Macht unsere Gesellschaft psychisch krank?
Zusammenfassung
Es wird allgemein die Auffassung einer multifaktoriellen Genese psychischer Erkrankungen vertreten. Bestimmte Genmuster dürften mit bedingend für eine Erkrankung sein, während äußere Faktoren deren Ausbruch letztendlich triggern. Studien haben gezeigt, welche psychosozialen Belastungen als Risikofaktoren betrachtet werden müssen. Gleichzeitig kann anderen Faktoren protektive Wirkung zugesprochen werden. Neben individuellen Bedingungen müssen auch Entwicklungen auf gesellschaftspolitischer Ebene im Hinblick auf eine wesentliche Rolle in der Pathogenese psychischer Alterationen in Betracht gezogen werden. So wurde beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Armut und Depression gefunden. Ob weltweit gesehen ein Ansteigen psychischer Erkrankungen allgemein zu beobachten ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Für die Inzidenzrate dementieller Erkrankungen und den Suizid besteht jedoch kein Zweifel darüber. Es scheint im Hinblick darauf doch so zu sein, dass die Gesellschaft tatsächlich psychisch krank macht.
Schlüsselwörter: Depression, Armut, Gesellschaft, Sucht, psychische Erkrankung
Abstract
For psychic disorders, a multifactorial etiology is widely accepted. While certain genetic patterns are considered causal for (latent) inherited disorders, exogenic factors can trigger their clinical manifestation. Several studies revealed the potential of psycho-social stress as risk factor, counterbalanced by the protecting role of others. Not only must the individual situation of a person, but also current changes on a socio-political level be regarded as relevant features in the pathogenesis of psychic alterations. For example, it could be shown that poverty and depression are closely connected. At present, no clear figures are available, whether psychic diseases are in progression world wide. However, there is no doubt about the rising incidence of demential illness and suicide. In conclusion, it seems realistic to assume that the present society affects psychic health in a negative way.
Keywords: depression, poverty, society, addiction, psychiatric illness
Einleitung & Grundlagen
Bevor man sich die Frage in dieser Form stellt, muss man sich zunächst grundsätzlich fragen, wie es zur Entwicklung psychischer Erkrankungen kommt. Im Wesentlichen findet sich heute weithin etabliert, ein dem wissenschaftlichen Zeitgeist adäquates Interaktionsmodell mit multifaktoriellen Bedingungen. Ganz grob gesprochen, findet sich eine Wechselwirkung aus biologischen Grundlagen, psychologischen und sozialen Faktoren. Etwas detaillierter ausgearbeitet, ist davon auszugehen, dass biologisch-genetische Faktoren mit bedingend sind. So wissen wir heute, dass zahlreiche psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, aber auch Suchterkrankung und Schizophrenien vererbt sind. Es handelt sich hier aber nicht um einen eindeutigen Erbgang, wie in der Vererbung bestimmter Merkmale, wie z. B die Farbe der Augen oder Ähnliches. Die Lage ist hier deutlich komplexer. Noch in den 80-er Jahren ist man davon ausgegangen, relativ bald die jeweiligen Gene für die jeweilige psychische Erkrankung festmachen zu können, davon sind wir heute weiter entfernt denn je. Viel mehr findet sich nun der Ansatz, dass verschiedenste Genloci zusammenspielen, dass Genmuster in ihrem Zusammenspiel letztlich aber nur mit bedingend für die Erkrankung sind und dass andere äußere Faktoren triggernd wirken, um dann letztlich zum Ausbruch der Erkrankung zu führen.
Das heißt, das Verständnis geht in die Richtung, dass biologisch-genetische Faktoren mit bedingend sind, dass biologisch-genetische Faktoren den Verlauf der Erkrankung beeinflussen, dass biologisch-genetische Faktoren als Krankmacher durch die Erkrankung selbst entstehen können (z. B. pathologische Alterationen von Stoffwechselsystemen im Gehirn). Darüber hinaus sind soziale Faktoren wesentlich für die Entwicklung der Erkrankung, für das Aufrechterhalten des Verlaufes. Letztlich sind dann krankmachende psychosoziale Faktoren ein Ergebnis der Erkrankung (siehe Abbildung I).
