Freiheit – eine Illusion meines Gehirns? Ein neurowissenschaftliches Aufklärungsprogramm

Imago Hominis (2009); 16: 317-327
Günther Pöltner

Zusammenfassung

Die These, Freiheit sei eine Illusion, basiert auf einem unzureichenden Freiheits- und Handlungsbegriff: Die sich in der Lebenspraxis manifestierende Freiheit (i. S. eines überlegten Willens) wird in einen beobachtbaren Naturvorgang umgedeutet, Handlungsgründe bzw. Bedingungen mit Ursachen verwechselt. Die antithetisch verstandene Gegenüberstellung von Naturdeterminismus und Freiheit übersieht, dass die leibliche Natur des Menschen Freiheit nicht verhindert, sondern im Gegenteil ermöglicht. Die Hirnforschung kann zwar zu einem besseren Verständnis des Strukturunterschieds zwischen Tätigkeiten eines Menschen und menschlichen Handlungen verhelfen, verstrickt sich aber mit der Aufforderung, man möge sich der die Freiheit leugnenden Illusionsthese anschließen, in einen performativen Widerspruch.

Schlüsselwörter: Freiheit, Handeln, Natur, Determinismus

Abstract

The thesis that freedom is an illusion is based on an incomplete conception of freedom and action. Freedom (in the sense of a considered will), as manifested in the practice of life, is interpreted as an observable natural event, and the motives and conditions of action are mistaken as causal. The confrontation of natural determinism and freedom fails to notice that human nature is not limiting but instead makes freedom possible. Brain research can contribute to a better understanding of the structural difference pertaining to the action of an individual versus human actions per se. However, brain research becomes entangled in a contradiction when it suggests to follow the illusionary thesis of denying freedom.

Keywords: Freedom, Action, Nature, Determinism


Der auf Darwin zurückgehende naturwissenschaftliche Evolutionsgedanke gilt zu Recht als neues Paradigma wissenschaftlicher Forschung. So richtig die unter seiner Führung erzielten Ergebnisse auch sind, die Fruchtbarkeit dieses Gedankens darf nicht blind für das mit jeder naturwissenschaftlichen Forschung verbundene Methodenproblem machen. Aus der komplexen Problematik seien nur zwei Dinge hervorgehoben: (1) die am Anfang jeder Naturwissenschaft stehende Abstraktion und (2) der Stellenwert einer genetischen Fragestellung.

Ad (1) Am Anfang jeder Naturwissenschaft steht nicht die unverkürzte Wirklichkeitserfahrung, sondern eine Abstraktion, die bewusste Ausblendung und Ausklammerung von Wirklichkeitsdimensionen. Durch diese Ausblendung und das bewusste Festhalten an ihr – durch den Methodenvorrang – gewinnt die Naturwissenschaft überhaupt erst ihren Gegenstand. Dieser liegt nicht einfach vor, sondern ist das Resultat einer methodischen Reduktion lebensweltlich bekannter Phänomene auf deren gegenständlich fassbare Bedingungen. Die sogenannten Erfahrungswissenschaften operieren mit einem eingeschränkten Erfahrungsbegriff. Erfahrung ist nur als Experiment, d. h. als methodisch herbeigeführte Erfahrung zugelassen. Die lebensweltliche Erfahrung mit allem, was zu ihr gehört, ist unter naturwissenschaftlichem Gesichtspunkt als Erfahrung ohne Relevanz.

Ad (2) Gerade in einem Darwin-Gedenkjahr ist daran zu erinnern, dass die Bestimmung des thematisch unverkürzten Ausgangsphänomens den Vorrang vor der Erklärung seiner Genese hat. Zuerst muss Klarheit darüber herrschen, was alles zum jetzt Erfahrbaren gehört, dann erst kann die Frage nach dessen Werden bzw. Gewordensein gestellt werden. Eine Unterbestimmung des Gewordenen zieht eine eben solche seiner Werdefaktoren nach sich. Die Naturwissenschaften erklären grundsätzlich immer nur eine methodisch verkürzte Wirklichkeit. Das gilt auch für die naturwissenschaftliche Rekonstruktion von Entstehungsgeschichten. Denn diese ist ebenfalls zur Gänze durch methodische Partialität gekennzeichnet, weil das Werden bzw. Gewordensein ebenfalls nur methodisch verkürzt in den Blick kommen kann. Naturwissenschaft betreibt Bedingungsforschung, der aus methodischen Gründen der Weg zurück zum vorgegebenen Ausgangsphänomen versperrt ist. Mit den Bedingungen eines Phänomens ist weder dieses selbst noch sind mit ihnen die Prinzipien seines Werdens erfasst. Alles, was den Menschen als Menschen betrifft, ist als solches kein naturwissenschaftliches Thema (z. B. Erkennen, Wissenschaft, Freiheit, Sittlichkeit).1

1. Ein neues Aufklärungsprogramm

Waren es in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts einige Biologen, so sind es in jüngster Zeit einige Gehirnforscher, die das methodisch beschränkte Erklärungspotential naturwissenschaftlicher Forschung illegitimerweise mit einem Totalanspruch versehen. U. a. haben Wolfgang Prinz, Wolf Singer, Gerhard Roth ein Aufklärungsprogramm gestartet, das in der Botschaft gipfelt, die menschliche Freiheit sei eine „Illusion“2, „Der Mensch ist nicht frei“3, „Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.“4 „Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen.“5 Dieses Programm beruft sich auf Experimente, die der amerikanische Neurowissenschaftler Benjamin Libet in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts durchgeführt hat und die in der Zwischenzeit weiterentwickelt und im Wesentlichen bestätigt worden sind.

