Temperantia – Tugend des Maßhaltens
Zusammenfassung
Das Maßhalten als Tugend des Arztes bewahrt vor diagnostischem und therapeutischem Übereifer. Allerdings kann die nötige Grenzziehung nur auf der Basis hoher beruflicher Kompetenz, kritischer Selbsteinschätzung, Takt und unerschütterlicher Achtung der Würde des Menschen erfolgen.
Schlüsselwörter: Maßhalten, ärztlicher Übereifer, das Machbare und das Zuträgliche, Takt im Umgang, Demut, reflektierter Paternalismus
Abstract
Temperance on the part of the medical doctor guards against diagnostic and therapeutic over zealousness. However, the necessary demarcation can only be made on the basis of high professional competence, critical self knowledge, tact and unwavering respect for the dignity of mankind.
Keywords: Temperance, over zealousness, the possible and the compatible, tact in relationship, humbleness, reflected paternalism
Einleitung
Ärzte1 werden mit Tugenden in Verbindung gebracht, die die Wissenschaft, die Klugheit im Sinne von rascher Erfassung von Zusammenhängen mit der Konsequenz von zielführenden Handlungen, den Mut im Sinne von fundierter Tapferkeit und die Liebe zu den Patienten betreffen.
J. Pieper2 warnt davor, die Mäßigung in fataler Nachbarschaft mit der Angst vor jeglichem Überschwang anzusiedeln, oder wo die Wahrheitsliebe oder eine andere adelige Tugend des Herzens gewillt ist, das Äußerste zu wagen, um unversehens zur „klugen Mäßigung“ verhalten zu werden. Er plädiert daher für „temperantia“, die, dem griechischen Sophrosýne verwandt, auf „ordnende Verständigkeit“ und damit auf das hinführt, was durch „Zucht“ (Frucht der Erziehung) und Maß (das Zukommende und Entsprechende) umgriffen wird. Temperantia wäre nach Pieper dann die Tugend der Zucht und des Maßes, eine Tugend der Bejahung. Damit lässt sich die Temperantia nicht mehr auf Schrumpfbegriffe wie Abstinenz von Völlerei und Unzucht oder andere Verneinungen wie Abschnürung, Zügelung, Einschränkung anwenden, sondern erweist sich als die Tugend der „selbstlosen Selbstbewahrung“, die dazu verhilft, in sich selber Ordnung zu verwirklichen. Aus dieser fließt die Ruhe des Gemüts, die nichts gemein hat mit „Beruhigung“ oder der Zufriedenheit des „gemächlich-genügsamen Lebens“.
Soweit Josef Pieper, der in seine Überlegungen weitgehend die Denkweisen des Thomas von Aquin einfließen lässt. Zur temperantia als ärztliche Tugend haben uns Pieper und Thomas nichts Konkretes hinterlassen, doch mit ihren allgemeinen – philosophischen, sprachlichen – Hinweisen dazu eine wertvolle Grundlage geschaffen.
Das Bild des Arztes bei oberflächlicher Betrachtungsweise
Hingegen scheint die Tugend des Maßhaltens fürs erste gearde nicht die beste Nachrede des Arzttums zu sein. Ärzte sollten doch geradezu unmäßig sein in ihrer Großzügigkeit und ihrem Antrieb zum Wohl der Menschheit, unter Einsatz eigener physischer und psychischer Reserven, unter Hintanstellung aller privaten Interessen inklusive Sport, Liebhabereien, Urlaubsinteressen, ja sogar der Familie. Deswegen sieht es manche Öffentlichkeit mit scheelen Augen, wenn der so plötzlich und dringend persönlich benötigte Arzt angeblich auf Urlaub, beim Schifahren, Golfen oder – horribile dictu! – selbst krank ist.
Der „Gott in Weiß“ mit menschlichen Zügen
Die zweite, nicht viel weniger trivial-populistische Sicht des modernen Mediziners ist die des „Gottes in Weiß“, des Herrn über Leben und Tod, der den Fortschritt in der wissenschaftlichen Technologie verwaltet und nach Gutdünken einsetzt, so dass für den mit Abwehrwaffen aller Art Hochgerüsteten der Tod des Patienten eine verlorene Schlacht bedeutet. Sehr medienwirksam wird allerdings gerade dieser Arzttyp, wenn er plötzlich doch menschliche Konflikte an sich heran lässt, darunter zu leiden scheint und womöglich zerbricht – allerdings meist im Kontext der Fernsehserie, für deren Dramaturgie die Hochtechnologie (Intensiv-, Transplantationsmedizin, etc.) genauso wichtig ist wie die nicht alltäglichen, pathetischen Probleme der handelnden Ärzte mit dem Privatleben ihrer Patienten.