Dieser Denkansatz findet sich mittlerweile nicht nur auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen, sondern auch auf der Ebene der somatischen Erkrankungen. Hier seien als Beispiel Herzkrankheiten angeführt, bei denen psychische-individuelle Faktoren eine wesentliche Rolle in der Ausprägung der Erkrankung und im Schweregrad der Erkrankung spielen und wo auf der anderen Seite natürlich auch ganz konkrete biologische Ursachen wie zum Beispiel entzündliche Veränderungen der Herzkranzgefäße eine sehr große Rolle spielen können, aber eben nicht die alleinige. Die folgende Grafik berücksichtigt eine Skalierung nach „körpernaher" oder eher „psychischer“ Ursache. Wobei selbst bei angeborenen Herzfehlern psychische Komponenten (Lebensstil, Ernährungsgewohnheiten etc.) eine wesentliche Rolle für den Verlauf spielen (siehe Abbildung II).
Bei diesen Überlegungen ist natürlich zu berücksichtigen, dass das Individuum auf bestimmte Grundbedingungen und Rahmenfaktoren reagiert, das heißt das Individuum reagiert und versucht auszugleichen. Eine erhöhte Verletzbarkeit in eine bestimmte Richtung bei gegebenen Risikobedingungen führt zu einem Adaptationsprozess. Manchmal kann dieser erfolgreich sein, und es kommt nicht zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung, manchmal sehr wohl. Wie diese Adaptationsvorgänge dann letztlich zum Erfolg führen, hängt maßgeblich davon ab, unter welchen Bedingungen Menschen leben bzw. unter welchen Bedingungen sie aufwachsen (siehe Abbildung III).
Risikofaktoren
Besondere Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen sind ein niedriger sozioökonomischer Status, schlechte Schulbildung der Eltern, schlechte Wohnverhältnisse, psychische Erkrankungen innerhalb der Familie (hier nicht im Sinne der genetischen Weitergabe, sondern im Sinne des Miterlebens der Erkrankung der Eltern), aber auch schwerwiegende körperliche Erkrankungen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle. Pathogene Kommunikationsstrukturen mit ausgeprägten emotionalen Spannungen, die oft über lange Zeit (oft über Jahre und Jahrzehnte) bestehen, können hier wesentlich mit bedingend sein und natürlich auch Verluste von wichtigen Bezugspersonen, wie z. B. Tod der Mutter oder Abgeschobenwerden in ein Heim oder Ähnliches.
Als besonderer Risikofaktor in diesem Zusammenhang hat sich auch die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziale Einbettung herausgestellt. Es finden sich aber auch Hinweise, dass der geringe Altersunterschied zwischen Geschwistern, wenn dieser weniger als 1 ½ Jahre ist, ungünstig wirkt. Eine Gegenüberstellung von pathogenen und psychosozialen Faktoren findet sich in der Tabelle I.
Pathogene psychosoziale Faktoren | Protektive psychosoziale Faktoren |
1. Biographische Belastungen mit geringen persönlichen Ressourcen | 1. Günstige biographische Entwicklung mit guten persönlichen Ressourcen |
2. Belastende Lebensereignisse und gewisse Bewältigungsressourcen | 2. Günstige Bewältigungsmöglichkeiten bei Lebensereignissen |
3. Niedriger sozioökonomischer Status | 3. Günstige sozioökonomische Bedingungen |
4. Geringe soziale Unterstützung | 4. Gute soziale Unterstützung |
5. Chronische Interpersonelle Belastung | 5. Stabile interpersonelle Belastung |
6. Chronische körperliche Erkrankung, Gesundheitsfehlverhalten | 6. Körperliche Gesundheit und aktives Gesundheitsverhalten |
Eine ganz wesentliche, psychisch belastende, soziale Entwicklung dürfte darin liegen, dass sich die familiären Strukturen in unserer Gesellschaft völlig verändern. Die Entwicklung geht eindeutig hin zu immer weniger Kindern in den Familien. Der Anteil an Familien mit 3 und mehr Kindern liegt bereits deutlich unter 10%, Ehepaare ohne Kinder machen bereits fast 40% aus. Daneben findet sich auch eine Entwicklung zum Singlehaushalt, wonach der Anteil der Singlehaushalte in Österreich im Jahr 2001 bereits über 30% ausgemacht hat.