Das Experiment bestand im Niederdrücken eines Knopfes innerhalb eines Zeitrahmens von max. drei Sekunden: „Bei jedem dieser Versuche vollzog die Versuchsperson das plötzliche Schnippen des Handgelenks, wann immer sie sich frei dazu entschloß.“6 Die Versuchspersonen waren aufgefordert, sich den Zeitpunkt zu merken, an dem ihnen die Intention oder der Wunsch, den Knopf zu drücken, zuerst bewusst wurde.7 Mit Hilfe einer Oszilloskop-Uhr8 wurde gemessen, (1) wann den Versuchspersonen nach eigenen Aussagen der Wunsch oder die Absicht des Knopfdrückens bewusst wurde und wann (2) die Muskelaktivität, das Drücken des Knopfes, eingesetzt hat. Dabei zeigte sich, dass dem Einsetzen des bewussten Handlungswunsches jedes Mal eine unbewusste elektrische Veränderung im Gehirn vorausgegangen war. „Freien Willenshandlungen geht eine spezifische elektrische Veränderung im Gehirn voraus (das ‚Bereitschaftspotential’, BP), die 550 ms vor der Handlung einsetzt. Menschliche Versuchspersonen wurden sich der Handlungsintention 350 – 400 ms nach Beginn von BP bewusst, aber 200 ms vor der motorischen Handlung. Der Willensprozess wird daher unbewusst eingeleitet. Aber die Bewusstseinsfunktion kann die Handlung durch ein Veto verbieten. Willensfreiheit ist daher nicht ausgeschlossen.“9

Es sei vorerst dahingestellt, ob die Selbstinterpretation Libets schlüssig ist oder nicht. Einige Neurowissenschaftler haben jedenfalls den entgegengesetzten Schluss gezogen. Weil in diesen Experimenten die spezifisch elektrische Gehirnveränderung („Bereitschaftspotential“) dem „Willensruck“10 vorausgeht, sei der Wille nicht frei, vielmehr werde die Handlung vom Gehirn (Gehirnprozessen) verursacht.11 Der bewusste Willensimpuls, so Prinz, sei so etwas wie das „Ratifizieren einer Entscheidung, die das Gehirn schon getroffen hat: Ich will, was ich tue.“12 Und nicht umgekehrt: Ich tue, was ich will. Roth erklärt, „dass der bewusste Willensakt gar nicht der Verursacher der genannten Bewegung sein könne, weil diese Bewegung bereits vorher durch neuronale Prozesse festgelegt, d. h. kausal verursacht ist.“13 Daher müsse in der Tat gesagt werden: „‚Nicht mein bewusster Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden.’“14 Oder: „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden.“15 Wolfgang Prinz bringt die Sache auf den Punkt, wenn er erklärt: „[…] um festzustellen, dass wir determiniert sind, bräuchten wir die Libet-Experimente nicht. Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat und dass man diese Ursachen finden kann.“16

Wenn dem so ist, sind mindestens zwei Dinge erklärungsbedürftig. (1) Woher stammt die Illusion, ein Freiheitswesen zu sein? (2) Was soll mit unserem Rechtssystem geschehen, das den Menschen als der Verantwortung fähiges Wesen, d. i. als Freiheitswesen zur Voraussetzung hat?

Die von Wolf Singer stammende Antwort auf die erste Frage besteht aus zwei Teilantworten: Sie beruft sich (a) auf das asylum ignorantiae und (b) auf das Vergessen von Zuschreibungen. Weil die unser Handeln determinierenden Gehirnvorgänge uns „verborgen bleiben“, gewinnt die im Bewusstsein aufscheinende Entscheidung den Anschein, sie sei „nicht verursacht“.17 Da wir nun aus Erfahrung wissen, „dass nichts ohne Ursache ist“, setzen wir an die Stelle der verborgen bleibenden Gehirnvorgänge den Willen als Ursache ein.18

Die zweite Teilantwort lautet: Die Idee der Freiheit ist uns in früher Kindheit von unseren Erziehungspersonen zugeschrieben worden. Wir sind im Sozialisationsprozess gewissermaßen daraufhin trainiert worden, uns für frei zu halten. Weil wir das aber vergessen haben, Opfer einer „frühkindliche[n] Amnesie“ sind, halten wir uns jetzt fälschlicherweise für frei.19

In der Antwort auf die zweite Frage, d. i. diejenige nach den Konsequenzen für das Rechtssystem, zeigt sich die Unhaltbarkeit des Erklärungsanspruchs. Es unterbleibt die Reflexion auf die Diskrepanz zwischen gelebtem und neurowissenschaftlich erklärtem Leben. Wer menschliche Freiheit als Illusion erklärt, müsste konsequenterweise auch unser Rechtssystem für illusionär erklären. Denn wenn Handlungen bloße Ratifizierungen von Gehirnprozessen und Menschen demnach die Ausführungsorgane dieser Prozesse sind, wäre es absurd, sie gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Gerichtstätigkeit bestünde ja ebenfalls in bloßen Ratifizierungen von Gehirnprozessen, nur eben anders verlaufenden, nämlich derjenigen der Richter. Auf die Frage, ob wir nicht unser Rechtssystem abschaffen müssten, antwortet Prinz: „Wir müssen keineswegs, solange wir die Inkompatibilität der alltagspsychologischen Intuitionen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse aushalten können.“20 Allerdings, so Prinz weiter, könnten wir auch ein anderes Rechtssystem aufstellen, das z. B. Zahlungen für zugefügten Schaden vorsieht, „ohne dass man dem Handelnden Freiheit und Schuldfähigkeit unterstellt“.21 Die Antwort ist inkonsequent, weil sie genau das in Anspruch nimmt, was sie vorher geleugnet hat. Sich zum Aushalten von Inkompatibilitäten entscheiden oder ein anderes Rechtssystem etablieren, sind – Freiheitsvollzüge, wie im übrigen auch das Aufstellen von freiheitsleugnenden Theorien.

