Lebenswissenschaften und Ethik. Anmerkungen zu einer neuen Kategorisierung in den Naturwissenschaften und zu ihren ethischen Implikationen

Imago Hominis (2008); 15(3): 247-258
Christian R. Noe

Zusammenfassung

Die derzeit ablaufende „industrielle Revolution der Denkmaschinen (Computer)“ bedingt eine weitgehende Umgestaltung der Wissenschaften und ihres Betriebes. In diesem Beitrag wird am Beispiel der Lebenswissenschaften der Versuch gemacht, anhand der Abfolge „Wahrnehmen – untersuchen – wissen – mit Geschick umsetzen“ aufzuzeigen, dass alle Phasen wissenschaftlicher Tätigkeit mit ethischen Fragen intrinsisch verknüpft sind. Eine „ethische Krise der Wissenschaften“ kann vermieden werden, wenn es gelingt, ein neues Selbstverständnis der Naturwissenschaftler und einen gesellschaftlichen Konsens über die Bedeutung verantwortungsbewussten Handelns in den Wissenschaften herbeizuführen.

Schlüsselwörter: Integrative Lebenswissenschaften, Ethik, Revolution der Denkmaschinen

Abstract

The presently ongoing „industrial revolution of computers (thinking machines)“ has caused a comprehensive reshaping of science and scientific undertaking. This contribution refers to the field of life sciences. Along the sequence “to notice – to investigate – to know – to act skillfully” the attempt will be made to demonstrate that all phases of scientific activities are intrinsically connected with ethical implications. An “ethical crisis of science” can be avoided if a new self-conception of scientists can be achieved together with a societal consensus on the importance of responsible conduct in science.

Keywords: Integrative Life Sciences, Ethics, Computer Revolution


Einleitung

„Bioethik“ ist heute ein großes Thema: „Grüne, rote und weiße Gentechnologie“1 mit speziellen Themen wie „gentechnisch veränderte Lebensmittel“, „Präimplantationsdiagnostik“, „Mensch-Tier-Chimären“ oder „Forschung mit embryonalen Stammzellen“ seien beispielhaft für eine Reihe von brisanten Fragen genannt, welche in der Gesellschaft heiß diskutiert werden. In diesem Beitrag werden allerdings nicht ethische Probleme im Einzelnen behandelt. Es wird vielmehr – ausgehend von der Situation der Universitäten – der Versuch gemacht, aufzuzeigen, dass es in Anbetracht der Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung nicht ausreichen wird, die jeweils neu auftretenden ethischen Fragen einzeln „abzuarbeiten“. Herausgefordert durch die „industrielle Revolution der Denkmaschinen (Computer)2 befindet sich die Welt der Wissenschaften insgesamt in einem fundamentalen Umgestaltungsprozess, welcher mehr und mehr eine „ethische Krise der Wissenschaften“ bedingen wird, falls es nicht gelingt, ein neues Selbstverständnis der Naturwissenschaftler und in der Folge einen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen, bei dem ethische Implikationen in allen Phasen des wissenschaftlichen Handelns einen gebührenden Stellenwert erhalten.

Von der „Biologie“ zur „Lebenswissenschaft“

Europaweit werden derzeit Universitäten reformiert. Mit dem Universitätsgesetz des Jahres 20023 wurde eine Reform des österreichischen universitären Systems mit weitreichenden Konsequenzen in die Wege geleitet. Dabei wurden auch die bestehenden Fakultäten der Universität Wien einer Neuordnung unterzogen. Im Zuge der Maßnahmen wurde ein großer Teil der bisherigen Fakultät für Naturwissenschaften und Mathematik in eine „Fakultät für Lebenswissenschaften“ zusammengeführt. Der Begriff „Lebenswissenschaften“ wurde bewusst an Stelle einer „klassischen“ Bezeichnung wie „Biologie“ gesetzt, um auch durch die Namensgebung der Fakultät jener fortschreitenden Entwicklung der wissenschaftlichen Welt Rechnung zu tragen, bei der sich die Grenzen der bisherigen wissenschaftlichen Disziplinen auflösen und an ihre Stelle große Fragestellungen des Menschen und der Gesellschaft treten. „Heraus aus dem Elfenbeinturm!“ oder „Life Science in Society4 sind Schlagworte, die diese Tendenzen illustrieren. Im Falle der Lebenswissenschaften eröffnen vor allem auch Fragen zur Ernährung, Gesundheit, Umwelt, zur Vielfalt des Lebens und zum Verständnis der „Systeme des Lebendigen“ („systems biology“) große Felder mit bedeutenden Zielsetzungen. Damit sind im Übrigen auch die großen Forschungsthemen der neuen Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien benannt.5

Die industrielle Revolution der „Denkmaschinen“

Natürlich fragt man sich, warum sich gerade jetzt die Wissenschaften neu orientieren und die Universitäten weltweit oder zumindest europaweit reformiert werden. Tatsächlich sind wir seit etwa 50 Jahren inmitten einer sehr dynamisch verlaufenden Entwicklung, die verkürzt als das „Wachsen der Computerwelt“ bezeichnet werden kann. Mehr und mehr haben Computer Aufgaben übernommen, die bisher von Menschen erledigt wurden. Aus einer „in vivo6-Denkwelt des Menschen ist eine virtuelle „in silico7-Welt mit einer eigenen Dynamik erwachsen. Natürlich ist diese Entwicklung gerade für die Wissenschaften mit ihren „Kopfarbeitern“ von besonderer Relevanz. Es ist jedoch bemerkenswert, dass in den Reformdiskussionen der akademischen Welt die Brisanz dieser Entwicklung relativ wenig wahrgenommen und kaum unmittelbar angesprochen wird. Bücher wie „Brave New World8, „19849 oder „Fahrenheit 45110, die noch vor dreißig Jahren viel diskutiert waren, kennt unter den jüngeren Generationen kaum noch jemand, und doch sind die dort voraus gedachten Szenarien heute aktueller denn je. Die Ursache, die eine Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt im Allgemeinen und der Universitäten im Speziellen bedingt, ist somit klar. Ihre unausweichlichen und potentiellen Konsequenzen sind jedoch derzeit noch zu wenig thematisiert und beeinflussen die Entscheidungen höchstens unterschwellig.