Oben wurde ausgeführt, dass aus Studien bekannt ist, dass die Rolle der allein erziehenden Mutter ohne soziales Netz tatsächlich ein Belastungsfaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen darstellt, sowohl bei der Mutter als auch bei den Kindern. In Österreich fand sich im Jahr 2001 eine Anzahl von 252.900 allein erziehenden Müttern und 45.100 allein erziehenden Vätern. Das ist in Summe eine Anzahl von 300.000 Personen. Das Problempotential hier und die Auswirkungen für die Gesellschaft in der Zukunft sind gar nicht abschätzbar. Erschwerend kommt noch hinzu, dass diese allein erziehenden Personen in aller Regel aus ökonomischen Zwängen berufstätig sind. So findet sich eine Frauenerwerbsquote bei den Alleinerzieherinnen mit Kindern unter 15 Jahren von 87%. Dies stellt eine unglaubliche Belastung für die allein erziehende Mutter dar, zum einen, um den Lebensalltag zu schaffen, die ökonomischen Grundlagen für das Überleben zu sichern, zum anderen in der ambivalenten Haltung leben zu müssen, bei den Kindern in der Erziehung nicht genügend präsent zu sein bzw. ihnen nicht ausreichend Liebe geben zu können etc.
Gesellschaftspolitische Faktoren
Neben diesen individuellen Bedingungen, die natürlich auch gesellschaftspolitisch mit bedingt sind, gibt es zahlreiche gesellschaftspolitische Entwicklungen und Faktoren, die wesentlich zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen. Dazu gehören, und dies sei hier nur schlagwortartig aufgelistet, vor allem die Reizüberflutung durch Medien und die Sexualisierung der Gesellschaft. Es geht aber auch um das Erleben einer ohnmächtig machenden, überbordernden Bürokratisierung, es geht um die Schnelllebigkeit der Zeit, mit der wenige Personen fertig werden können. Es geht aber natürlich auch um einen Säkularisierungsprozess, den Verlust an Werten ethisch-moralischer, aber natürlich auch religiöser Natur, was sicherlich Hand in Hand mit einer ausgeprägten Individualisierung der Gesellschaft geht. Es entsteht eine solipsistische Welthaltung, wo es nur mehr noch um die Befriedigung von Bedürfnissen im Sinne der Lustbarkeit geht. Diese Entwicklungen führen zum gesellschaftlichen Zerfall. Klarer wird das Bild dieses Zerfalls anhand konkreter Wirtschaftszahlen (Liste I).
Gewalt, Kriminalität, Drogen:
Umweltzerstörung und Energieverschwendung:
Ausgaben für Militär, innere und private Sicherheit:
Soziale Kosten (Streiks, Arbeitslosigkeit):
Gesundheitsschäden:
Sonstige unnötige Verluste/Kosten:
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Liste I: Entropiefaktoren in unserer Gesellschaft (nach Nefiodow1)
Aus politischen Gründen kommt es aber auch zu ganz anderen Entwicklungen, wie weltweit zu beobachtende Landflucht in großem Stil, zu Kriegen, Katastrophen aller Art, die von Menschenhand gemacht werden, und dabei natürlich vor allem zur Zunahme des Welthungers.
Diese angesprochenen Faktoren sind geopolitisch betrachtet in der Ausprägung nicht überall gleich wirksam. Es gibt Länder, wie z. B. in Afrika, wo Hunger, Fehlernährung und Kriege eine ganz wesentliche Rolle spielen, was z. B. in Mitteleuropa keine große Rolle spielt. Hier sind es eher Fragen nach Sexualisierung, Säkularisierung, solipsistischen Tendenzen, aber auch das Diktat des Kapitals, die bestimmend sind.
Die viel gepriesene und heute standardmäßig geforderte „Flexibilisierung“ führt im individuellen Bereich zur Katastrophe. Das tief verwurzelte Sicherheitsbedürfnis aller wird immer seltener befriedigt. Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Es gibt keine eindeutigen Karrieremodelle mehr. Der Lebensweg wird zum Lotteriespiel, da man sich auf nichts mehr verlassen kann. Dies führt zu erhöhtem Konkurrenzdruck mit nachfolgender Entsolidarisierung und massivem innerpsychischen Druck.