2. Kritische Anfragen

So selbstbewusst dieses Aufklärungsprogramm auftritt, so fragwürdig ist es. Wir übergehen die problematische Verkürzung menschlicher Entscheidungen auf ein „plötzliches Schnippen des Handgelenks“ (Libet). Die Entscheidung zu handeln ist ja in Wahrheit schon vorher gefallen, als sich die Versuchspersonen entschlossen hatten, aus welchen Gründen auch immer, an dem Experiment teilzunehmen. Ihnen wurden genaue Verhaltensweisen vorgegeben, auf die sie sich dann vor dem Beginn des Experiments zu konzentrieren hatten. Nach Habermas könnte das Bereitschaftspotential durchaus diese Phase widerspiegeln.22 Das trifft aber noch nicht den entscheidenden Punkt. Die Fragwürdigkeit betrifft die unreflektiert bleibenden Voraussetzungen des Experiments. Zwei solcher Voraussetzungen seien im folgenden näher untersucht. (1) Der Freiheitsbegriff, der den neurowissenschaftlichen Experimenten zugrunde liegt, (2) der Gegensatz von Freiheit und deterministischer Natur.

2.1 Der vorausgesetzte Freiheitsbegriff

2.1.1 Umdeutung von Freiheit in einen beobachtbaren Naturvorgang

Wer die menschliche Freiheit auf den experimentellen Prüfstand stellt, muss sich vorher über den Freiheitsbegriff Rechenschaft geben, den er seinem Experiment als Leitidee zugrunde gelegt hat. Bevor noch der allererste Schritt des Experiments getan wird, muss gefragt werden, ob die Leitidee sachlich angemessen ist, d. h. auch wirklich Freiheit und nicht etwas anderes zu ihrem Inhalt hat. Welche Instanz entscheidet über die sachliche Angemessenheit der Leitidee? Nicht das Experiment, denn dieses kann nur deshalb durchgeführt werden, weil dessen Untersuchungsgegenstand dem Experimentator schon von anderswoher vertraut ist, was nicht schon heißen muss, von ihm methodisch-kritisch reflektiert ist.

Freiheit ist ein Datum unserer lebenspraktischen Erfahrung im Miteinandersein. Hier – im lebensgeschichtlichen Umgang miteinander – zeigen sich Freiheitsphänomene wie Verantwortung, Schuld, Verzeihung, Lob, Tadel. Hier ist der Ort der Institutionen, die für die Verwirklichung der Freiheit unabdingbar sind, wie z. B. die Institution des Rechts. Über die Sachangemessenheit eines Freiheitsbegriffs entscheidet nicht das neurowissenschaftliche Experiment, sondern die lebenspraktische Freiheitserfahrung. Sie muss sich in einem methodisch-kritisch reflektierten Freiheitsbegriff wiederfinden können und durch ihn zu vertieftem Selbstverständnis kommen können.

Genau das aber ist nicht der Fall. Die dem neurowissenschaftlichen Aufklärungsprogramm zugrundeliegende Leitidee ist das Resultat einer Uminterpretation: Sie hat menschliche Freiheit von vornherein in einen beobachtbaren Naturvorgang, d. h. in ein Ereignis umgedeutet, das zu Antezedensbedingungen in einem naturgesetzlich beschreibbaren Abhängigkeitsverhältnis steht. Auf den Zustand A folgt nach dem Gesetz G der Zustand B (Hempel-Oppenheim-Schema). Die Umdeutung ist kritisch motiviert. Sie möchte die Vorstellung entkräften, Freiheit sei eine reine, unbedingte Spontaneität, die aus allen Naturzusammenhängen herausgelöst ist und ihnen antithetisch gegenübersteht.

Die Umdeutung basiert auf der Unterscheidung zweier Perspektiven: der Erste-Person-Perspektive und der Dritte-Person-Perspektive, der Beobachterperspektive. Bei Wolf Singer heißt es: „Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben […] lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.“23 Nun lassen sich Handlungen gewiss objektivieren, nur muss man sich dabei bewusst bleiben, dass mit ihrer Objektivierung genau das eliminiert wird, was das menschliche Handeln als Handeln ausmacht: ein willentlicher, von Gründen bestimmter, d. i. ein motivierter Selbstvollzug eines Menschen zu sein.

An dieser Stelle ist an eine wichtige Unterscheidung zu erinnern. Nicht alles, was Menschen tun, sind schon menschliche Vollzüge im strengen Wortsinn (actus humani). Nur diejenigen Vollzüge, die den Menschen selbst zum Urheber haben, seiner Initiativkraft entsprungen sind, sind menschliche Vollzüge. Andere Tätigkeiten, die einem Menschen zugeschrieben werden können – wie z. B. das Atmen, zwanghafte Verrichtungen, Suchtverhalten –, sind zwar Verhaltensweisen des Menschen (actus hominis), aber nicht solche, die er als er selbst verantwortet. Sie geschehen ohne sein Zutun. Weshalb wir dann sagen, er kann nichts dafür. Und es ist nicht das begleitende Bewusstsein, das eine menschliche Handlung als menschliche auszeichnet. Ich atme z. B., wenn ich bei Bewusstsein bin, deshalb ist das Atmen aber keine freie Handlung. Nur diejenigen Vollzüge sind menschliche, d. h. freie Vollzüge, die aus willentlicher Überlegung hervorgehen (quae ex voluntate deliberata procedunt).24 „Frei ist nur der überlegte Wille.“25