Wissenschaft als „produzierender“ Vorgang

Zur Analyse der Auswirkung der „in silico“-Revolution11 auf die Wissenschaften bedarf es zunächst einer Konvention, was Wissenschaft überhaupt ist. Diese wird ja in verschiedenster Weise definiert. Eine besonders originelle Interpretation, was Wissenschaft sein kann, lässt sich aus dem Deckenfresko im Festsaal der Alten Universität in Wien – jetzt der Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – ableiten, die die Allegorie der Wissenschaften darstellt.12 An den vier Seiten des Gemäldes finden sich bemerkenswerte Abbildungen der vier Fakultäten: „Divinarum Rerum Notitia“ steht für die Theologische Fakultät geschrieben. Unter der Abbildung der Philosophischen Fakultät findet sich der Schriftzug: „Causarum investigatio“. „Iusti atque iniusti scientia“ steht für die Juridische Fakultät. Die Medizinische Fakultät schließlich ist mit „Ars tuendae et reparandae valetudinis" bezeichnet.13 Die Begriffe „Notitia“ – „Investigatio“ – „Scientia“ und „Ars“ sind zwar jeweils mit einer der Fakultäten verbunden, für welche sie vom Künstler als besonders charakteristisch empfunden wurden, dennoch treffen sie grundsätzlich für jede der Fakultäten zu. Die Abfolge „Notitia“ – „Investigatio“ – „Scientia“ und „Ars“ kann zugleich auch mit den einzelnen Schritten im Prozess des Erkenntnisgewinnes gleich gesetzt werden: „Wahrnehmen – untersuchen – wissen – mit Geschick umsetzen“:

Neue Schwerpunkte in den Aufgaben der Wissenschaftler

„Wahrnehmen – untersuchen – wissen – mit Geschick umsetzen“ bedeutet zugleich eine sehr umfassende Sicht über das, was unter Wissenschaft zu verstehen ist. Gerade diese Definition kann sehr hilfreich sein, um den Wissenschaftsbegriff aus der Enge mehr oder minder ausgetretener Pfade von Klassifizierungen herauszuführen. Zu sehr sind die Naturwissenschaftler heutzutage in der „causarum investigatio“ – der Erforschung der Ursachen – verhaftet, die nicht zuletzt auch das fundamentale Motiv der Grundlagenforschung ist. Es besteht kein Zweifel, dass der Siegeszug der Naturwissenschaften in den vergangenen 300 Jahren auf der Zuverlässigkeit der Ergebnisse einer im Wesentlichen reduktionistischen Experimentalforschung beruht. Die Abfolge „neue Erkenntnisse – experimentelle Techniken – industrielle Technologien“ hat zudem eine Rückkoppelung gefunden und zu einer atemberaubend komplexen Großgeräteforschung geführt, die es erlaubt, mit Hilfe immer aufwendigerer Instrumente immer tiefer in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Der Forscher ist dann „nichts“ ohne sein Gerät. Hand in Hand mit der industriellen Technologisierung der Wissenschaften ist der Utilitarismus zur treibenden Kraft des Fortschrittes geworden.

So wie die Instrumentalforschung nicht zuletzt ein Produkt der „mechanischen" industriellen Revolution ist, wird die Forschung heutzutage immer mehr durch die Technologien der „in silico“ Revolution bestimmt.14 Es ist zu erwarten, dass die Auswirkungen der „Denkmaschinen“ naturgemäß für die Wissenschaft – natürlich auch für die Gesellschaft insgesamt – ganz besonders gravierend sein werden und heute noch in ihrem Ausmaß kaum absehbar sind.15

Wenn also die Felder „investigatio“ und „scientia“ in Zukunft mehr und mehr von maschineller Tätigkeit, sozusagen „enthumanisiert“, determiniert sein werden, so bedeutet das keineswegs, dass der typische Wissenschaftler der Zukunft primär ein „Bediener" von Maschinen sein wird. Die Steigerung der Effizienz in diesen Bereichen durch Maschinen und Instrumente wird vielmehr den Freiraum für einen neuen Typ von Wissenschaftler schaffen, dessen Augenmerk vor allem auf „notitia“ und „ars“ gerichtet sein kann. Das Finden und Aufgreifen von wichtigen Fragestellungen und die „kunstvolle“ Umsetzung neu gewonnenen Wissens sind jene faszinierenden Bereiche der Wissenschaft, in welchen diese sich mit ihrer Tätigkeit unmittelbar in die Gesellschaft einbringt: „Life Science in Society16 heißt die große Herausforderung für die besten Köpfe.

„Integrative Lebenswissenschaften“

Was sind nun die Fragen der Gesellschaft, zu deren Lösung die Lebenswissenschaften beitragen können? Große Themen wurden bereits vorher genannt. Wenn man nun als spezielle Themen, etwa „der gläserne Mensch17, Bewusstsein oder Altern erwähnt, so wird unmittelbar die neue Dimension der Wissenschaft der Zukunft evident: Die Perspektive einer Forschung über das Altern reicht vom Genetiker und Zellbiologen bis hin zum Soziologen. Nicht umsonst wurde mittlerweile der Begriff „integrative Lebenswissenschaften18 geprägt. Zu integrieren – auf dem Weg des Dialogs und der konstruktiven Zusammenarbeit – sind nunmehr die verschiedensten Wissenschaften, manchmal sogar die theologische Wissenschaft. Im „Age of the Brain“ gilt es vor allem das Schisma zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu überbrücken und umfassende Ansätze zur Lösung der großen Fragen zu finden.