Grundlagen von Mäßigung und Unmäßigkeit
Die Tugend der Mäßigung vervollkommnet das sinnliche Begehren.3 Die Tugend des Maßes erhält nicht nur die Ordnung des Strebens, im Gefüge der personalen leib-geistigen Einheit, sondern auch im Gefüge der sozio-kulturellen Interaktion. Schließlich ist es die Unmäßigkeit, die zu Überstürztheit, Unvernunft, Aggression und Brutalität verleitet und zugleich im Menschen die natürliche Neigung zerstört, anderen nützlich zu sein. Vielmehr ist nach Aristoteles die Tugend des Maßes die eigentliche Bewahrerin der Klugheit, wenn sie die Leidenschaft der Vernunft unterordnet. Dagegen stellt sich die Vernunft des Unmäßigen ganz in den Dienst der Sinnlichkeit, die wegen der Zügellosigkeit der Begierde nicht gesättigt werden kann.4
Die Mäßigung im Rollenbild des Arztes
Im allgemein-gesellschaftlichen Umgang ist die Mäßigung wohl angesehen, sofern sie mit Takt, höflicher Zurückhaltung, Sanftmut und Demut in Verbindung gebracht wird. Um so besser stehen diese Eigenschaften dem Arzt an, der trotz andauernder Heraus- und Überforderung die Geduld und Ruhe im Umgang nicht verliert. Wenn dem Arzt diese als „natürlich“ und „angenehm“ empfundene Verhaltensweise gelingt, wird er dafür bewundert. Wenn es ihm nicht gelingt, so ist die Patientenschaft bis zu einem gewissen Grad sogar bereit, ungemäße, weil unmäßige Ausbrüche ihrer Ärzte noch eher zu tolerieren als von Seiten irgendeiner anderen Berufsgruppe. Dies hängt wohl mit dem nach wie vor hohen Ansehen des Arztberufes in unserem Lande zusammen, welches zwar die Einräumung dieses Privileges bedingt, wenngleich in abnehmendem Maße: Sowie sich der Patient oder Versorgungswillige an den neueren Begriffen der Patientenrechte, der Autonomie und Aufklärungspflicht orientiert, wird die Ärzteschaft zunehmend vom Sockel der uneingeschränkten Ehrerbietung heruntergeholt (Paradigmenwechsel).
Die Leute werden sensibel dafür, wenn die lieben Ärzte aus Eitelkeit kein eingehendes Gespräch aufkommen lassen, eigene Sentimentalität nicht ausblenden können, welche der Eitelkeit sehr verwandt ist: ein solcher Arzt lässt sich von subjektiven Eindrücken und Gefühlen mehr leiten als der Sache dienlich ist. Er wird „unmäßig gefühlsbetont“ (Sentimentalismus), sein Denken und Handeln entraten der leitenden Klugheit.
Die konkreten Folgen können ein Übereifer in der Mobilisierung invasiver und aufwendiger diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen sein. Wenn beim in Ausbildung stehenden Arzt noch hingenommen wird, dass er aus Unkenntnis der Bedeutung, der Aussagekraft und der Kosten einer solchen Entscheidung handelt, so ist es heute untragbar, nur „des Interesses“ oder „der Vollständigkeit halber“ Unannehmlichkeiten, ja Schaden für die Patienten zu riskieren, womöglich verbunden mit hohen Material- und Personalkosten.
