Wann kann ein Mensch mit moralischer Gewissheit als tot angesehen werden?

Imago Hominis (2000); 7(4): 251-253
Alfred Sonnenfeld

In der öffentlichen Diskussion ist es bisher umstritten gewesen, ob das Hirntod-Kriterium zur eindeutigen Feststellung des Todes mit dem Lehramt der Katholischen Kirche vereinbar sei. Die klärenden Worte, die der Papst anlässlich eines Internationalen Kongresses zu Fragen der Organverpflanzungen am 29. August 2000 an Wissenschaftler aller Welt richtete, legen dies jedoch nahe1. Seine Ausführungen decken sich dabei im Wesentlichen mit dem neuen in Deutschland geltenden Transplantationsgesetz.

Am 1.12.1997 trat in Deutschland das „Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen“ vom 5.11.1997 in Kraft. Die Bestimmungen dieses Gesetzes können unter dem Begriff der „erweiterten Zustimmungslösung“ zusammengefasst werden. Eine Organentnahme kann erfolgen, wenn die Einwilligung des Organspenders vorliegt oder wenn Verwandte ersten und zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte und Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen, Auskunft über die Meinung des Spenders zu Lebzeiten gegeben haben. Modelle, die eine Entnahme unter Notstandsgesichtspunkten rechtfertigen oder die eine Entnahme dann zulassen, wenn kein Widerspruch vorliegt, sind unerlaubt2.

Im zweiten Abschnitt legt das Deutsche Transplantationsgesetz die Voraussetzungen fest, unter denen Organentnahmen bei Verstorbenen zulässig sind. Der Hirntod gilt als sicheres Zeichen für den eingetretenen Tod eines Menschen. Die Kriterien für den Hirntod stellten die Hauptstreitpunkte im Ringen um das Transplantationsgesetz dar. Sie schienen einigen Kritikern nicht sicher genug zu sein. „Hirntote Patienten seien irreversibel Sterbende, als solche aber noch Lebende“ so wurde von einigen behauptet. Für die Befürworter der „engen Zustimmungslösung“ stellt der Hirntod kein sicheres Todeszeichen dar. Eine Organentnahme würde damit eine Tötung bedeuten. Zugleich erkennen die Vertreter der „engen Zustimmungslösung“ aber an, dass die Patienten über das sogenannte „Rest-Leben“ zu Lebzeiten verfügen können. Die ex-ante-Einwilligung des Organspenders ist somit unabdingbare Voraussetzung für eine Organentnahme3.

Johannes Paul II. hebt bei seiner Ansprache die ethische Bedeutung hervor, „unentgeltlich einen Teil des eigenen Körpers für die Genesung und das Wohlbefinden eines anderen zur Verfügung zu stellen. Eine Geste, die eine wahre Tat der Liebe ist“. „Jedes Verfahren, das zur Kommerzialisierung menschlicher Organe führt oder sie als Tausch- oder als Handelsware betrachtet, gilt als unmoralisch, weil der menschliche Leib als Objekt gebraucht wird und ist deshalb unerlaubt“ (Johannes Paul II., 29.8.2000).

Bevor der Papst die Hauptfrage der eindeutigen Feststellung des Todes aufgreift, geht er zunächst auf das einzigartige Ereignis des Todes als „Auflösung des integrierten Ganzen“ ein. „Der Tod resultiert aus der Trennung des geistigen Lebensprinzips (oder der Seele) von der leiblichen Wirklichkeit der Person. Der in dieser ursprünglichen Bedeutung verstandene Tod der menschlichen Person ist ein Ereignis, das durch keine empirische Methode identifiziert werden kann“ (Johannes Paul II., 29.8.2000).

Der Arzt kann nicht sagen: „In diesem Moment tritt der Tod ein“, wohl aber: „Der Tod ist bereits eingetreten“. Den Tod in seiner existentiellen Dimension zu definieren, fällt der Philosophie und Theologie zu; den Tod als bereits eingetretenen Ist-Zustand festzustellen, obliegt der Medizin. Arzt und Philosoph meinen zwei verschiedene Dinge, wenn sie vom Tod sprechen. Beide Gesichtspunkte widersprechen sich nicht; sie ergänzen einander4. Hirntod und Personaltod sind aufeinander bezogen, aber nicht identisch. Ein solches Verhältnis stellt auch nicht einen kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Realitäten fest, da sie zu verschiedenen Ebenen gehören: der medizinischen und philosophischen. Korrelation besteht darin, dass sich psychische und seelische Phänomene bestimmten Mechanismen zuordnen lassen, die sich im Gehirn abspielen, also an ein materielles Substrat gebunden sind. Die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele wird nicht mehr nur Gegenstand philosophischer Diskurse, sondern auch ein zentrales Thema der Hirnforschung5. Akzeptiert man, dass das Gehirn eine unerlässliche Rolle bei der Hervorbringung unserer Vorstellungsbilder spielt, dann könnten wir uns einen logischen Zusammenhang zwischen der modernen Hirnforschung und der geisteswissenschaftlichen Position vorstellen. Diese Brücke erlaubt uns, ein Verhältnis zwischen der empirischen und der begrifflichen Position über den Tod zu vertreten; es ermöglicht uns, mit moralischer Gewissheit von der einen auf die andere Position zu schließen. Anders gewendet: nach der exakten Feststellung aller notwendigen und ausreichenden Hirntod-Kriterien können wir mit moralischer Gewissheit schließen, dass die Person tot ist. Leib und Seele haben sich bereits getrennt. Der Leib bildet dann nicht mehr eine abgeschlossene Ganzheit, deren Lebensdynamik integrativen Selbstgestaltungscharakter hätte. Der Leib ist als solcher ein physiologischer Organverbund, bei dem bestenfalls eine Ordnung von außen, nicht aber eine Ordnung von innen heraus besteht6.