Typischerweise würde heute ein Wissenschaftler das Thema „Ethik“ nicht als intrinsisch mit seiner Arbeit verbunden sehen. Akut auftretende ethische Fragen werden in bestehende Ethikkommissionen „outgesourct“. Der Wissenschaftler hofft, dass diese sein Tun billigen mögen, und fühlt sich primär – wenn er ein tüchtiger Wissenschaftler ist – seiner Suche nach neuer Erkenntnis verpflichtet. Wenn man allerdings vom Biologen der Zukunft erwartet, dass er ein „integrativer Lebenswissenschaftler“ sein möge, dann wird ein Selbstverständnis, das alleine der logischen Erkenntnis verpflichtet ist, selbst unmittelbar zu einer reduktionistischen Einschränkung des eigenen Tuns. Wenn er dem Anspruch einer integrativen Wissenschaftlichkeit gerecht werden will, darf er seine Bemühungen nicht auf die wunderbare Welt der Logik der Naturwissenschaften beschränken. Vielmehr muss er sich viel unmittelbarer als bisher mit einer Reihe weiterer Themen – darunter auch die Ethik – befassen, welche man – besonders im 20. Jahrhundert – lieber der Theologie, der Philosophie und den Gesellschaftswissenschaften überlassen hat.

Eine kurze Revue ethischer Probleme

Tatsächlich gibt es fast keinen Bereich des wissenschaftlichen Handelns, in dem ethische Fragestellungen nicht von Bedeutung wären. Nur exemplarisch und kursorisch sollen in der Folge einige Beispiele für grundsätzliche Probleme entlang der Linie: „Notitia“ – „Investigatio“ – „Scientia“ und „Ars“ angedeutet werden.

Ad „notitia“

Kaum etwas verlangt ein größeres Gespür für die eigene Wissenschaft als die Wahrnehmung eines neuen Problems und die Schaffung der Rahmenbedingungen für dessen zuverlässige Bearbeitung. So haben Millionen von Menschen im Lauf der Geschichte Graugänse beobachtet. Und doch blieb es Konrad Lorenz vorbehalten, aus solchen Beobachtungen eine Wissenschaft zu machen. Allerdings kommt es in diesem Zusammenhang nicht nur auf die „Kunst“ der Wahrnehmung eines Problems und in der Folge der Formulierung einer Themenstellung für eine Forschungsarbeit an. Es müssen auch die Voraussetzungen für die Umsetzung gegeben sein.

  • „Sire geben Sie Gedankenfreiheit“ heißt es in Don Carlos.19 Die Freiheit des kritischen Denkens ist zweifelsohne ein unverzichtbares Element einer offenen Gesellschaft. Das sollte stets bedacht werden. In gleicher Weise muss jedoch klar sein, dass „Freiheit des Denkens“ keinesfalls zwangsweise die „Freiheit zum Handeln“ bedingt. Seit Menschengedenken wogt der Streit über die Frage, was überhaupt gedacht, gesprochen, geforscht oder getan werden darf. Auf der einen Seite stehen Tabuisierung und gewünschte oder verhängte Verbote von bestimmten Forschungen. Auf der anderen Seite werden die Freiheit der Forschung oder das Primat der intellektuellen Neugier ins Treffen geführt, um das jeweilige Tun zu rechtfertigen. Von religiösen Verboten bis hin zur „politischen Unkorrektheit“ spannt sich ein weiter Bogen von heftig diskutierten Themen von hoher ethischer Relevanz.
  • Das für die tägliche Arbeit des Wissenschaftlers eigentlich größte Problem hängt primär damit zusammen, dass – wie erwähnt – naturwissenschaftliche Forschung immer aufwendiger und kostspieliger wird. Ob ein Projekt durchgeführt wird oder nicht, ist daher vor allem eine Frage der Finanzierung. Man muss also naturwissenschaftliche Forschung nicht verbieten. Es genügt, wenn man keine Mittel zur Durchführung von Projekten bereitstellt. Die Zuteilung von Geldmitteln bestimmt wie kein anderer Parameter nicht nur die industrielle Forschung, sondern ganz besonders auch den Lauf der sogenannten „Grundlagenforschung“, also jener Forschung, welche vorwiegend aus Mitteln der öffentlichen Hand gespeist wird.
  • In der Regel wird heute erwartet, dass ein Forscher an einer Universität die Mittel für seine Forschung als „Drittmittel“ einwirbt. Die Anträge werden meist von „peers“, also Kollegen, welche ihre Tätigkeit anonym im Auftrag der Förderinstitution durchführen, auf Förderungswürdigkeit geprüft.20 Der Antragsteller muss somit seine Idee, also sein „intellektuelles Eigentum“, preisgeben, bevor er überhaupt den Wert seiner Idee experimentell überprüfen und seine Priorität dafür sichern konnte. Die „peers“ müssen sich daher schon alleine beim Lesen der Anträge unbedingt ganz besonders hohen ethischen Standards verpflichtet fühlen, um sich nicht im (unbewussten) „conflict of interest“ dann und wann am „intellektuellen Eigentum“ der originellen Idee eines Kollegen zu „bedienen“. Zugleich stehen sie in einer Zeit der knappen Ressourcen für öffentlich geförderte wissenschaftliche Forschung (in der Regel Bewilligungsraten weit unter 50 Prozent) beim Kampf um Drittmittel manchmal vor einer fast unlösbaren Aufgabe, wenn sie die Mittel objektiv gerecht zuteilen wollen. Also ist die derzeitige Modalität die Finanzierung der öffentlichen Forschung eigentlich ethisch, organisatorisch und legistisch im Prinzip bedenklich.