2.1.2 Ursachen und Gründe

Freies Handeln ist mannigfach bestimmt (und so gesehen determiniert). Es ist ein von Gründen (= Beweggründen, Motiven) bestimmter Vollzug. Welche Gründe es sind, die für verbindlich erachtet werden, hängt von den Überlegungen ab, die wir angestellt haben, davon ab, wie wir mit uns selbst zu Rate gegangen sind, hängt weiters ab von soziokulturellen und naturalen Bedingungen wie z. B. Erziehung, Veranlagung, Charakter, von Grundentscheidungen (Entscheidungen für einen Partner, für einen Beruf). Handeln heißt nicht nur: etwas so oder anders tun, sondern auch tun oder unterlassen können. Auch das motivierte Unterlassen ist eine Form des Handelns. Frei ist, wer auch anders kann. Das schließt eine uns vorgegebene naturale Dynamik, ein „Gerichtet-sein auf“ nicht aus, sondern im Gegenteil ein. Ohne solch ein „Aus-sein-auf“26 gäbe es keine Wahlfreiheit. Wir wüssten gar nicht, was wir wollen sollen. Menschliche Zwecksetzung setzt Ziele voraus, die sich nicht einer menschlichen Zwecksetzung verdanken.

Aber die unser Handeln bestimmenden Gründe sind keine Ursachen. Sie bestimmen uns nicht zwanghaft. Nur wo wir uns genötigt erfahren, anders, d. h. gegen unsere für richtig erachteten Überlegungen zu handeln, reden wir von Unfreiheit. Die Gründe bestimmen uns, indem wir uns von ihnen bestimmen lassen. Sie gewinnen ihre handlungsmotivierende Kraft in diesem Lassen. Sie nötigen uns nicht, sondern binden uns, indem wir uns an sie binden und sie uns zu eigen machen. Nur so sind wir selbst die Urheber unserer Handlungen. Wir selbst handeln – nicht etwas in uns und an unserer Stelle. Gewiss gibt es die Möglichkeit, durch Manipulation Menschen dazu zu bringen, dass sie tun, was Dritte von ihnen wollen (Hypnose, Gehirnwäsche, pharmakologische Einwirkungen). Und gewiss gibt es Vollzüge, die wir fälschlicherweise uns selbst zuweisen. Man kann sich bezüglich der eigenen Urheberschaft täuschen. Aber das zeigt bloß, dass die Möglichkeit besteht, jemanden in seiner Urheberschaft auszuschalten. Und die Möglichkeit, sich bezüglich der eigenen Urheberschaft zu täuschen, berechtigt noch nicht zur prinzipiellen Schlussfolgerung, das Handeln aus eigener Initiativkraft sei eine Illusion. Solch eine Schlussfolgerung verstrickt sich in einen performativen Widerspruch.

Dass die den neurowissenschaftlichen Experimenten zugrundeliegende Freiheitsidee genau das eliminiert hat, was das Handeln als Handeln ausmacht, zeigt die Wortwahl. Das beginnt schon damit, dass die unhintergehbare lebenspraktische Freiheitserfahrung, die unser Miteinanderleben trägt, als Alltagspsychologie ausgegeben und damit zu einer bloßen Vorstufe herabgesetzt wird, die in der wissenschaftlichen Psychologie überwunden ist. Roth behauptet, „[…] dass die klassisch-philosophische wie auch alltagspsychologische Aussage ‚Mein Arm und meine Hand haben nach der Kaffeetasse gegriffen, weil ich dies so gewollt habe’ nicht richtig ist“.27 Dieser Satz ist in der Tat nicht richtig, aber aus anderen Gründen als den angeführten. Dieser Satz ist weder eine klassisch-philosophische (welche?) noch eine alltagspsychologische Aussage, sondern Ausdruck einer vergegenständlichenden Einstellung, die den eigenen Leib zu einem beobachtbaren Gegenstand distanziert. Er ist Ausdruck einer methodischen Selbstausschaltung, die vergessen hat, auf ihre eigenen Ermöglichungsbedingungen zu reflektieren. In dem zitierten Satz betrachtet der Sprechende seinen Leib als einen beliebigen Gebrauchsgegenstand, zu dem er in einer Art Eigentumsverhältnis steht. Zwischen „mein Arm“ und „meine Kaffeetasse“ liegt kein semantischer Unterschied mehr. Der Sprechende lässt unausgesprochen, dass er selbst als leibliches Wesen es ist, der diese Selbstausschaltung vornimmt. Es greift weder mein Arm noch meine Hand nach der Kaffeetasse, sondern ich hebe meinen Arm und greife nach der Tasse. Und mein Arm führt auch nicht eine Greifbewegung aus, weil ich es so gewollt habe. Nicht will ich, dass mein Arm nach der Kaffeetasse greift, sondern ich greife willentlich nach der Tasse. Ich greife nach ihr, nicht aber mein Ich. Wer meint, von seinem Ich reden zu müssen, hat zu fragen vergessen, wer denn das sagt: mein Ich.28 Dasselbe gilt von der Rede „Das (oder mein) Gehirn entscheidet“.

Hier ist auf Libets eingangs zitierte Schlussfolgerung zurückzukommen: Der Willensprozess werde vom Gehirn unbewusst eingeleitet, kann aber von der Bewusstseinsfunktion in Form eines Veto noch gesteuert werden. In diesem Modell hat die Bewusstseinsfunktion nur die Stellung eines Kontrollorgans, das einen von ihm nicht initiierten und ohne sein Zutun dahinrollenden Ereignisstrom aufhält oder weiterrollen lässt. Handeln wird auf die Modifikation fremd-initiierter Abläufe reduziert. Unreflektiert bleibt, dass Handlungen motivierte Selbstvollzüge eines Menschen sind. Handlungen sind meine oder deine, d. h. sie haben mich selbst und nicht etwas Fremdes zum Ursprung.

