Editorial
Die Zahl der Drogentoten ist laut aktuellem Jahresbericht der Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht der Europäischen Union (EMCDDA) im Jahr 2015 zum dritten Mal in Folge gestiegen. In den 28 Mitgliedstaaten der EU sowie in der Türkei und Norwegen starben 2015 den Angaben zufolge 8.441 Menschen an einer Überdosis. Dies sind um sechs Prozent mehr Todesfälle im Zusammenhang mit Suchtgiftkonsum im Vergleich zu 2014, heißt es in dem Anfang Juni 2017 in Brüssel präsentierten Report. EU-weit stammten 31 Prozent der Drogenopfer 2015 aus Großbritannien 15 Prozent aus Deutschland. 78 Prozent der Opfer erlagen den Folgen einer Überdosis Kokain oder Opioiden (vor allem Heroin, Morphin, synthetische Opioide). Mehr als drei Viertel der Opfer waren Männer. Auch in Österreich stieg die Mortalitätsrate an: Sie liegt mit 26,4 pro Million Einwohner über dem EU-Durchschnitt von 20,3. Im Jahr 2015 gab es 153 Drogentote.
Derzeit leben 1,3 Millionen Menschen in Europa, die wegen ihrer schweren Sucht als besonders gefährdet gelten. Rund 93 Millionen Erwachsene haben bereits einmal in ihrem Leben illegale Drogen konsumiert – das entspricht einem Viertel aller 15- bis 64-jährigen EU-Bürger. Die am häufigsten probierte Droge ist Cannabis (53,8 Mio. Männer und 34,1 Mio. Frauen). Besorgniserregend sei vor allem, „dass junge Menschen vielen neuen und gefährlichen Drogen ausgesetzt“ seien, erklärte laut einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts der für Inneres zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos anlässlich der Präsentation des Drogenberichts in Brüssel.
Zu diesen zählen sog. Fentanyle, die eigentlich als Schmerzmittel bei Narkosen eingesetzt werden: 60 Prozent der entdeckten neuen psychoaktiven Substanzen waren Fentanyle. Sie hätten eine zum Teil „um ein vielfaches stärkere Wirkung als Heroin“, heißt es in dem Drogenbericht. Durch Hautkontakt oder Einatmen könnten auch Dritte gefährdet werden. Anfang dieses Jahres untersuchte die Beobachtungsstelle zwei solcher Stoffe, mit denen mehr als 50 Todesopfer in Verbindung gebracht wurden. Die am meisten in Europa konsumierten Drogen bleiben laut EMCDDA aber Kokain und Ecstasy (MDMA) sowie Amphetamine.
Eine besondere Sorge gilt den Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Rund 16,6 Millionen junge Europäer (15 bis 34 Jahre) haben im Jahr 2015 Cannabis konsumiert, das entspricht 13,3 Prozent dieser Altersgruppe. Experten warnen seit einigen Jahren vor einer Verharmlosung des „Kiffens“ in der Jugend. Sie appellieren an Ärzte, mehr in die Aufklärung zu investieren, und warnen vor einer Legalisierung der Droge für nicht-medizinische Zwecke. Erst kürzlich kam dazu ein klares Bekenntnis seitens der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
So sprach sich der Innsbrucker Psychiater Wolfgang Fleischhacker (Medizinische Universität Innsbruck) anlässlich der Jahrestagung der ÖGPP strikt gegen eine Freigabe von Cannabis aus, die über die medizinische Anwendung hinausgeht. Mit der Legalisierung von Hanfprodukten würde man die „Büchse der Pandora öffnen“. Cannabis sei eindeutig eine suchterzeugende Substanz. Studien zeigen, dass Jugendliche mit regelmäßigem Cannabiskonsum deutlich öfter unter Angststörungen und Depressionen leiden. Das Risiko, später an einer Schizophrenie zu erkranken, steigt laut Experten um das Vierfache – und dies gilt selbst dann noch, wenn sie irgendwann wieder ganz mit dem „Kiffen“ aufhören.
Die Verwendung des Cannabis-Wirkstoffs THC (Tetrahydrocannabinol) für medizinische Zwecke ist in Österreich erlaubt. Sie können bei Multipler Sklerose Muskelkrämpfe entspannen, den Appetit bei Krebspatienten steigern oder Schmerzen lindern. Während diese THC-Medikamente ausschließlich bekannte und geringst dosierte Inhaltsstoffe der Cannabispflanze enthalten, hat diese weit über 100 andere Wirkstoffe, über deren Wirkung und Nebenwirkung man kaum etwas wisse, sagt Fleischhacker. Selbst im medizinischen Bereich brauche es noch weitere und auch substanziellere Studien.
Aus ethischer Perspektive ist Drogenkonsum in mehrfacher Hinsicht problematisch und bedarf einer Lösungsstrategie, die den Menschen in seiner Ganzheit in den Blick nimmt. Die Selbstzerstörung und das Aufgeben der eigenen Würde durch den Drogenkonsum beeinträchtigen nicht nur das körperliche und seelische Wohlergehen, sondern engen den Menschen in seiner Fähigkeit zu Gemeinschaft und Hingabe ein. Indem der Mensch beginnt, Drogen zu nehmen, beginnt ein Zerstörungsprozess des Familienlebens (Missbrauch des Vertrauens, Entfremdung, psychische Belastung usw.). Die Zersetzung der Familie wirkt sich unweigerlich auf ihr gesellschaftliches Umfeld aus.
Es ist wichtig, dass die Drogenproblematik nicht bloß auf eine individualethische Problematik reduziert wird. Manchmal werden Menschen durch die Brutalität der Gesellschaft an den Rand gedrängt und flüchten in den Drogenkonsum als eine Art Trost. Es ist daher nicht damit getan, Drogenkonsum zu verbieten oder die Drogenproduktion einzudämmen. Vielmehr soll das Drogenphänomen auch dazu führen, dass die Gesellschaft über die sozialen Ursachen der Entstehung des Phänomens nachdenkt und Konsequenzen zieht – auch hinsichtlich ganzheitlicher Therapiemodelle.
Monika Feuchtner (IMABE, Wien) bringt in der vorliegenden Ausgabe einen Überblick zur aktuellen Debatte über Drogenkonsum, die rechtliche Lage im internationalen Kontext sowie Auswirkungen des Konsums illegaler Drogen.
Michael Soyka (Psychiatrische Universitätsklinik LMU München) erläutert die neurobiologischen Grundlagen von Sucht. Das sog. Suchtgedächtnis ist durch suchtspezifische oder assoziierte Reize immer wieder aktivierbar. Die Rückfallgefährdung bleibe bei den meisten Patienten mit Drogenabhängigkeit daher auch im Langzeitverlauf sehr hoch, so Soyka.
Die Psychiaterin und Suchtexpertin Claudia Botschev, langjährige Leiterin einer Fachambulanz für Suchtkranke in München, zeigt auf, dass die Integration von Sinn- und Wertfragen oder auch Spiritualität in die Behandlung suchtkranker Menschen ein hilfreiches Element darstellen, das aus der Tabuzone geholt werden sollte.
Dominik Batthyány, Leiter der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltenssucht (Sigmund Freud PrivatUniversität Wien) stellt das Thema Prävention in den Mittelpunkt: Substanzmissbrauch kann als Versuch verstanden werden, unzureichende Bindungsstrategien zu ersetzen. Positive Bindungserfahrungen innerhalb der Familie seien entscheidend für das seelische Wohlbefinden und die Entwicklung von Lebenskompetenzen.