Ad „investigatio“

  • „Fraud in Science“, also „Betrug in der Wissenschaft“, ist ein Thema, das ganze Bücherregale füllt,21 mit zum Teil skurrilen Fällen, wie jenem des Nobelpreisträgers, in dessen Labor das Fell einer Maus mit schwarzem Filzstift eingefärbt wurde, um einen gelungenen Gentransfer vorzutäuschen. Die Antwort auf das Überhandnehmen von Malversationen in der Experimentalforschung – besonders auch in sehr renommierten Forschergruppen – heißt „GLP“ („good laboratory practices“).22 Es sind dies strenge und überprüfte regulatorische Vorschriften, welche bei der Arbeit einzuhalten sind. Verordnungen und Gesetze werden hier sozusagen zu einer „Technologie der Ethik“. Die Einführung solcher Bestimmungen sind eigentlich zugleich auch ein Einbekenntnis, dass man davon ausgeht, dass ein „normaler“ Forscher sich wohl nicht ohne weiteres an materiellen Gütern vergreifen mag, dass er aber das Schönen, Fälschen oder Erfinden von Ergebnissen nicht als Unrecht begreifen könnte. Hier sollte man besser zu einem Selbstverständnis kommen, bei dem gilt: „Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser.“

Ad „scientia“

  • „Wissen ist Macht!“, „Monopolisierung der Information“ oder „Manipulation durch Desinformation" sind klassische Schlagworte des 20. Jahrhunderts mit bedeutenden ethischen Implikationen. Auch auf diesem Feld hat die Digitale Revolution die Akzente verschoben. „Wissen ist Macht“ gilt mit Sicherheit auch heute noch, jedoch mit der Einschränkung „nicht öffentliches“ Wissen.
  • Wer heute schnell eine Information haben will, der geht ins Internet und „googelt“.23 Das meiste, was an Daten ins Internet gelangt, ist indes unüberprüft. Vieles ist widersprüchlich und manches ist evident falsch. Hypothesen lassen sich beinahe nach Belieben mit Bezug auf entsprechend ausgewählte „Referenzen“ konstruieren. Desinformation beschränkt sich heutzutage keinesfalls nur auf Propaganda und Methoden wie „Neusprech“24, sondern kann aus der Überfülle an verfügbaren Daten leicht konstruiert werden. Es ist nicht weiter überraschend, dass die Digitale Revolution25 gerade im Bereich der Wissenskommunikation eine Vielzahl von ethischen Problemen erzeugt.26
  • Es geht allerdings auch in steigendem Ausmaß um Datenschutz. Der „gläserne Mensch“ steht zur Disposition.27 Gläsern wird bald jeder Bürger sein, weil diejenigen, die die Mittel in der Hand haben, jederzeit bei Bedarf mehr über ihn an Wissen abfragen können, als er selbst über sich weiß.
  • Die Leistung eines Naturwissenschaftlers wird heute in der Regel vorwiegend über seine Publikationen mittels „metrischer“ Faktoren, wie Impaktpunkten oder Zitationsfaktoren erhoben, quantitativ vermessen und bewertet. Es werden Statistiken erstellt und vergleichend in „rankings“ ausgewertet, die dann die Karriere des Forschers dominant mitbestimmen.28 Obwohl die Fehlerhaftigkeit dieses Systems erkannt und offen diskutiert wird29, geht – zumindest für jüngere Naturwissenschaftler – kein Weg an dieser Methode vorbei. Allerdings reagieren mittlerweile geschickte Forscher auf diese Scheinobjektivierung ihrerseits durch gezielte Taktiken und Absprachen beim Publizieren und Zitieren. Letztlich sollte die Bewertung einer wissenschaftlichen Leistung vor allem auf einer ernsthaften Befassung mit den wissenschaftlichen Inhalten der Arbeiten beruhen. Denn wissenschaftliche Leistungen sind, wie künstlerische und andere kulturelle Leistungen, kaum mit einigen mäßig objektiven Faktoren voll erfassbar. Die derzeitige Praxis der Überbewertung der „metrischen Faktoren“ ist eigentlich in einer lebendigen „scientific community“ zumindest fragwürdig und sogar unethisch, wenn der sachliche Inhalt und die tatsächliche Leistung des Forschers bei Evaluierungen ausgeblendet bleiben.
  • Die Fülle der weltweit geleisteten Forschung ist phantastisch. Es ist begrüßenswert, dass die vielen Ergebnisse von wissenschaftlichen Arbeiten heute in der Regel gespeichert und systematisch erfasst werden. Die Techniken der naturwissenschaftlichen „Datenerzeugung“ sind jedoch mittlerweile derartig effizient, dass man beim besten Willen wissenschaftlicher Arbeit nicht „per se“ Sinn und Nützlichkeit zuerkennen kann. Viele erzeugte und erfasste Daten sind letztlich Datenmüll, weil sie nie abgefragt werden. Ein Ergebnis ist nicht automatisch ein Stein beim Bau des Gebäudes des „universellen Wissens“. Die Beurteilung der Relevanz eines Forschungsthemas sollte daher nicht mehr alleine der speziellen „scientific community“ mit ihren einschränkenden Paradigmen30 obliegen, sondern vielmehr in einem möglichst weiten Kontext gesehen werden.
  • Es wird angesichts der „Datenexplosion“ überdies eine große Aufgabe für die Forschenden und Lehrenden insgesamt und für die Universitäten im Speziellen sein, aus der immensen Fülle der verfügbaren Daten jene Informationen herauszudestillieren, welche es verdienen, als allgemeiner Wissenskanon oder spezieller Kanon einer Wissenschaft im menschlichen Gehirn Teil der menschlichen Geisteskultur zu sein. Diese Aufgabe ist noch kaum wahrgenommen. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Ad „ars“