Man könnte einwenden, die Medizin könne lediglich eine Teilansicht über den Tod vermitteln. Aber es ist dennoch eine reale Teilansicht, die durch den Zustand ex post gekennzeichnet ist. Die Medizin kann den Tod als bereits eingetretenes Ereignis feststellen. Der Tod wird damit von ihr nicht definiert, wohl aber beschrieben und damit dokumentiert. Todesfeststellung und Todesdefinition sind zwei verschiedene Dinge, die in Korrelation zueinander stehen. Todesdefinition im medizinischen Sprachgebrauch meint bestimmte Kriterien, die den Tod konstatieren. Der zuweilen gebrauchte, verwirrende Ausdruck: „Neudefinierung des Todes“ bezieht sich auf neue, gegebenenfalls sichere Kriterien, um fehlerlos den Zustand des exitus letalis zu dokumentieren. Damit ist nicht der Tod in seinem Wesen „per ärztlichen Beschluss" verändert worden. Der Tod bleibt immer derselbe, sowohl unter den klassischen, als auch unter den neuen Kriterien. Insofern ist es irreführend, wenn einige Autoren den Hirntod nur für bestimmte Ausnahmesituationen anerkennen wollen, nämlich, wenn ein Gerät zu Reanimationszwecken abgeschaltet wird oder eine Organtransplantation bevorsteht. Ansonsten orientiert man sich weiterhin nach den klassischen Todeskriterien wie Stillstand von Atmung und Kreislauf. Diese unterschiedliche Todesbeschreibung wäre sowohl für die ärztliche Praxis wie auch für die Rechtswissenschaft ein unerträglicher Zustand und hat auch in der Öffentlichkeit zu einer verständlichen Unruhe beigetragen.

Wie seine Vorgänger überlässt es der Papst den Ärzten die Hauptfrage: „Wann kann ein Mensch mit absoluter Sicherheit als tot angesehen werden?". Bereits in der Ansprache vom Jahre 1989 sagte Johannes Paul II.: „Die Wissenschaftler, die Forscher und die Gelehrten müssen ihre Forschungen und Studien weiterführen, um den genauen Zeitpunkt und das unabweisbare Zeichen des Todes so genau wie möglich festzustellen“7.

In der mehrfach erwähnten Ansprache vom 29. August 2000 erklärt der Papst: „Hier kann darauf hingewiesen werden, dass das heute angewandte Kriterium zur Feststellung des Todes, nämlich das völlige und endgültige Aussetzen jeder Hirntätigkeit, nicht im Gegensatz zu den wesentlichen Elementen einer vernunftgemäßen Anthropologie steht, wenn es exakt Anwendung findet. Daher kann der für die Feststellung des Todes verantwortliche Arzt dieses Kriterium in jedem Einzelfall als Grundlage benutzen, um jenen Gewissheitsgrad in der ethischen Beurteilung zu erlangen, den die Morallehre als „moralische Gewissheit“ bezeichnet. Diese moralische Gewissheit gilt als notwendige und ausreichende Grundlage für eine aus ethischer Sicht korrekte Handlungsweise. Nur wenn diese Gewissheit besteht und die Einwilligungserklärung (Patientenverfügung) des Spenders oder seines rechtmäßigen Vertreters bereits vorliegt, ist es moralisch vertretbar, die technischen Maßnahmen zum Entnehmen von zur Transplantation bestimmten Organen einzuleiten.“

In der Morallehre versteht man unter moralischer Gewissheit jene Erkenntnisklarheit, bei der Zweifel ausgeschlossen sind. Demzufolge bedeutet, den Hirntod mit moralischer Gewissheit festzustellen, dass alle geforderten Hirntod-Kriterien erfüllt sein müssen. Nur dann gilt der Hirntod als der Tod des Menschen. Damit ist klargestellt, dass ein Arzt, der sich so verhält, ethisch einwandfrei handelt.

Referenzen

  1. Vgl. Johannes Paul II., Handel mit menschlichen Organen verletzt die Menschenwürde. Ansprache von Johannes Paul II. am 29. August, in: L’Osservatore Romano (deutsche Ausagabe) vom 15. September 2000.
  2. Vgl. Kühn, H.Ch., Das neue deutsche Transplantationsgesetz, in: Medizinrecht, 10 (1998) S. 455-461.
  3. Vgl. Ebda: S. 456.
  4. Vgl. Sonnenfeld, A., Wer oder was ist tot beim Hirntod? Der Hirntod in ethischer Perspektive, in: Forum Katholische Theologie, 1 (1994) S. 30-59.
  5. Vgl. Singer, W., Ignorabimus? - Ignoramus, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. September 2000, S. 52 und vom gleichen Autor: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. September 2000, S. 10.
  6. Vgl. Bonelli, J., Leben-Sterben-Tod, in: Schwarz, M., Bonelli, J., Der Status des Hirntoten, Wien (1995) S. 90-91.
  7. Vgl. Johannes Paul II, Ai partecipanti all’incontro promosso dalla Pontificia Accademia delle Scienze sulla Determinazione del momento della morte, in: Insegnamenti die Giovanni Paolo II, XII, 2, Vaticana (1991) S. 1528.

Anschrift des Autors:

Dr. theol. Dr. med. Alfred Sonnenfeld
Lehrbeauftragter für Ethik in der Medizin
Möckernstraße 68
D-10965 Berlin

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