchens verriet. Allerdings – im letzten Moment naht die Rettung – trotz Goethe – in der mariologischen Wende. Es ist nicht die Lösung des Problems, doch die dichterische Alternative, die sich diese Freiheit nehmen darf – eine paradoxe Lösung.

Referenzen

  1. Siehe zur Interpretation unter anderem die sehr kritische, doch auch der Aufklärung verpflichtete Analyse bei Lukács G., Faust und Faustus, Rowohlt, Reinbek (1967)
  2. Die Vertauschung des Heiligen mit dem wissenschaftlichen Anti-Heiligen thematisierte hervorragend Rosenstock-Huessy E., Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, Moers. Brendow, München (1955)
  3. Die Kritik an der Kirche, ab dem 18. Jahrhundert zum „Antiklerikalismus“ gesteigert, zählte nicht nur zum Selbstverständnis der neuen Wissenschaften, sondern wanderte schließlich auch in die Politik des aufgeklärten Absolutismus und blieb seither in dieser Form unverändert erhalten. Eine Dokumentation bietet Winter E., Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie, Donauverlag, Wien (1971) und Winter E., Frühaufklärung. Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens, Akademie-Verlag, (Ost-)Berlin (1966)
  4. Die Rede Franz Kardinal Königs am 1. Juli 1968 vor den Nobelpreisträgern hatte den Titel „Die Überwindung des Galilei-Traumas im Verhältnis der Kirche zu den Profanwissenschaften“.
  5. Erstmals war Wissen als „Macht“ von Francis Bacon 1597 in der Vorrede zum „Novum Organum“ apostrophiert worden.
  6. vgl. Kepler J., On the More Certain Foundations of Astrology (1802); ebenso sein Vorwort zum Vierten Buch „Epitome of Copernican Astronomy“ zu: The Harmonies of the World, in: Great Books of the Western World 16, Encyclopedia Britannica, Chicago (1987), p. 843 ff.
  7. siehe Newton I., Mathematical Principles of Natural Philosophy (1686), in: Great Books of the Western World 34, Encyclopedia Britannica, Chicago (1987), p. 5 ff.
  8. Hinweise dazu bei Merton R. K., Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Suhrkamp, Frankfurt (1989)
  9. Needham J., Chinese Science, Pilot Press, London (1945)
    oder Nelson B., Der Ursprung der Moderne: Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozess, Suhrkamp, Frankfurt (1977)
  10. Neuerdings dazu Gerhardt U., Soziologie im 20. Jahrhundert, Steiner, Stuttgart (2009)
  11. Dazu Tenbruck F., Fortschritt der Wissenschaft?; in: Tenbruck F., Perspektiven der Kultursoziologie, Verlag für Sozialwissenschaften, Opladen (1996), S. 158 ff.
  12. vgl. hier Voegelin E., Politik, Wissenschaft und Gnosis, Kösel, München (1959)
  13. Dieses „Projekt“ verfolgten unter der Leitung Friedrich Schlegels und Clemens Maria Hofbauers auch Adam H. Müller in Wien, in Bayern Franz von Baader et. al. und bewog den späteren Bischof Emanuel Ketteler zu einer sozialpolitischen Initiative.
  14. Dazu Riedel M., System und Geschichte. Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie, Rosen, Frankfurt (1973)
  15. Hegel G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: Lasson G. (Hrsg.), Werke I, Meiner, Berlin (1966), S. 4 f.
  16. vgl. Buber M., Bilder von Gut und Böse, Heidelberg (1986)
  17. vgl. Hegel G. W. F., Philosophie der Weltgeschichte, in: Lasson G., Werke IV, Meiner, Berlin (1920), S. 912
  18. vgl. Barth K., Die evangelische Theologie im 19. Jahrhundert, Evangelischer Verlag, Zollikon (1957), S. 71 ff.
  19. vgl. Berger P. L., Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Fischer, Frankfurt (1970)
  20. vgl. diesen Terminus „Religion“ in: Brunner O. et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7. Band, Klett-Cotta, Stuttgart (1992)
  21. vgl. Bochenski J. M., Wege zum philosophischen Denken, Herder, Freiburg (1960); über Wissenschaft: S. 66; zu „Werthaltungen“: S. 76 ff.
  22. Diese Interpretation wieder bei Bochenski J. M., siehe Ref. 21, S. 123

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