Der Missbrauch mit dem Missbrauch

Imago Hominis (2004); 11(4): 247-249
Hedwig Ücker-Geischläger

Dass Machtmissbrauch und sexueller Missbrauch zu den schlimmsten Dingen zählen, das steht zweifelsfrei fest. Sterben durch Machtmissbrauch Hunderttausende Menschen, so sind wir mit Recht entsetzt. Das Entsetzen über sexuellen Missbrauch hält sich allerdings vielfach in Grenzen. Ich denke, viele verstehen es einfach nicht, was z. B. Väter Schreckliches ihrem Kind antun. Dass das kleine Mädchen in die allertiefste Verwirrung gestürzt und sich nie mehr im Leben so richtig davon erholen wird (außer es wird später eine sehr gute Therapie gemacht), wissen wir aus vielen Berichten Betroffener. So sollen etwa 95% der Prostituierten in ihrer Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden sein. Es ist vor allem das seelische Chaos, das Unerklärliche, das erwachsene Inzestopfer als „Terror“ schildern. Jaqueline Spring: „Da ist die Tatsache, dass ich meinen Vater als den wunderbar-sten Mann in der ganzen Welt kannte. Dieses geistige Chaos ist das klassische Ergebnis der Tortur der Gehirnwäsche: der Peiniger, der einmal gut, dann wieder schlecht erscheint, wunderbar, dann wieder bedrohlich erschreckend… dass jemand, den du geliebt hast, zu dem du aufgeschaut hast, dem du vertrautest, einfach so über dich hinwegtrampeln konnte, über deinen Körper und deine Seele, ganz im Verborgenen und dann unter Hinterlassung einer falschen Spur…“1

Der Großteil sexuellen Missbrauchs spielt sich in Familien ab. Vater, Großvater, Bruder, Onkel etc., seltener weibliche Familienangehörige. Weiters sind es häufig Bekannte der Familie, Freunde, Nachbarn; viel seltener Heimerzieher, Lehrer und noch seltener Priester. „Für wichtig halte ich jedoch festzustellen, dass sexuelle Misshandlung an Kindern kein Schicksal einzelner ist, sondern ein ernstes umfangreiches Problem unserer Gesellschaft. … Die Misshandler sind Erwachsene oder Jugendliche. Sie stammen aus allen sozialen Schichten, aus den verschiedensten Berufsgruppen und kommen in der überwiegenden Mehrzahl aus dem direkten Lebensumfeld der betroffenen Kinder.“2

In dem Buch „Noch immer weint das Kind in mir“ von Gunda Schneider,3 einer Betroffenen, findet sich im Nachwort von Irene Johns: „Entgegen früherer Annahmen müssen wir heute davon ausgehen, dass bei der Mehrzahl der Kinder der Missbrauch bereits im Kindergarten und Grundschulalter beginnt… Bei der Mehrzahl der Kinder besteht ein naher Verwandtschafts- bzw. Beziehungsgrad zu dem misshandelnden Erwachsenen. 50 – 60 Prozent der Erwachsenen sind in einer Vaterrolle für die Kinder – Väter, Stiefväter und Freunde der Mutter.“

Übrigens soll einmal festgehalten werden, dass sexueller Missbrauch nichts mit dem Zölibat zu tun hat. Ganz im Gegenteil, ein Priester, der den Zölibat ernst nimmt, hat Selbstbeherrschung gelernt und kann daher auch in einer übersexualisierten Gesellschaft Triebverzicht leisten. Das aber können sich Menschen, die meinen, ihren Sexualtrieb unbedingt ausleben zu müssen, gar nicht vorstellen. Sie „können es einfach nicht fassen“, dass etwas so gewaltig Drängendes beherrscht werden kann. Nun sind bekanntlich die Triebbedürfnisse verschieden stark, außerdem geht der Wille zur Enthaltsamkeit vom Gehirn aus. Selbstbeherrschung, Triebverzicht ist lernbar. Um eines höheren Gutes Willen Verzicht zu leisten, bringt außerdem auch positive Gefühle. Rüdiger Lautmann in „Psychologie heute“: „Wohl dem, der ‚Sublimieren’ kann und dabei noch bemerkenswerte Werke hervorbringt! Oder seinen ‚pädagogischen Eros’ in Unterricht und Jugendpflege auslebt. Doch je mehr so jemand sich den Objekten seiner Begierde nähert, desto heißer wird das Spiel mit dem Feuer. Das Verlangen dauerhaft zu unterdrücken widerspricht einer Dominante moderner Konsumkultur.“4

Bisher ist immer sehr „negativistisch“ vom Zölibat als „Unterdrückung des Triebes“, „Verzicht“ etc. die Rede – wo bleibt der freie, männliche Entschluss zur lebenslangen Treue „um des Himmelreiches willen“? Ist das nicht nahe an der lebenslangen ehelichen Treue ohne Kampf und Krampf?