  • Ethische Probleme treten naturgemäß gerade bei der Umsetzung des Wissens mit besonders gravierenden Folgen auf. So gab es trotz mehr als 20jähriger intensiver Forschung wahrscheinlich deshalb bis vor kurzem keine Gentherapie,31 weil von den Forschern – auch um leichter an Finanzierungen für ihre Arbeiten zu gelangen - unrealistische Erwartungshaltungen geweckt wurden und so mancher der Beteiligten unbedingt der Erste sein wollte, welcher eine erfolgreiche Gentherapie beim Menschen durchführt. Mit den ersten Todesfällen in den vorschnell angesetzten klinischen Studien kam die große Ernüchterung. Obwohl die Gentherapie – im Sinne einer „Genchirurgie“ – zumindest aus theoretischer Sicht nach wie vor als „perfekte Lösung“ von genetisch bedingten Krankheiten erscheinen mag, so macht sie heute – nicht zuletzt wegen der ursprünglichen Überbewertung – bedeutend langsamere Fortschritte als erhofft.
  • Vergleichbar stellt sich die heutige Stammzelldiskussion dar: Bei Medikamenten werden zwingend Tierversuche im Zuge der präklinischen Prüfung vor der Anwendung am Menschen verlangt. Bisher ist jedoch keine erfolgreiche Stammzelltherapie einer tierischen Erkrankung bekannt geworden, aus welcher man bestimmt sehr viel lernen könnte, bevor man sich an Menschen wagt. Dennoch müssen es für einige Forscher offenbar unbedingt embryonale Stammzellen des Menschen sein, mit welchen sie forschen wollen. Die spezielle ethische Frage, die sich automatisch ergibt, wenn es sich um menschliches Leben handelt, wird beiseite geschoben, als ob es für den „Fortschritt der Wissenschaft“ keinen anderen Weg gäbe, als mit zerteilten menschlichen Embryonen zu arbeiten. Das ist nicht nur aus ethischer Sicht äußerst bedenklich.32 Auch aus logischen Gründen sind eigentlich Forschungen mit adulten Stammzellen, die bereits jetzt bei diversen Erkrankungen zum Einsatz kommen, eher förderungswürdig. Mit diesen Stammzellen könnten Konzepte erarbeitet werden, bei denen der Patient mit Zellmaterial aus seinem eigenen Genom therapiert wird. Therapien mit embryonalen Stammzellen, für die vor kurzem die ersten Zulassungsanträge erstellt wurden,33 hat hingegen den inhärenten Nachteil, dass dabei ein Fremdgenom in den Körper des Patienten eingebracht wird.
  • Vor allem sollte stets bedacht werden, dass diese und ähnliche Diskussionen über futuristische Therapien in beträchtlichem Maße vom Wettbewerb der Forschergruppen – sowohl im akademischen Umfeld als auch in der „Biotech“-Industrie – um finanzielle Förderungsmittel beziehungsweise um Bereitstellung von Risikokapital bestimmt sind. Wichtige wissenschaftliche Fächer, die keine spektakulären Ergebnisse vorweisen können und außerhalb des „mainstreams“ der Lebenswissenschaften stehen, sind im Angesicht knapper Ressourcen durch diesen Wettbewerb von der finanziellen Austrocknung bedroht.
  • Das menschliche Genom ist entziffert. Genomanalysen geben Aufschluss über die Unterschiede in der Physiologie einzelner Menschen. Durch immer weitergehende Analysen werden Krankheiten zu Syndromen, die sich in ihrem Erscheinungsbild gleichen, aber andere molekulargenetische Ursachen haben. Unter dem Titel „individualisierte Medizin“ beziehungsweise „personalisierte Medizin“ wird es bald möglich sein, Therapien abgestimmt auf die individuelle Genausstattung eines Patienten durchzuführen.34 Zugleich aber stehen wir inmitten einer Krise in der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die Sozialversicherungen schränken die Vergütungen für Medikamente immer weiter ein und können nicht mehr gewährleisten, dass jeder Patient das beste Arzneimittel bekommen kann. Eine Zweiklassenmedizin ist nicht mehr nur eine zukünftige Bedrohung, sondern mancherorts – auch in Ländern mit hoch entwickeltem Sozialsystem – bereits Realität.35
  • Im „age of the brain“ lernen wir immer mehr über physiologische Vorgänge im menschlichen Gehirn. Wird das vielleicht eines Tages dazu führen, dass man das psychische „Normalsein“ des Menschen aufgrund von genetischen und metabolischen Parametern definiert? Man könnte dann allerdings zugleich versucht sein, Abweichungen von der Norm als Krankheit zu bezeichnen und den „Patienten“ mittels Medikamenten auf das passende „Soll-Verhalten“ einzustellen.
  • Bereits heute ist die Frage der Hinauszögerung des menschlichen Sterbens mittels der Apparatemedizin zu einem komplexen Thema mit etlichen Implikationen geworden. In engem Bezug dazu steht auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Transplantationsmedizin.36 Die Anzahl der ethischen Probleme in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung ist schier unerschöpflich.

Die „drei Fragen“ des Menschen

Die genannten Beispiele sollen die Vielfalt und Komplexität der ethischen Probleme aufzeigen, die in den Wissenschaften im Allgemeinen und in den Lebenswissenschaften im Speziellen auftreten. Woran kann sich nun ein Wissenschaftler in Zukunft orientieren, wenn er sich den großen Fragen der Wissenschaft gebührend widmen will? Die Antwort auf diese Frage ist bereits längst gegeben: „Was können wir wissen? – Was sollen wir tun? – Was dürfen wir glauben?“ Die Suche nach einer Antwort auf diese drei Fragen hat nach eigener Aussage das Lebenswerk Immanuel Kants bestimmt.37 Er beschreibt damit auch kurz und bündig eine Art Programmatik, die für jeden Menschen gelten sollte, der nach Wissen und Weisheit strebt. Es sind letztlich die großen Fragen, die seit Aristoteles die Philosophie bewegt haben. Sie stimmen weitgehend mit der Begriffstrias „Logik“, „Ethik“ und „Metaphysik“ überein, die seit der Antike als eine der klassischen Definitionen der Philosophie herangezogen wird.38

„Was können wir wissen?“: In einer sehr allgemeinen Definition kann Wissenschaft als ein System verstanden werden, dessen Ziel es ist, auf sprachlicher Logik basierende Wahrheiten neu zu generieren, zu kommunizieren und zu tradieren. Sie ist eine systematische, zutiefst im Neurobiologischen wurzelnde Vorgangsweise und somit ein Element der „logischen“, also sprachlichen Welt des Menschen. In diesem Kontext bedeutet „Sprache“ nicht nur die Vielfalt der menschlichen Sprachen, sondern auch die Sprachen der Mathematik – Arithmetik und Geometrie –, die chemische Formelsprache, den genetischen Code und andere Formen der systematischen Codierung der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit.