Armut – Depression
Um aus den angeführten Faktoren das Beispiel Armut herauszunehmen sei hier der Teufelskreis der Armut im Zusammenhang mit der Entwicklung psychischer Erkrankungen dargestellt (Abbildung IV).
Hier handelt es sich nicht nur um ein theoretisches Modell, sondern es gibt hier ganz konkrete epidemiologische Zahlen, die dieses Modell in der Praxis bestätigen (Abbildung V).
Häufigkeit psychischer Erkrankungen
Diese Entwicklungen haben in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen. In der so genannten Wohlstandsgesellschaft finden sich Auswüchse aller Art, die als mögliche Ursachen letztlich natürlich im Sinne eines Mosaiks zum Ansteigen psychischer Erkrankungen führt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieses Ansteigen bisher nur bedingt nachweisbar.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass immer mehr, und dafür gibt es Zahlen, Menschen die Diagnose einer psychischen Erkrankung erhalten und auch die Gesundheitssysteme zur Behandlung eben dieser Erkrankungen in Anspruch nehmen. Das kann damit zu tun haben, dass diese Krankheiten tatsächlich häufiger auftreten, aber auch damit, dass sie einfach häufiger erkannt und häufiger behandelt werden. Es wird möglicherweise, dies ist nur eine Vermutung, eine Mischung aus beidem sein. Schwierig ist es epidemiologische Untersuchungen aus früheren Zeiten direkt mit den heutigen zu vergleichen. Dies deshalb, weil die Standards in der Erhebung völlig verschieden waren und daher eine direkte Vergleichbarkeit nur bedingt gegeben ist. Dennoch gibt es Versuche in dieser Richtung. Als Beispiel sei hier in der folgenden Grafik die Entwicklung hinsichtlich wesentlicher psychischer Erkrankungen über 10 Jahre dargestellt (Abbildung VI). Völlig außer Zweifel steht die Zunahme an Erkrankungen aus dem Demenzkreis. Durch die Überalterung der Bevölkerung in den zivilisierten Staaten nehmen Alterserkrankungen generell zu und hier natürlich im Speziellen die Demenzen. So nimmt die Alzheimererkrankung dramatisch zu. Wenn man so will, ist auch diese Entwicklung eine gesellschaftlich bedingte, weil es durch die sozialen Rahmenfaktoren zu einer Zunahme der Lebenszeit gekommen ist und damit auch zur Entwicklung dementieller Erkrankungen. Dies ist aber ein negativer Aspekt aus einer prinzipiell positiven Entwicklung, nämlich einer Zunahme des Lebensalters. Die anderen psychischen Erkrankungen, welche zunehmen, sind ja das Ergebnis negativer Entwicklungen, die oben ausgeführt wurden, die aus individuellen, aber auch aus gesellschaftspolitischen Faktoren bedingt sind. Es gibt konkrete Hinweise, dass die neurotisch depressiven psychosomatischen Erkrankungen zunehmen, dass Persönlichkeitsstörungen zunehmen, aber auch Alkohol- und Drogenmissbrauch (siehe Abbildung VI).
Eine methodisch sehr saubere Arbeit kommt zu dem Schluss, dass sich keine Veränderungen zwischen 1990 und 2003 finden lassen.2 Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine aufwändige nordamerikanische Studie, wobei im Mitarbeiterstab angelernte Interviewer waren, was eine Beeinträchtigung der Diagnosegenauigkeit bedingen kann. Vielleicht war aber in diesem Umfeld der Zeitraum auch zu kurz, um Effekte zu sehen.
Weltweit wurde aber eine Zunahme der Suizidquoten beobachtet (Abbildung VII).
All dies dürfte dramatischer Ausdruck der aufgezeigten Fehlentwicklungen sein. Es spricht also vieles dafür, dass die Gesellschaft tatsächlich psychisch krank macht.
Kann man etwas dagegen tun?
Ganz wesentlich ist es natürlich im Primärbereich, das heißt niederschwellig bei praktischen Ärzten, bei psychosozialen Einrichtungen entsprechend professionelle Hilfe anzubieten. Es ist wichtig, dass weltweit ein Zugang zu Psychopharmaka besteht, dass auch in Ländern der Dritten Welt alle modernen Präparate zur Verfügung stehen. Es geht darum gemeindenah Hilfe anzubieten. Dazu bedarf es aber auch entsprechend geschulten Personals, um dies zu bewerkstelligen. Dies kann wieder nur in die Wege geleitet werden, wenn es einen entsprechenden politischen Willen gibt, sich damit auseinanderzusetzen und auch Schwerpunkte zu setzen. Letztlich aber geht es auch darum, die geschilderten Faktoren besser kennen zu lernen, ihre Rolle besser zu erkennen, um auch Einfluss auf die Entwicklungen nehmen zu können.
