Editorial

Imago Hominis (2004); 11(3): 157-159

Die präventivmedizinische Problematik führt in Bereiche, die für gewöhnlich den Aktionsradius des Arztes stark überschreiten. Der traditionellen Auffassung vom Arztberuf nach besteht seine Aufgabe in der Heilung oder aber der Palliation einer nicht mehr heilbaren Erkrankung. Zunehmend werden aber auch Fragen der Prävention an ihn herangetragen, beispielsweise wird er gefragt, ob das oder jenes auch gesund wäre, ob man sich so oder besser anders zu entscheiden hätte…

Die Einführung des positivistischen Denkansatzes in der Medizin und in der Folge die starke Verwissenschaftlichung der schulmedizinischen Heilkunde hat dazu geführt, dass die messbaren und statistisch ableitbaren Ergebnisse, die Evidenz-abgesicherten Erkenntnisse oberstes Gebot und Leitlinie für Behandlungsmethoden und Empfehlungen sind. Nun gibt es aber eine Reihe – in Mode gekommener – Versuchsanordnungen, die nicht Medikamente untereinander auf ihre Wirksamkeit hin vergleichen, sondern die Effizienz eines Medikaments gegen eine bestimmte Verhaltensweise abwägen. Längstens bekannt ist die vom einfachen Volk genannte Vermutung, dass ein Zuviel an Fett, Rauch, Kaffee, Stress, Übergewicht usw. oder auch ein Zuwenig an Bewegung, abwechslungsreicher Kost, Schlaf, Erholung usw. auch nicht ganz so gesund sein können! Die Vermutungen haben sich zum Teil „schwarz auf weiß“ bestätigt, sie werden quantifiziert, hochgerechnet in gewonnenen oder verlorenen Lebensjahren, die beeindrucken. Langzeitergebnisse – retrospektiv oder prospektiv – sind zwar noch ausständig, aber eines Tages sicher auch vorhanden. Es muss nun überlegt werden, welche Konsequenzen dieses Wissen hat, sobald es „gesichert“ ist, und statistisch „bestätigt“. Für die Arzt-Patient-Beziehung beginnt eine neue Herausforderung.

Angenommen die Gewichtsabnahme wäre die wirksamere Therapie für eine bestimmte Krankheit, während im Vergleich dazu auch eine Verschreibung von Tabletten, wenn auch mit unerwünschten Nebenwirkungen, zum Ziel führen könnte? (Dieser Fall ist bereits mehrfach gegeben!) Angenommen eine Verhaltensänderung wie zwei Mal pro Woche Bewegung zu machen, könnte einer Krankheit vorbeugen und diese erst gar nicht zum Ausbruch kommen lassen: Was wäre dann für den Arzt, der dieses Wissen besitzt, zu tun? „Vorbeugen ist besser als heilen“ lernt jedes Volksschulkind; was aber, wenn vorbeugen nicht eine Pille schlucken bedeutet, sondern, dass der Patient sein Leben und seine Gewohnheiten anders gestalten muss? Wieviel Engagement muss der Arzt aufbringen, um seinen Patienten zu einer Änderung seiner Gewohnheiten zu motivieren?

Prävention, die sich somit zu den Aufgaben das Arztes hinzugesellt, stellt neue Anforderungen an ihn. Er muss seinem Wissen getreu beraten und Empfehlungen abgeben und darüber hinaus hoffen, dass diese umgesetzt werden. Da es sich nicht mehr bloß um die Verschreibung einer Tablette handelt, die der Patient einnehmen soll (es sei an die erschütternd niedrige Patienten-Compliance erinnert, die durch Studien belegt wurde), sondern um Empfehlungen, betreffend Lebensgewohnheiten, Tagesabläufe, Speisepläne, etc (modern: Lifestyle), deren Umsetzung nicht bloß vom Vorsatz oder dem guten Willen abhängt, scheint der Arzt oft ziemlich überfordert. Diese Aufgabe verlangt von ihm eine besondere Kommunikationskompetenz. Dennoch zeigen empirische Studien, dass sogar einfache präventive Lebensstil-Vorschläge ihre Wirkung haben.