„Was sollen wir tun?“: Kants Frage nach dem richtigen Handeln lässt sich als eine Art verkürzter Definition von „Ethik“ auffassen. Es ist bemerkenswert, dass einer solchen Interpretation des Begriffes Ethik durchaus nichts Esoterisches anhaftet. Ein gebührender Umgang mit anderen Menschen, also ein im ethischen Sinne richtiges Verhalten, birgt in sich auch eine beträchtliche „Logik“ im Sinne einer Nützlichkeit für das Dasein. Selbst ein strikter Materialist wird diese Auffassung teilen.

„Was dürfen wir glauben?“: Diese Frage erschließt letztlich die metaphysische Dimension der Ethik. Bei Kant wäre es der „kategorische Imperativ“, der in der Folge zum richtigen Handeln führt.39 „Glauben“ in diesem Zusammenhang lässt sich vielleicht ganz allgemein als das verstehen, was die „Basis für die persönliche Überzeugung“ bildet, aus der heraus ein denkender Mensch handelt. Diese sehr weit gefasste Definition gilt für den Atheisten ebenso wie für den gläubigen Menschen. Was immer ein denkender Mensch tut, steht in Bezug zur Basis seiner individuellen Überzeugung, also der für ihn gültigen Werte. Diese dritte Frage ist zugleich auch eine Frage nach der Position des Menschen zur Sinnhaftigkeit seines eigenen Lebens.

Die ethische Krise der Wissenschaft

Die Welt der Wissenschaft ist globalisiert. Naturwissenschaftliche Ergebnisse werden in der Regel von der „scientific community“ (das sind alle einschlägig arbeitenden Wissenschaftler) im Rahmen ihrer jeweils gültigen Paradigmen40 ungeachtet der Weltanschauung des Einzelnen als zutreffend empfunden. Mit dieser weitgehenden Übereinstimmung wird die Wissenschaft somit geradezu zum „Triumph der Logik“. Auch die Ethik des Handelns ist über weite Bereiche durch Logik bestimmt. Das Ziel der wissenschaftlichen Arbeit soll in aller Regel ein positives Ergebnis sein. Das Problem taucht erst mit der Frage auf: Für wen positiv? Für den Wissenschaftler selbst? Für seine Familie? Seine Firma? Seine Freunde? Sein Volk? Seine Glaubensgenossen? Die ganze Menschheit? Die belebte Natur? Die Erde? Das Universum? Das „Cui bono?“ bedingt alles wissenschaftliche Handeln – von der „notitia“ bis zur „ars“. Was ethisch richtig ist und logischerweise Gegenstand von Forschungsarbeit sein sollte, hängt von diesem „Wem nützt das?“ ab. Zugleich liegt auch hier die Wurzel der ethischen Krise der Wissenschaft. Was sind denn eigentlich die wichtigsten Paradigmen, nach welchen sich das Cui bono heute weltweit richtet? Zunächst ist es die derzeit alles dominierende scheinbare Logik der virtuellen Welt des Finanzkapitalismus, welcher selbst die größten produzierenden Industriebetriebe und ganze Volkswirtschaften zum Spielball seiner Spekulationen macht.41 Dann ist es das Streben nach Gewinn aus produktiver Arbeit, die selbstverständlich das Motiv der Industrien sein muss, die aber auch ein berechtigtes Anliegen jedes Einzelnen ist. Weiters ist es die ureigenste Faszination des Wissenschaftlers an seiner Forschung oder aber sein Traum, mit seiner Forschung der Menschheit Gutes zu tun. Es ist ebenso das Streben nach Ruhm und Einfluss, das vor allem die „egozentrischen“ akademischen Wissenschaftler treibt. Manche der genannten Motive sind aus Sicht einer kultivierten und verantwortungsbewussten Gesellschaft zutiefst unethisch, andere äußerst ehrenwert. Es gibt tatsächlich keine einfache und einheitliche Sicht darüber, was ethisches Handeln in der Wissenschaft bedeutet. Die ethische Krise der Wissenschaft ist somit eigentlich die ethische Krise einer Gesellschaft, die dringend notwendige Klarlegungen in Bezug auf akzeptable Motive des Handelns unterlässt. Eine Voraussetzung zur Lösung dieser Krise wird es sein, dass man zur Kenntnis nimmt, dass Logik, Ethik und Metaphysik grundsätzlich in einer Aporie untrennbar mit einander verbunden sind.

Sehr viele Wissenschaftler sind Individualisten und bezeichnen sich als unreligiös. Sofern ihnen nicht Freiräume eingeräumt werden,42 tun sie, was ihnen aufgetragen ist, wenn sie in der Industrie forschen; und sie tun, was ihnen wichtig erscheint und was sie fasziniert, wenn sie im akademischen Umfeld arbeiten. Sie wollen – und können – darüber hinaus als Einzelne in der Regel – mit wenigen Ausnahmen43 – nur wenig bewirken. Und dennoch können sie sich bei ihrem Tun dem Cui bono nicht völlig entziehen. Menschen, die eine gefestigte individuelle Weltanschauung haben oder einer Religion verbunden sind, haben es grundsätzlich leichter, die ethischen Konsequenzen des eigenen Handelns zu bedenken. So ist das „Caritas“-Gebot eines gläubigen Christen diesem sicherlich eine große Hilfe und Richtschnur bei der ethischen Bewertung seiner Arbeit. Es ist jedoch für verantwortungsbewusste Wissenschaftler in Anbetracht stets neuer Fragestellungen und komplexer Sachverhalte nicht immer leicht, sich ein klares Bild als Basis für die richtige Entscheidung zu verschaffen. Sie sind für Orientierungshilfen durch eine lebendige Diskussion dankbar.

Was sollen wir tun?