Bemerkenswert ist zudem, dass immer häufiger die Aufarbeitung des oft jahrelang zurückliegenden Missbrauchs an die Grenzen des Erinnerungsvermögens stößt. Dieses kann undeutlich oder verfälscht sein, und sogar in die Irre geführt werden.

In Amerika waren 1992 Missbrauchsklagen, die auf aufgedeckten Erinnerungen beruhten, in amerikanischen Familien so häufig geworden, dass eine Gruppe beschuldigter Eltern zusammen mit besorgten Fachleuten die sog. „False Memory Syndrome Foundation“ (Falsches Erinnerungssyndrom-Stiftung) gründete. Diese Stiftung rief eine Beratungskommission ins Leben, zu der einige der angesehensten Fachleute aus Psychologie und Psychiatrie gehören. Der Hirnforscher Daniel L. Schacter, der sich in seinem Buch „Wir sind Erinnerung“ auch mit dem sexuellen Missbrauch auseinandersetzt, schreibt: „… Dann bleibt die gesondert zu betrachtende Frage, ob Menschen manchmal falsche Erinnerungen an traumatische Ereignisse haben, die nie stattgefunden haben. Ich denke, dass das der Fall ist.“ In einer längeren Darstellung verschiedenster Fälle und Aspekte kommt der Hirnforscher schließlich zu folgender Schlussfolgerung. Er finde „keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise aus kontrollierten Studien dafür, dass sich falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch erzeugen lassen – noch wird es sie jemals geben; das verbietet sich aus ethischen Gründen.“ Allerdings „… drängt sich die Erkenntnis auf, dass einige Therapeuten zur Entstehung von Scheinerinnerungen an sexuellen Missbrauch beigetragen haben, wenn wir verschiedene Forschungsergebnisse im Zusammenhang betrachten. Zum einen die experimentell dokumentierte Anfälligkeit des Gedächtnisses für suggestive Einflüsse, dann die Belege dafür, dass die Hypnose überzeugende, aber unzutreffende Scheinerinnerungen erzeugen kann… Zudem die Aufdeckung von Erinnerungen an offenbar unmögliche Ereignisse (frühere Leben und Entführung durch Außerirdische), die wachsende Zahl der Therapiepatienten, die sich von ihren Erinnerungen distanziert haben, und die gefährlichen Erinnerungstechniken, die von einigen Anhängern der Aufdeckungstherapie befürwortet werden.“5

Ein anderes Beispiel zu diesem Komplex bringt die bereits vorher zitierte angesehene Fachzeitschrift „Psychologie heute“, dort heißt es:

„Mit Sicherheit nicht gewachsen ist ein Kind dem Ansturm von Befragungen und Verdächtigungen, denen es von selbsternannten Fahnderinnen, ungeschulten Justizbeamten oder versäumnisbewussten Eltern unterworfen wird. Was für das Kind vielleicht nur eine wenig bedeutsame Nebenhandlung war, wird jetzt zur Haupt- und Staatsaktion stilisiert. Die hier unausweichlich hervorgerufenen (sogenannten sekundären) Schädigungen muss der Pädophile miteinrechnen, wenn er sein Handeln überdenkt.“4