Kasuistik 1:
Ein 80-jähriger Mann, lebenslang starker Raucher, kommt wegen ausgeprägter Claudicatio intermittens zur Durchuntersuchung. In der Doppler-Sonographie stellt sich ein rechts-seitiger Femoralarterienverschluss (Beinarterienverschluss) dar. Gleichzeitig findet sich im Thoraxröntgen eine zentrale tumoröse Verschattung am linken Hilus mit vergrößerten Lymphknoten beiderseits des Mediastinums, wobei diesbezüglich keinerlei Beschwerden bestehen. Die Meinungen über das weitere Vorgehen sind geteilt, sie reichen von Bronchoskopie mit Biopsie über „gleich bestrahlen“ plus Chemotherapie bis hin zur Begrenzung auf die Therapie der Angiopathie. Die letzte Meinung setzt sich schließlich durch: der Patient profitiert ausgezeichnet von einer Dilatation und Stentimplantation seiner rechten Femoralarterie. Von nun an nimmt er 100mg Aspirin. Der Tumor wird – nach voller Aufklärung des Patienten über die wahrscheinliche Malignität – in größeren Abständen kontrolliert (3-monatig) und zeigt eine langsame Größenzunahme, ohne Beschwerden hervorzurufen. 11 Monate nach der Erstvorstellung erleidet der Patient eine Massenblutung im Gehirn und verstirbt innerhalb von drei Tagen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Bei der Nachbesprechung des Falles werden nochmals die günstigen Statistiken bei multimodaler Tumorbehandlung auch im Alter diskutiert. Damit soll vermieden werden, dass eine Unproportionalität im Sinne eines therapeutischen Nihilismus bei malignen Erkrankungen multimorbider, älterer Patienten in den Hirnen der in Ausbildung stehenden Ärzte hängenbleibt. Gleichzeitig gibt der Verlauf der Entscheidung recht, bezüglich des asymptomatischen Lungentumors nicht weiter aktiv geworden zu sein.
Kasuistik 2:
Ein 72-jähriger Patient wird wegen eines Coloncarcinoms hemicolektomiert. Zwei mesenteriale Lymphknoten sind positiv. Er erhält eine 6-monatige adjuvante Chemotherapie, die subjektiv schlecht vertragen wird (Übelkeit, Agranulozytosen, Thrombopenie, zuletzt eine Episode von Mucositis). Ein Jahr später treten drei Lebermetastasen auf, davon eine im rechten und zwei im linken Leberlappen. Der Patient erhält nunmehr eine lokale Chemotherapie mit Kanülierung der Arteria hepatica alle drei Wochen. Er verfällt allgemein (Inappetenz, Adynamie), während sich die Metastase im rechten Leberlappen eindeutig zurückbildet!
Darauf wird – einvernehmlich mit den Angehörigen und dem Patienten – die „Tumorfreiheit“ durch die Resektion des linken Leberlappens diskutiert. Sie wird schließlich auch durchgeführt. Doch der Patient verstirbt zwei Wochen postoperativ an einem septischen Zustandsbild.
Bei der Nachbesprechung des Falles wird versucht, jenen Zeitpunkt zu definieren, an dem man die letztlich tödliche Konsequenz der Handlungen noch hätte stoppen können. Die Meinungen prallen aufeinander, es wird keine Einigkeit erreicht. Es wird das „hohe Gut“ der Tumorfreiheit zwar von allen betont, allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, um welchen Preis diese anzustreben sei.
Die beiden Fälle zeigen, dass der Übereifer sehr häufig droht, sehr wohl therapeutisch als auch invasiv-diagnostisch. Eine euphorische Selbsteinschätzung (erfolgreiches Team mit hohem öffentlichen Ansehen) ist daher als möglicher Stimulus für Unmäßigkeit in Betracht zu ziehen. Andrerseits wäre es verfehlt, ein weniger gutes Team wegen eines notorischen therapeutischen Nihilismus zu loben.
Maßhalten im interkollegialen Umgang
Sowohl der Lernende als auch der Lehrer sind gehalten, die Kollegialität zu wahren, die da besteht in Loyalität (gegenseitige Unterstützung und Treue, auch nach außen), Takt und Eingehen auf die Bitten (Forderungen) der anderen. Auch das „Teilen der Arbeit“ durch Delegieren hat hier hohen Rang: Das An-sich-Reißen von Arbeit (... ich kann mich nur auf mich verlassen ...) und die Verhehlung der eigenen Überforderung stehen der Tugend des Maßhaltens jedenfalls entgegen.
Eine spezielle Situation hat sich durch das neue Selbstverständnis des Pflegeberufes ergeben. Hier sind notwendige Grenzziehungen erfolgt, denen zufolge eine Pflegeperson nicht mehr die „Bedienstete“ der Ärzte, sondern eine eigenverantwortlich agierende Kraft in freiwilliger, konstruktiver Kooperation ist. Allerdings wurde und wird gelegentlich übersehen, dass gerade im Rahmen einer solchen Umstellung die Mäßigung, die Zurücknahme seiner selbst, der gute Ton und das richtige Maß zwischen Toleranz und nötiger Korrektur herausgefordert wird.