Handeln folgt zwar Gründen, diese sind aber nicht die Urheber der Handlung, sondern derjenige, der sich von ihnen motivieren lässt. Es liegt eine zweifache Verfälschung vor, wenn nicht nur eine Armbewegung einem sie verursachenden Ich gegenübergestellt, sondern auch davon gesprochen wird, in den neurowissenschaftlichen Experimenten werde die mögliche „mentale Verursachung von Willenshandlungen untersucht“.29 Handlungen lassen sich nicht auf mentale Zustände als deren Ursachen zurückführen. Denn das würde bedeuten, dass Zustände die handelnden Subjekte wären und an meiner Stelle Handlungen ausführten. Wer handelt, verursacht nicht Vollzüge, sondern vollzieht sich selbst. Die neurowissenschaftlichen Experimente eliminieren das Handlungssubjekt, sie verschweigen, dass es jedesmal jemand ist, der oder die handelt. Mit Recht bemerkt Gerd Haeffner: „Im Übrigen liegt wohl schon in der Ansetzung des Fragens, Denkens, theoretischen und sittlich-praktischen Urteilens, usw. als mentalen ‚Ereignissen’ und ‚Vorgängen’ ein naturalisierender Objektivismus. Denn weder meine Frage noch deine Frage ist für mich ein ‚Vorgang’, dessen Verlauf ich beobachte und den ich in das allgemeine Raum-Zeit-Kontinuum einordne. Wenn sie dazu gemacht wird, ist sie als Frage schon ausgeschaltet und zu etwas Anderem gemacht worden. Und das heißt, dass alles Weitere nicht mehr von ihr, sondern höchstens von etwas an ihr handelt.“30

Als Beispiel, wie schwer oder gar unmöglich es für manche Neurowissenschaftler ist, ihre eigene lebenspraktische Erfahrung auch in der Theorie ernstzunehmen, und wie unempfindlich sie für den Widerspruch sind, der zwischen ihrem Verhalten als Mensch und als Wissenschaftler ist, kann Roths Erklärung des Unterschieds von Gründen und Ursachen dienen.

Nach ihm sind Gründe „die bewusste Erlebnisform von Gehirnprozessen“, „der ‚innere’, erlebte Aspekt, Ursachen der ‚äußere’ neurophysiologische Aspekt eines umfassenderen Dritten, das ganz offenbar deterministisch abläuft, uns aber grundsätzlich verschlossen ist“.31 Freiheit ist damit nur ein anderer Name für das asylum ignorantiae. Darüber hinaus fragt es sich, woher die Kunde über die offensichtlich deterministische Verfasstheit jenes Dritten stammt, wo es uns doch grundsätzlich verschlossen ist.

Sodann heißt es, man könne Gründe nicht nur als „die bewusste Erlebnisform von Gehirnprozessen“, sondern auch in einem anderen Sinn verstehen, nämlich als Erklärungsweisen eigener Handlungen sich selbst und anderen gegenüber, die wir aufgrund eines soziokulturell vermittelten „Erklärungs- und Legitimationszwang[s]“ aufstellen.32 „Wir handeln aus Ursachen, aber wir erklären dieses Handeln mit Gründen.“33 Die simple Gegenfrage an diese These lautet: Was hat es mit der Möglichkeit auf sich, Handlungsgründe auch anders verstehen zu können? Für wen besteht diese Möglichkeit? Man würde meinen, für uns selbst, die wir darüber nachdenken, was es mit Handlungsgründen auf sich hat. Nach Roth sind wir selbst jedoch ein Ensemble subjektiver Erlebniszustände: „Der Aufweis der neuronalen Bedingtheit subjektiver Erlebniszustände löscht nicht deren Existenz aus. Das wäre auch schade, denn wir sind schließlich diese Zustände.“34 Gewiss gibt es so etwas wie subjektive Erlebniszustände. Nicht aber gilt: Ich bin diese Zustände, sondern ich befinde mich in solchen Zuständen. Subjektive Zustände sind jemandes Zustände. Wir unterhalten uns nicht mit Zustandsensembles, sondern mit Mitmenschen.

2.1.3 Experimentelle Erfaßbarkeit von Freiheit

Was die experimentelle, naturwissenschaftliche Erfassbarkeit menschlicher Freiheit betrifft, ist an das oben Gesagte zu erinnern. Gewiss: Menschliche Vollzüge wie die von Wolf Singer aufgezählten „lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren“.35 Nur muss man sich bewusst bleiben, was man in der Dritte-Person-Perspektive zu Gesicht bekommen kann und was nicht. Handlungen (wie z. B. Entscheiden, Wählen) sind uns als Handlungen – und nicht als etwas anderes! – einzig in der Erste-Person-Perspektive, genauer: der mitmenschlichen Perspektive erschlossen. Was handeln heißt, Absichten und Ziele verfolgen, das ist mir aus der eigenen Lebenspraxis vertraut, nicht aber zeigt sich mir das in einer gehirnphysiologischen Untersuchung – und zwar grundsätzlich nicht. Absichten sind keine beobachtbaren Vorkommnisse. Werden Handlungen in der Dritte-Person-Perspektive objektiviert, kommen sie nicht als Handlungen, sondern immer nur in ihrer naturalen Bedingtheit in den Blick.

Dass Handlungen auch naturale Bedingungen haben, ist nichts Neues. Neu ist die naturwissenschaftliche Erkenntnis, wie komplex sie sind. Hier liegt der positive Beitrag der Hirnforschung. Sie kann uns helfen, den Strukturunterschied zwischen Tätigkeiten eines Menschen und menschlichen Handlungen besser zu verstehen. Das wäre auch der positive Beitrag dieser Forschungen im Kontext einer Strafrechtsdiskussion.