Die Umsetzung des Konzeptes der integrativen Lebenswissenschaften setzt voraus, dass sich die zivilisierten Gesellschaften der Welt weit mehr als bisher grundsätzlich und intensiv in detaillierter Sachkenntnis mit der ethischen Frage befassen: „Welche wissenschaftliche Arbeit wäre gut für die Menschen in unserem Land?“ „Was ist gut für die Menschen in der Welt?“ Diese Fragen sollten in Politik und Gesellschaft gestellt und diskutiert werden.

Das Anliegen ist im Grundsatz keineswegs neu. Bereits in der Antike haben die Philosophen der Stoa und ähnlicher Richtungen ethische Probleme umfassend behandelt. Es ist eigentlich wenig überraschend, dass sich auch Cicero, der große römische Staatsmann, zu diesem Thema klar geäußert hat: „Ergo omne officium, quod ad coniunctionem hominum et ad societatem tuendam valet, anteponendum est illi officio, quod cognitione et scientia continetur.“44

Ethisches Bewusstsein muss in der Gesellschaft – als ein ureigenstes Anliegen – massiv gefördert werden. „Life Science in Society45 bedeutet in diesem Zusammenhang nichts Anderes, als dass sich auch die Lebenswissenschaftler ihrer Verpflichtung bewusst werden, sich aktiv einbringen und am gesellschaftspolitischen Diskurs über solche Fragen mit ihrem Sachverstand mitwirken. Die Erziehung junger Menschen zu verantwortungsbewusstem Handeln sollte in der Familie beginnen und in der Schule konsequent weitergeführt werden. Die Information über den Fortschritt der Wissenschaft sollte das Leben lang anhalten.

Universitäten und Akademien wiederum sind als wichtige Bildungsinstitutionen zur Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema „Wissenschaft und Ethik“ prädestiniert. Sie sollten sich nicht einfach im „mainstream“ dem Wettlauf um die „schicksten“ und „aktuellsten“ Forschungsgebiete anschließen, sondern lieber abwägen, wie sie – mit ihrem eigenen besonderen Profil – ihre gesellschaftliche Aufgabe am besten erfüllen können und die ohnedies knappen Ressourcen für die Forschung richtig einsetzen. Zweifelsohne gehört zu den für die Universitäten und Akademien bedeutenden Themen auch die Bemühung um eine Vertiefung des grundlegenden Verständnisses über Mensch und Natur. Vor allem ist es jedoch ihre große zukünftige Aufgabe, den Kanon des menschlichen Wissens zu pflegen, zu entwickeln und zu tradieren.

Auch für die Religionen gilt es, sich der großen Fragen der Wissenschaft aus ihrer primär religiösen und ethischen Sicht anzunehmen. Im Sinne der erwähnten untrennbaren Trias von Logik, Ethik und Metaphysik sind integrative Lebenswissenschaften inhärent mit einer theologischen/metaphysischen Komponente verbunden. Es müssen im Strom der Wissenschaft allerdings nicht primär fundamentale Glaubensinhalte „defensiv“ vertreten werden. Schwierige Situationen erzeugen vielmehr die immer wieder plötzlich auftretenden komplexen wissenschaftlichen Fragen mit unvorhersehbaren und ungewissen ethischen Implikationen. Solche Probleme sind früh zu erkennen und aufzugreifen. Sie müssen im Detail analysiert und verstanden werden. Darauf aufbauend kann man sich ein objektivierbares Bild machen und einen eigenen Standpunkt aus solider Sachkenntnis heraus entwickeln. Die Religionen sollten dabei keinesfalls die Basis ihres Glaubens verlassen, um irgendwelche Kompromisse zu erzielen. Ihre Sperrigkeit kann manchmal eine bessere Orientierungshilfe für einen verantwortungsvollen Wissenschaftler sein, als ein verwaschener Standpunkt. So besitzt die katholische Kirche hervorragende Voraussetzungen, sich aktiv mit den großen Fragen der Lebenswissenschaften zu befassen. Mit der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften verfügt sie über einen der besten „brain trusts“ auch für Naturwissenschaften, dessen Mitglieder in der Lage sind, selbst komplexeste Fragestellungen auf höchstem wissenschaftlichen Niveau zu behandeln.46 Sie hat auch ansonsten keinen Mangel an Institutionen und Menschen, welche zum Thema „integrative Lebenswissenschaft“ kompetent beitragen können.

Bei allen Bemühungen zur Bewusstmachung der Bedeutung von ethischem Handeln in der Wissenschaft müssen, können und sollen nicht immer gleich fertige Antworten bereitgestellt werden. Vor allem gilt es, einen Konsensus über möglichst viele unstrittige sachliche Inhalte so herauszuarbeiten, dass sich nicht nur Spezialisten der jeweiligen „scientific community“ seriös äußern können. Ethische Probleme sind herauszuziselieren und für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs gebührend aufzubereiten. Die Arbeit wird sich lohnen: Es gibt mehr als 6 Milliarden Menschen, die von einer Besinnung der Gesellschaft auf eine von allgemeiner Verantwortung getragenen ethischen Haltung zu den großen Fragen des Lebens profitieren könnten.

Für kritische Lektüre und wertvolle Kommentare dankt der Autor Frau Dr. Dr. Marion Noe, Herrn Prof. Dr. Enrique Prat und Frau Dr. Inge Schuster.