Immer häufiger erfahren wir von anderen Psychologen, von gut recherchierenden Journalisten und auch von Hirnforschern, dass wir unseren Erinnerungen nicht immer trauen können. Die Juristen, Richter und Strafverteidiger wussten das schon längst. Es werden auch immer wieder Berichte von beschuldigten Eltern veröffentlicht, die so stichhaltig, weil gut nachprüfbar sind, dass sie glaubhaft sind. So schildert Ursula Nuber („Der Mythos vom frühen Traum“6) die Verzweiflung einer Mutter, deren Tochter während deren Psychotherapie „herausfand“, dass sie von ihrem Vater vergewaltigt bzw. missbraucht worden war. Das Gespräch mit ihrer Tochter schildert sie so: „In meinen Telefongesprächen mit Betty fragte ich sie: „Wie alt warst du, als das alles geschah? Wie oft geschah es?“ Sie sagte: „Ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es geschah, einmal, vielleicht dreimal.“ Ich sagte: „Aber Vater war nie zu Hause, er arbeitete nachts und schlief tagsüber. Ich war immer zu Hause. Ich war nie berufstätig. Wo war ich, als all das geschah?“ Keine Antwort. Nach Wochen wurden die Geschichte und die Dauer des Missbrauchs immer länger. Mein Schwiegersohn erzählte mir, dass Betty sich nun an sieben Jahre des Missbrauchs erinnern konnte… All dies begann, als meine Tochter bei einem Psychotherapeuten Hilfe suchte – einem, der von ihrer Verwundbarkeit Besitz ergriff, der Erinnerungen an Dinge weckte, die niemals geschehen sind.“

Die amerikanische Psychologin, führende Expertin auf dem Gebiet der Erinnerungsforschung und Gerichtsgutachterin Dr. Elizabeth Loftus schreibt in ihrem Buch, das sie gemeinsam mit Katherine Ketcham verfasst hat, „Die therapierte Erinnerung“7, wie folgt:

„Ich betrat am Dienstag, dem 20. November 1990, den Zeugenstand und legte zwei Stunden lang meine Experimente dar, die sich mit Erinnerungsentstellungen beschäftigten. Ich erklärte dem Gericht, dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen und an Detailtreue und Genauigkeit verlieren; im Laufe der Zeit werden die undeutlicher gewordenen Erinnerungen immer empfänglicher für nachträgliche Informationen – Fakten, Vorstellungen, Andeutungen und Meinungen, mit denen ein Zeuge oder eine Zeugin in Berührung kommt, nachdem ein Ereignis schon völlig abgeschlossen ist.“ E. Loftus berichtet dann über eine Versuchsreihe und erklärt, dass die Erwerbsphase der Erinnerungsentstehung für die Abspeicherung der Information im Gedächtnis bedeutsam ist. Sie kommt zu folgendem Schluss: „Hunderte von Experimenten mit Tausenden von Versuchspersonen haben gezeigt, dass nachträgliche Informationen der Erinnerung einverleibt werden und diese verfälschen, ersetzen oder verzerren können.“

Sind nun die Verbrechen tatsächlicher Triebtäter generell in Frage zu stellen? Nein, vielmehr geht es darum, die allgemeinen Erkenntnisse der Erinnerungsforschung und der Erinnerungsverfälschung im Speziellen in die Beurteilung weltweit bestürzender Triebverbrechen einzubeziehen.

Referenzen

  1. Spring J., Zu der Angst kommt die Scham, Kösel Verlag, München 1988, S. 143
  2. Johns I., Zeit alleine heilt nicht, Herder Verlag, Freiburg 1993, S. 9
  3. Schneider G., Noch immer weint das Kind in mir, Herder Spektrum, Freiburg 1993, S. 147
  4. Psychologie Heute, Dezember 1997, S. 56ff
  5. Schacter D. L., Wir sind Erinnerung, Rowohlt Verlag, Leipzig 2001, S. 407, 441
  6. Nuber U., Der Mythos vom frühen Trauma, Fischer Verlag, Frankfurt 1999, S. 68f
  7. Loftus E., Ketcham K., Die therapierte Erinnerung, Klein-Verlag, Hamburg 1994, S. 92f

Weiterführende Literatur

  • Wirtz U., Seelenmord, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1989, S. 23
  • Nuber U., Die sieben Sünden des Gedächtnisses, Psychologie Heute 10/2004: 20-31
  • Schacter D. L., The seven signs of memory. How the mind forgets and remembers, Houghton Mifflin Company, Boston, New York 2001
  • Friedrich M. H., Springer K., Tatort Kinderseele, Überreuter Verlag, Wien 2001, S. 21
  • Herman J. L., Die Narben der Gewalt, Kindler Verlag, Berlin 1994

Anschrift der Autorin:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE-Institut
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
ehprat(at)imabe.org

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