Dazu bedarf es einer differenzierten Forschung, die gesundheitspolitisch äußerst relevant ist, im Sinne einer modernen Technikforschung, aber sicherlich nicht vergleichbare „gut verkaufbare“ Ergebnisse bringt. Die positiven Effekte sind Langzeiteffekte.
Neben medizinischen Fragen stehen hier natürlich geopolitische im Vordergrund. Die nahezu vollständige Ausrottung der Tuberkulose in Mitteleuropa ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte der Medizin, sondern auch der Sozialpolitik. Erst als Industriearbeiter nicht mehr unter widrigsten Umständen in überbelegten Wohnungen hausten mit denkbar schlechten hygienischen Bedingungen, konnte die Ausbreitung zurückgedrängt werden. Genau so ist es mit den psychischen Erkrankungen. Die wesentlichen Strategien müssen aus der Politik (Sozialpolitik) kommen. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte wird einem gesamten Land eine psychische Erkrankung attestiert, nämlich Deutschland. Es heißt, Deutschland sei in der Depression. Dies ist nicht ökonomisch gemeint, sondern es bezieht sich auf die Befindlichkeit der Bürger. Betreibt man Ursachenforschung so drängt sich der Verdacht auf, dass diese kollektive Depression mit psychosozialen Bedingungen in diesem Land, den Zukunftsperspektiven der Menschen zu tun hat.
Ausblick
Es fällt schwer angesichts dieser Betrachtungen nicht sogleich in Pessimismus zu verfallen. Wir haben den Eindruck, dass wir vielen dieser Entwicklungen nahezu hilflos und ohnmächtig gegenüber stehen und dass sie uns überrollen. Naturgemäß gibt es keine Patentrezepte zur Lösung. Die Frage ist auch „Wo überhaupt ansetzen?“ In einer pluralistischen Gesellschaft ist es sehr schwierig generelle Standards zu entwerfen, die bindend sind. Die heute gültige, einfache Formel ist die Definition von Menschenrechten. Dies greift sicher zu kurz, um nachhaltig verändernd einzugreifen. Erst wenn es entsprechende politische Taten gibt, kann auch die Psychiatrie das Ihre dazu beitragen, dass sich etwas bessert. Derzeit sind wir damit beschäftigt die Krisenfeuerwehr abzugeben. Strategische Planung gibt es dabei kaum. Es drängt sich auch die Frage auf, wann die politisch Handelnden aus ihrer Paralyse erwachen, ohne beständig zu beschwören, dass man die wirtschaftlichen Ströme sich selbst überlassen muss. Gott sei Dank ist es modern geworden, dagegen auftreten zu dürfen. Man hört bereits von Spitzenpolitikern einschlägige Kommentare. Dies betrifft aber nur die wirtschaftliche Seite. Was die Wertehaltung anlangt, so erleben wir das Diktat des „Alles muss erlaubt sein“. Wenn dann einer eindeutig Stellung zu einem heiklen gesellschaftspolitischen Thema bezieht, kann er seine Spitzenposition entweder gleich aufgeben oder erreicht nicht die nächste Stufe der Hierarchie bzw. wird er persönlich verächtlich gemacht. Dies verhindert eine Wertediskussion, die uns so nötig zur psychischen Gesundung fehlt.
Referenzen
Weiterführende Literatur
- Statistik Austria, Mikrozensus Österreich 2001, Statistik Austria, Wien 2002
- Möller H.-J., Laux G., Kapfhammer H.-P., Psychiatrie & Psychotherapie, Springer Verlag, Wien 2003
- Sennett R., Der flexible Mensch, Siedler Verlag, München 2000
- World Health Organisation, Report on Mental Health, WHO, Genf 2002
Univ.-Prof. Dr. Peter Hofmann
Univ.-Klinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz
Auenbruggerplatz 31, A-8036 Graz