Maßlosigkeit und „Burn-out-Syndrom“
Der Schwache, der sich aus diversen psychologischen Gründen nicht in der Lage sieht, die ihm übertragenen Aufgaben zu bewältigen, zögert dies kundzutun – aus Scham, mangelndem Selbstwertgefühl, etc. Seine „Tapferkeit" ist bald erschöpft; dennoch scheint er für die anderen über freie Valenzen zu verfügen, so dass ihm noch mehr aufgehalst wird (Nacht-, Bereitschaftsdienst, Urlaubsvertretungen, etc.), worunter er schließlich zusammenbricht. Es passieren Fehlleistungen wie vertauschte Blutkonserven, Medikamente oder Applikationsverwechslung, es können gerichtliche Klagen folgen, dann Alkohol, Drogen, ja sogar Selbstmord.
Paradoxerweise geht es dem selbstbewussten Kollegen nicht besser: Der Stolze verträgt nicht Kritik, geschweige Gehorsam und tut sich schwer mit der Anerkennung einer anderen Meinung, besonders wenn diese erfolgreicher zu sein verspricht als die eigene. So lässt es der stolze Mediziner gar nicht so weit kommen, dass man seine Grenzen oder sein Unvermögen sehen könnte. Er gibt sich den Anschein des Unnahbaren („Adler fliegen einsam“), ist aber gegen die Härten des Berufes genauso wenig gefeit wie der Schwache. Auch er kann sich nicht mitteilen (ausweinen, Supervision suchen) und schlittert ebenso in die psychophysische Erschöpfung, die dem inneren Raubbau folgt.
Die Tugend des Maßhaltens besteht also notwendigerweise darin, in Demut die eigenen Unzulänglichkeiten anzuerkennen und fähig zu werden, sich der eigenen Starrheit im Stolz/in der Schwäche bewusst zu werden – was in aller Regel nur durch Hilfe von außen gelingt (Kollegialität, Supervision).
Demut
Wenn das ärztliche Ethos so sehr mit dem Dienst an der Sache (wissenschaftliche Fundierung), an der Menschheit (humanitas, Anthropophilie), mit der hingebungsvollen Hilfestellung (Nächstenliebe) unter Relativierung von Eigeninteressen im Umgang mit den Patienten zusammenhängt, ist die Bereitschaft zum Dienen und damit zur Demut (mhd. Dien-muth) eine ständige sanfte Herausforderung.
Damit soll nicht der prinzipiellen Selbstbescheidung in der Wissenschaft das Wort geredet werden, wodurch jeder Fortschritt erlahmen müsste. Tatsächlich soll hier die „studiositas“ (Eifer, Offenheit für das Neue) zu ihrem Recht kommen, wobei ihr von Thomas von Aquin als Negativvariante die „curiositas“ (Neugier, ungehemmter Wissensdurst) entgegengestellt wird.5
Die letztere ist es, die mit dem „Zauberlehrling“ assoziiert wird und die neuerdings auch vor dem keimenden Leben (genetische Forschung z.B. an menschlichen embryonalen Stammzellen) nicht haltmacht. Die curiositas findet sich als natürlicher Wesenszug beim Kind, das die Welt entdecken möchte und dabei Schrammen an Körper und Seele hinnimmt, aber ohne anderen zu schaden. Die curiositas des Heranwachsenden ist dieser ersten Unschuld entwachsen und riskiert auch ein „nocere“ bei anderen Wesen (von ausgerissenen Fliegenbeinen bis zur Demütigung von Schulkameraden).
Spätestens ab diesem Stadium der Persönlichkeitsentwicklung ist das Nachdenken über sich selbst essentiell, das fast automatisch die Entwicklung der Tugenden einfordert. Hier ist die Parallele zur (postaduleszenten) Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes unübersehbar: Die Gerechtigkeit, aber auch die Klugheit der Unterscheidung von Machbarem („In meiner Macht Stehenden“) und Zuträglichem (Verantwortung), und schließlich die Tugend des Maßhaltens, welche die Begierden der curiositas mit dem Gegengewicht der Demut relativiert und mit der klugen Ummünzung in die kontrollierte studiositas sogar stillen kann, ist gefragt: In-vitro-statt in-vivo-Versuche, Zellkulturen (ex-vivo) statt organbezogene Experimente am Menschen (intra-vitam) etc. So weit, was die Wissenschaft in ihren Grenzbereichen und die Demut betrifft.