Bei den Bedingungen ist zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu unterscheiden. Das Gehirn mag eine notwendige Bedingung personaler Weltoffenständigkeit sein, die hinreichende Bedingung ist es nicht. Die ist der Leib als ganzer. Nicht das Gehirn ist Wesensmedium der Weltoffenständigkeit, sondern der Leib. Der Gegensatz von „Gehirn – Geist“ stellt eine unzulässige Problemverkürzung dar.

Bedingungen sind aber keine Ursachen, sie verursachen nicht das von ihnen Bedingte – in unserem Fall: menschliche Freiheitsvollzüge. Ich kann zwar ohne funktionstüchtiges Gehirn weder wahrnehmen noch Entscheidungen treffen, aber mein Gehirn verursacht weder meine Wahrnehmungen noch meine Entscheidungen. Anderenfalls würde das Gehirn wahrnehmen und Entscheidungen treffen – was schon Aristoteles zu Recht als Sprachmissbrauch gebrandmarkt hat.36 Es ist erstaunlich, wie unbekümmert Neurowissenschaftler (und nicht nur sie) davon reden, das Gehirn würde kodieren, verknüpfen, Entscheidungen treffen usw. – und im selben Atemzug auf sich selbst als Subjekte rekurrieren („wir“ haben vergessen, „ich schlage vor“, „wir kommen zu unerschütterlichen Überzeugungen“)37. Die Gehirnmythologie, der sie sich verschreiben, bereitet ihnen offenkundig keine Schwierigkeit. Wer stellt die Illusionstheorie der Freiheit auf? Das Gehirn Herrn Singers oder Herr Singer? Wer sagt denn „mein“ Gehirn? Unterhalten sich Gehirne, die ja nach Singer „dialogfähig“ sein müssen,38 miteinander, oder unterhalten sich Menschen über Sinn und Unsinn neurowissenschaftlicher Erklärungen menschlicher Freiheit? Sind Gehirne oder Menschen dialogfähig? Zu sagen, es handle sich bei der Einsetzung des Gehirns als Handlungssubjekt bloß um sprachliche Abbreviaturen, und das sei natürlich nicht wortwörtlich gemeint – das verbietet sich. Man soll vielmehr gleich sagen, wie es pünktlich und genau gemeint ist. Die Instanz, welche die Selbstzuschreibung ‚mein Gehirn’ vornimmt, ist nicht einfachhin mein Gehirn – anderenfalls hätten wir zwei Subjekte: ich selbst (NICHT: das Ich!) und mein Gehirn. So aber verstehen wir uns nicht in unserer Lebenspraxis. Nicht die theoretische Abschaffung des Menschen als eines handlungsfähigen Wesens hat den Primat, sondern das lebenspraktische Selbstverständnis, in dem wir einander als verantwortungsfähige Wesen begegnen. Dieses gilt es methodisch-kritisch zu begreifen, nicht aber wegzuerklären.

Die neurowissenschaftliche Erklärung menschlichen Freiheitsverständnisses erkauft sich den Anschein ihrer Plausibilität durch eine Sprachpolitik: Indem sie die Gehirnaktivitäten in personalen Kategorien beschreibt, kann sie das Gehirn Freiheitsvollzüge produzieren lassen.

2.2 Der Gegensatz von Freiheit und deterministischer Natur

Die neurowissenschaftlichen Experimente und Erklärungen gehen aus von der Alternative „Freiheit – deterministisch verfasste Natur“. (Siehe die weiter oben erwähnte Feststellung von Prinz betreffend die Entbehrlichkeit der Libet-Experimente: Freiheit sei „mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren.“39) Abgesehen davon, dass diese Behauptung sich in einen performativen Widerspruch verwickelt, weil wissenschaftliche Überlegungen Freiheitsvollzüge sind und also von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Freiheit mit wissenschaftlichen Überlegungen keine Rede sein kann, ist die Alternative noch aus einem anderen Grund so nicht haltbar.

Die Alternative übersieht, dass die Einnahme des Beobachterstandpunkts eine Weise ist, sich in der Erste-Person-Perspektive aufzuhalten, und dass die naturwissenschaftlich objektivierte Natur ein Kulturprodukt ist. Dazu zwei kurze Bemerkungen:

2.2.1 Unzureichende Alternative

Die neurowissenschaftliche Alternative von Erste-Person-Perspektive und Dritte-Person-Perspektive greift zu kurz. Sie erzeugt den Anschein, als ob es nur um die Frage einer Umformulierung von Sätzen der ersten Person ohne Sinnverlust in Sätze der dritten Person ginge (Innenperspektive versus Außenperspektive). Man kann die Beobachterperspektive nur einnehmen, indem man an ihr in der Erste-Person-Perspektive teilnimmt. Die Teilnehmerperspektive ist durch die Beobachterperspektive prinzipiell nicht ersetzbar. Dabei ist auch diese Gegenüberstellung (= Erste und Dritte Person) unzureichend: Mit ihr entfällt die Zweite-Person-Perspektive. Die grammatikalisch erste Person ist ontologisch gesehen die zweite Person. Wir sind primär die Angesprochenen, kommen einzig in der Welt Anderer, in der liebenden Annahme Anderer (sei sie noch so gering) zu uns selbst. Wir sind primär Du der Anderen. Beide Perspektiven (Erste Person und Dritte Person) sind auf die Teilnehmerperspektive angewiesen. Das mitmenschliche Verhältnis unterläuft die Alternative. Wer du bist, erschließt sich in der Teilnahme. Erst wo die Teilnahme verlassen wird, eröffnet sich die Differenz von erster und dritter Person. – Dazu kommt, dass die Beobachterperspektive der Dritten Person ohne Teilnahme gar nicht eingenommen werden kann. Wie anders wollen sich denn die Forscher miteinander verständigen? Wie anders kann es zu einer sogenannten Forschergemeinschaft kommen? Denn nochmals: Die Gesprächspartner haben nicht einem Gehirn Fragen gestellt, sondern Wolfgang Prinz, und es hat nicht Wolfgang Prinzens Gehirn das Gespräch über menschliche Freiheit40 geführt, sondern Wolfgang Prinz – oder etwa nicht? (Woher die Weigerung, diesen simplen Befund auch theoretisch ernstzunehmen?) Schließlich muss sich der Neurowissenschaftler mit der Versuchsperson verständigen, damit er überhaupt erfahren kann, welche Gehirnprozesse mit welchen sog. „subjektiven Erlebnissen“ korrelieren. Und die Versuchsperson muss willens sein, bekannt zu geben, was sie bei welcher messbaren Gehirnaktivität wahrnimmt.