Prävention ist primär Aufgabe des Einzelnen für sich, aber auch der Arzt hat dabei eine wichtige Funktion. Darüber hinaus müssten die Gesellschaft sowie viele weitere Strukturen und Institutionen Bedingungen schaffen, die dem Einzelnen die Einhaltung der Ratschläge auch ermöglichen.

Wenn Prävention in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen soll, muss sie sich auch in allen kulturellen Bereichen, die mit der Entfaltung des menschlichen Lebens zu tun haben, durchsetzen, wobei sie ganz besonders in der Erziehung und in der Bildung einen festen Platz bekommen soll. Viele begleitende präventive Maßnahmen haben sich in der Vergangenheit durchgesetzt: Kanalisation, hygienische Auflagen, Einberufung von Reihen-Grunduntersuchungen, Aufklärungskampagnen, Jodierung des Salzes, Überprüfung der Arbeitsplatzgegebenheiten, Schaffung von Fitness-Parcours etc.

Die in diesem Zusammenhang wichtige moralische Frage lautet aber, in wie weit sich der Arzt präventiv im Lebensstil vom Patienten vorwagen darf und falls er sich dazu berechtigt bzw. verpflichtet glaubt, wie verbindlich für den Patienten das ist, was ihm der Arzt bezüglich der Verhaltensänderung vorschreibt. Verhaltensentscheidungen werden auf der individualethischen Ebene getroffen: was und wie viel jemand zu essen oder zu trinken hat; ob er rauchen kann oder auf keinen Fall sich der Noxe aussetzen sollte; wie viel Bewegung er machen müsste, in welcher Form und unter welchen Umständen; welche sexuellen Beziehungen er eingehen kann und welche nicht… Geht es also dabei nicht um Vorgaben, die in den legitimen Freiraum des autonomen Bürgers, dessen Gestaltung ihm alleine obliegt, eingreifen? Handelt es sich hier nicht um einen Angriff auf die Freiheit des Einzelnen?

Andererseits ist der Mensch als soziales Wesen auch anderen Menschen seines Umfeldes verpflichtet, so dass er über die Gestaltung seines Freiraumes nicht uneingeschränkt verfügen darf. Und es stellt sich auch die Frage, ob es für die Solidargemeinschaft akzeptabel ist, dass sich jemand permanent entgegen besseren Wissens und Gewissens verhält und dadurch sich selbst und in der Regel auch in der einen oder anderen Form sein Umfeld – Familie, Betrieb, Nachbarschaft - schädigt? Im geringsten Fall belastet er die Gemeinschaft ökonomisch.

Nun, die eigentliche ethische Frage ist, ob das Maßhalten – darum geht es wohl in den meisten Einzelsituationen – und damit die entsprechende Tugend eingefordert werden darf? Die Antwort darauf kann nur lauten: Obwohl der einzelne in der Gestaltung seines Lebens dem Guten verpflichtet ist, darf er nicht dazu gezwungen werden. Aufgezwungene Tugend ist gar keine Tugend mehr. Tugend ist eine Haltung, die die freie Entscheidung für das Gute motiviert und erleichtert. Die Prävention wird also zum Durchbruch kommen, wenn die dazu notwendige Haltung (Tugend) in den Menschen durch Erziehung ausgebildet wurde.

Aber die Gesellschaft soll die nötigen Voraussetzungen schaffen, um den Schritt der Überwindung zum Besseren hin zu erleichtern. Erst der tugendhafte Mensch hat es leicht, sich für das Gute zu entscheiden, und nur die beständige Übung erlaubt es ihm, quasi intuitiv das Richtige zu wählen und zu tun, ohne noch viel nachdenken zu müssen. Bis dahin muss er sich zuweilen mit Anstrengung üben.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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