Der Dienst an der Menschheit ist ohne Demut nicht denkbar. Er hat zu tun mit dem Hintanstellen der eigenen Person, der Unterordnung in einer Institution, mit der Ausführung von Aufträgen als Teil eines großen Vorhabens und dem damit verbundenen Gehorsam. Jede „Unmäßigkeit“ im Sinne von Geltungsbedürfnis, Populismus, Mediengeilheit ist solchen Unternehmungen abträglich, so sehr in ihnen Privatinitiative, Klugheit im Umgang mit Medien und Subventionen, Tapferkeit und Gerechtigkeitssinn gefragt sind.
Die Demut im direkten Umgang mit Patienten ist wohl noch vielen ärztlichen Berufskollegen ein Fremdwort. Befremdlich wirkt, dass die neuerdings allerseits vermerkte Verselbständigung des Pflegeberufes – wie oben angedeutet – zu einem vorübergehenden Verlust an der Dienstbereitschaft zu führen scheint. Die an sich längst fällig gewesene Aufwertung des Selbstverständnisses der Schwestern und Pfleger ist rühmend hervorzuheben, wenngleich im ersten Überschwang die Aufkündigung der Kooperation mit dem Ärzteteam drohte, wohl als Überreaktion auf die traditionelle, mancherorts entwürdigende Reduktion des Berufsbildes der Schwestern und Pfleger zum Bedienungspersonal der Ärzte, anstatt sie in ihrer Würde als verantwortliche Diener am Gesamtwerk der medizinischen Institution zu bestätigen. So ist die Demut der Ärzteschaft als kollektives Herabsteigen vom hohen Ross der „Anschaffer“ ebenso als Ausfluss der Tugend des Maßes zu sehen, wie die „Rückgratstärkung“ des Pflegeberufes nicht zu einer disproportionalen Hybris führen darf. Hier ist es wieder die temperantia, die den individuellen Höhenflug kontrolliert und optimiert.
Schlussfolgerungen
Die Tugend des Maßhaltens (Temperantia) ist ein hohes Gut, doch nicht unerreichbar. Sie tritt dort in Erscheinung, wo die Unmäßigkeit der vorschnellen Entscheidungen in Dialog (reflektiertes Zuhören) mündet, wo der Stolz oder seine kleine Schwester, die Eitelkeit, sich mit Feinfühligkeit und Offenheit einlässt, um mindestens einen Hauch von Demut zu akquirieren. Das Maßhalten ist im Umgang mit Patienten in Krisensituationen gefragt, besonders wenn überbesorgte bzw. kritische Angehörige die Situation komplizieren. Die Temperantia zügelt den Paternalismus alter Prägung, der aus großer Höhe und prinzipiell vom Fußende des Bettes agiert. Die „selbstische Selbstbewahrung“ weicht – an der Hand der Mäßigung – der Gerechtigkeit, die die Autonomie des Patienten fördert.
Die Tugend des Maßhaltens steht dann für die Fähigkeiten des Innehaltens, des Dialogs, der Reflexion, des klugen Kompromisses und auch der freiwilligen Selbstbeschränkung in Urteil und Handlung, verbunden mit einer unenttäuschbaren Liebe zur leidenden Menschheit.
Referenzen
- Der Begriff „der Arzt“ steht für die geschlechtsneutrale Berufsbezeichnung bzw. für Personen beiderlei Geschlechts in Ausübung des Arztberufes.
- Pieper, Josef, Das Viergespann, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, Kösel Verlag, München (1964)
- Rhonheimer, Martin, Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlegung der Tugendethik, Akademie Verlag, Berlin (2001)
- Hobbes, Thomas, Leviathan. Zitiert in: Rhonheimer, Martin, Die Perspektive der Moral, S.216
- Zitiert in: Pieper, Josef, Das Viergespann, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, Kösel Verlag, München (1964)
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
Vorstand der 2. Med. Abteilung/Lungenabteilung
Wilhelminenspital der Stadt Wien
Montlearstraße 37, A-1171 Wien