2.2.2 Physikalische Natur – leibliche Natur

Die Ausgangsthese, Freiheit müsse schon deshalb illusionären Charakters sein, weil sie sich mit dem Naturdeterminismus nicht verträgt, hat etwas Entscheidendes außer acht gelassen. Sie identifiziert Natur mit physikalischer Natur und verschweigt, dass die physikalische Natur eine Folgeerscheinung der für jede Naturwissenschaft konstitutiven Anfangsabstraktion ist. Sie zeigt ihr deterministisches oder indeterministisches physikalisches Gesicht nur für ein Freiheitswesen, nämlich unter einer ganz bestimmten Voraussetzung, die nur ein Freiheitswesen festlegen kann: unter der Voraussetzung nämlich der methodischen Selbstausschaltung des Physik treibenden Menschen als eines leiblich-personalen Wesens. Durch diese Selbstausschaltung wird methodisch genau dasjenige ausgeblendet, worauf es ankommt. Dass nämlich die leibliche Natur die positive Ermöglichung menschlicher Freiheit ist. Schließlich bin ich mein Leib, indem ich ihn habe. Die Natur in Gestalt meines Leibes bildet keine Antithese zu meiner Freiheit, sondern ermöglicht sie. Wenn man schon von Kausalität reden will, müsste man damit ernst machen, dass das sachlich erste und unhintergehbare Phänomen von Kausalität die menschliche Freiheit ist. Andere Begriffe von Kausalität können nur von ihr her und auf sie hin gebildet werden.

Die Frage der menschlichen Freiheit ist daher nicht an die indeterministische physikalische Interpretation des Mikrokosmos geknüpft. Sie ist auch keine Frage der Voraussagbarkeit bzw. Nicht-Voraussagbarkeit (voraussagbar = nicht frei, nicht voraussagbar = frei).

Die Frage nach Kompatibilität oder Inkompatibilität von Freiheit und Natur (= physikalisch erfassbarer Natur) ist eine falsch gestellte Frage („Sind wir vollständig durch die deterministische Natur physikalischer Gesetze bestimmt?“41). Die Frage lautet nicht, wie sich angesichts von Naturkausalität die Entstehung eines Freiheitsbewusstseins erklären lasse, sondern wie angesichts der lebenspraktischen Freiheitserfahrung Naturkausalität zu denken ist. Schließlich hat die naturwissenschaftliche Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema Handlungen zu seiner Voraussetzung. Erstens ist uns die Natur in ihrer Gänze niemals gegeben. Womit wir es zu tun haben, sind allemal von uns selbst getroffene Ausschnitte. Zweitens setzt das Finden von Ursachen ein Handeln voraus. Man muss den Ausgangszustand (A) ändern, also handelnd eingreifen, um herausbringen zu können, ob A Ursache für den Endzustand E ist, was der Fall wäre, wenn sich mit A auch E änderte.

Schließlich besteht die neurowissenschaftliche These vom illusionären Charakter der Freiheit nicht den Selbstanwendungstest. Wäre sie wahr, hätte sie vor ihrem Gegenteil nichts voraus. Die gegenteilige These wäre genauso von Gehirnen erzeugt wie sie selbst – nur eben von anders programmierten. Es gäbe keine Wahrheitsansprüche, die Zustimmung erheischen. Genau das aber tun die Verfechter der Illusionsthese. Die eingangs genannten Neurowissenschaftler fordern uns ja auf: Wir sollen aufhören von Freiheit zu reden, also die Leugnung der Freiheit zum Motiv machen. Solch eine Aufforderung ist sinnlos, weil deren Adressaten ja auch nicht anders können, als für die Freiheit zu votieren – wie die Deterministen nicht anders können, weil sie von deren Gehirnen dazu programmiert sind.

Woher die Attraktivität, die die Illusionsthese für viele besitzt? Zweierlei Antwort legt sich nahe. Erstens befriedigt sie eine nach wie vor verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit. Sie kommt einer naturwissenschaftlich dominierten Weltsicht entgegen, weil sie den Anschein besitzt, ohne sog. ‚metaphysische Hintergrundannahmen’ auszukommen. Das ist freilich ein bloßer Anschein. In Wahrheit basiert die neurowissenschaftliche Interpretation menschlicher Freiheit auf einer „verdinglichte[n] Ontologie“42, über deren Berechtigung nicht mehr reflektiert wird. Die neurowissenschaftliche Erklärung lebt von einer sachlich unangemessenen Beschreibung menschlicher Phänomene.

Zweitens bietet sie ein neue Form von Entlastungsstrategie an: Man selbst ist es nicht gewesen – schließlich ratifiziert man ja nur Entscheidungen, die das Gehirn getroffen hat.

Schlussbemerkung: Die Provokation der neurowissenschaftllichen Experimente hat etwas Positives: Sie fordert uns auf, Vorstellungen nicht mit dem zu verwechseln, was uns unsere lebensgeschichtlichen Erfahrungen in Wahrheit zu denken geben.

Referenzen

  1. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die sich als naturwissenschaftliche Antwort auf philosophische Fragen versteht, erklärt keineswegs menschliches Erkennen. Nach ihr lasse sich das „ontogenetische Apriori“ des Erkennens als „phylogenetisches Aposteriori“, d. h. als einen in der Stammesgeschichte erfolgreich verlaufenen Anpassungsprozess von subjektiven Denkstrukturen an die jeweils objektiven Wirklichkeitsstrukturen erklären. Diese Theorie verschreibt sich einer materialistischen Kausaltheorie des Erkennens und gewinnt den Anschein einer Erklärung deshalb, weil sie die angeblich die Erkenntnis verursachenden Prozesse bereits in Erkenntniskategorien beschreibt. Genaueres findet sich in: Pöltner G., Evolutionäre Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie, Kohlhammer, Stuttgart (1993)
  2. Singer W., Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Geyer C. (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Suhrkamp, Frankfurt/Main (2004), S. 30-65; hier: S. 50
  3. Prinz W., Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Geyer C., siehe Ref. 2, S. 20-26; hier: S. 20
  4. Singer W., siehe Ref. 2, S. 30
  5. Roth G., Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Geyer C., siehe Ref. 2, S. 218-222; hier: S. 218
  6. Libet B., Haben wir einen freien Willen?, in: Geyer C., siehe Ref. 2, S. 268-289; hier: S. 275
  7. Bei dem Experiment ging es um die Frage: „Wann tritt der bewußte Wunsch oder die bewußte Absicht (die Handlung auszuführen) auf?“ (Libet, in Geyer 2004, 272). Die Versuchspersonen hatten die Uhrzeit zu berichten, „zu der sie zuallererst das Bewußtsein des Wunsches oder Drangs zu handeln“ hatten (Libet B., siehe Ref. 6, S. 273). Es ging um den Zeitpunkt des „ersten Bewußtseins des Handlungswunsches“ (Libet B., siehe Ref. 6, S. 273).
  8. Die Funktionsbeschreibung findet sich bei Libet B., siehe Ref. 6, S. 274.
  9. Libet B., siehe Ref. 6, S. 268
  10. Roth G., siehe Ref. 5, S. 219
  11. Libet zieht aus den Experimenten einen anderen Schluss: „Die Rolle des bewußten freien Willens wäre also nicht, eine Willenshandlung einzuleiten, sondern vielmehr zu kontrollieren, ob die Handlung stattfindet. Wir können die unbewußten Initiativen zu Willenshandlungen als ein ‚Hochsprudeln’ im Gehirn verstehen. Der bewußte Wille entscheidet dann, welche dieser Initiativen sich in einer Handlung niederschlagen soll oder welche verhindert und abgebrochen werden sollen, ohne dass es zur Handlung kommt“ (Libet B., siehe Ref. 6, S. 282).
  12. Prinz W., siehe Ref. 3, S. 22
  13. Roth G., Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Geyer C., siehe Ref. 2, S. 66-85; hier: S. 73
  14. Roth G., siehe Ref. 13, S. 73
  15. Roth G., siehe Ref. 13, S. 77
  16. Prinz W., siehe Ref. 3, S. 22
  17. Singer W., siehe Ref. 2, S. 50
  18. Singer W., siehe Ref. 2, S. 50
  19. Singer W., siehe Ref. 2, S. 51
  20. Prinz W., siehe Ref. 3, S. 26
  21. Prinz W., siehe Ref. 3, S. 26
  22. Habermas J., Freiheit und Determinismus, in: Habermas J., Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp, Frankfurt/Main (2005), S. 155-186; hier: S. 159
  23. Singer W., siehe Ref. 2, S. 35
  24. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, 1,1
  25. Habermas J., siehe Ref. 22, S. 160
  26. Thomas spricht von „inclinationes naturales“, Summa Theologiae I-II, 94, 2
  27. Roth G., siehe Ref. 13, S. 73
  28. Roth behauptet, der Satz „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden“, sei korrekt (Roth G., siehe Ref. 13, S. 77). Die erste Satzhälfte trifft zu, nicht aber die zweite.
  29. Roth G., siehe Ref. 13, S. 76
  30. Haeffner G., Philosophische Anthropologie, 3. Auflage, Kohlhammer, Stuttgart (2000), S. 213
  31. Roth G., siehe Ref. 13, S. 82
  32. Roth G., siehe Ref. 13, S. 82
  33. Roth G., siehe Ref. 13, S. 82
  34. Roth G., siehe Ref. 5, S. 222
  35. Singer W., siehe Ref. 2, S. 35
  36. Aristoteles, De anima I, 408 b
  37. „Die Gehirne müssen in der Lage sein, abstrakte Relationen symbolisch zu kodieren und syntaktisch zu verknüpfen. sind diese Voraussetzungen erfüllt, können sich Dialoge der eben skizzierten Art zwischen Gehirnen entwickeln. Gehirne können sich dann in der Wahrnehmung des Gegenübers spiegeln, und ich schlage vor,…“ (Singer W., siehe Ref. 2, S. 48 f.).
  38. Singer W., siehe Ref. 2, S. 48
  39. Prinz W., siehe Ref. 3, S. 22
  40. Prinz W., siehe Ref. 3
  41. Libet B., siehe Ref. 6, S. 268
  42. Schockenhoff E., Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler, in: Geyer C., siehe Ref. 2, S. 166-170; hier: S. 168

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Günther Pöltner
Institut für Philosophie, Universität Wien
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Anthropologie und Bioethik
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