Referenzen

  1. Die Anwendung der Gentechnologie in der Landwirtschaft/Botanik wird als grüne Gentechnologie bezeichnet und jene in der Medizin/Zoologie als rote Gentechnologie. Die Herstellung von Biokatalysatoren (für die industrielle Anwendung) durch gentechnische Veränderung von Mikroorganismen wird als weiße Gentechnologie bezeichnet.
  2. Jeremy Rifkin spricht in diesem Zusammenhang auch von der 3. industriellen Revolution: Rifkin J., Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Campus, Frankfurt/Main (2004), S. 80 ff.
  3. Universitätsgesetz 2002, Bundesgesetzblatt I Nr. 120/ 2002
  4. Novotny H., Life Sciences and the Humanities, in: The European Commission, Modern Biology and Visions of Humanity, Multiscience Publishing, Brentwood (2004)
  5. Entwicklungsplan der Universität Wien, durch den Universitätsrat genehmigte Fassung vom 14. März 2008; http://public.univie.ac.at/index.php?id=6172
  6. „In silico“ bezieht sich auf das Element Silizium, das wichtigste Material der Computerchips. „In vitro“ = „im Reagenzglas“ und „in vivo“ = „im lebenden Organismus“ werden heute in der pharmazeutischen Forschung mit „in silico“ = “im Computerexperiment“ ergänzt.
  7. siehe Ref. 6
  8. Huxley A., Brave New World, Chatto and Windus, London (1932)
  9. Orwell G., 1984, Ullstein Verlag, Frankfurt/Main (1949)
  10. Bradbury R., Fahrenheit 451, Ballantine Books (1953)
  11. Die Begriffe „in silico“-Revolution und Digitale Revolution bringen zum Ausdruck, dass es ganz besonders die gewaltige Leistungssteigerung der Computerchips ist, welche die Revolution der Denkmaschinen vorantreibt.
  12. Noe C., Die wissenschaftliche Pharmazie in Europa, Pharm. Unserer Zeit (2006); 6(35): 55-59
  13. Theologie: „Die Wahrnehmung des Göttlichen“, Philosophie: „Die Erforschung der Ursachen“, Rechtswissenschaften: „Das Wissen über Recht und Unrecht“, Medizin: „Die Kunst, die Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen“.
  14. Mainzer K., Computerphilosophie, Junius Verlag, Hamburg (2003)
  15. z. B. Heidenreich S., FlipFlop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts, Hanser Verlag, München (2004)
  16. Novotny H., siehe Ref. 4
  17. „Gläserner Mensch“: In Diskussionen über Datenschutz seit einigen Jahren als Metapher für den „durchleuchteten“ Menschen in einem überwachenden Staat gebräuchlich.
  18. Formale Etablierung des Begriffes durch die Forschungsinitiative der Humboldt Universität Berlin („Institut für Integrative Lebenswissenschaften“) im Zuge der Exzellenzinitiative 2007; http://www.exzellenz.hu-berlin/zukunftskonzept/iris-html
  19. Friedrich von Schiller, Don Carlos, 1. Akt, 10. Auftritt
  20. Kassirer J. P., Peer review. Crude and understudied, but indispensable, JAMA (1994); 272: 96-97
  21. Finetti A., Himmelrath A., Der Sündenfall, Betrug und Fälschung in der Deutschen Wissenschaft, Dr. Josef Raabe Verlag, Stuttgart (1999)
  22. Good Laboratory Practice; Zusammen mit GMP (good manufacturing practices) und GCP (good clinical practices) vor allem im Bereich der pharmazeutischen Industrie etabliertes, behördlich überwachtes Qualitätssicherungssystem.
  23. Lehnwort für “Suchen im Internet”, benannt nach “Google”, der wichtigsten Internet-Suchmaschine
  24. Orwell G., siehe Ref. 9
  25. siehe Ref. 23
  26. Klawki R., Fakt oder Fiktion – wer betrügt wen?, Imago Hominis (2008); 15: 39-43
  27. siehe Ref. 17
  28. „Web of Science“, „Scopus“ und „Google Scholar“ sind die bekanntesten einschlägigen, auf Internet Suche basierenden Recherchesysteme.
  29. z. B. Wenneras C., Wold A., Nepotism and sexism in peer-review, Nature (1997); 387: 341-343
  30. Quitterer J., Der Einfluss wissenschaftsexterner Faktoren auf den Fortschritt der „hard sciences“ nach Thomas S. Kuhn, Imago Hominis (2008); 15: 11-19
  31. Gendicine wurde von SiBiono GeneTech 2003 zur gentherapeutischen Behandlung von Tumoren im Hals-Nasen-Ohren Bereich in der Volksrepublik China zugelassen
    Wilson J. M., Gendicine: the first commercial gene therapy product, Human Gene Ther (2005); 16: 1014-1015
  32. Prat E. H., Stejskal J., Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen; Argumente Für und Wider, Imago Hominis (2008); 15: 6-8
  33. Am 14. Mai 2008 wurde von der FDA die Zustimmung zum Antrag der Geron Corp. zur Durchführung der ersten klinischen Studie zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen mit humanen embryonalen Stammzellen zurückgestellt.
  34. „Individualisierte Medizin“, besser „personalisierte Medizin“, wird durch die Gendiagnostik ermöglicht. Sie erlaubt es, die Therapie auf bestimmte genetisch bedingte Parameter des Patienten abzustimmen.
  35. Der Begriff „Zweiklassenmedizin“ bezeichnet die Ungleichbehandlung von Patienten aufgrund sozialer Unterschiede (Privatpatient gegenüber Kassenpatient).
  36. Sanchez Sorondo M. (Hrsg.), The Signs of Death, Pontificiae Academiae Scientiarum Scripta Varia, Band 110, Vatikan Stadt (2007)
  37. Ingensiep H. W., Baranzke H. Eusterschulte A. (Hrsg.), Kant-Reader. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?, Königshausen und Neumann, Würzburg (2004)
  38. Zum Begriff „Philosophie“ als eines von vielen Beispielen: Wikipedia: „Als Kerngebiete der Philosophie können die Logik (als die Wissenschaft vom folgerichtigen Denken), die Ethik (als die Wissenschaft vom rechten Handeln) und die Metaphysik (als die Wissenschaft von den ersten Gründen des Seins und der Wirklichkeit) betrachtet werden.“
  39. Kant I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785
    s. a. Schönecker D., Wood A. W., Immanuel Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, 2. Auflage, Schöningh, Paderborn (2004)
  40. Quitterer J., siehe Ref. 30
  41. Schulmeister S., Kleines Organon des Finanzkapitalismus, Dreiteilige Serie in der österreichischen Tageszeitung „Standard“ vom 24., 26. und 27. Mai 2006
  42. „Serendipity“ bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung zeigt. Sie war und ist eine Quelle der Innovation. Daher räumen manche Firmen ihren Forschern bewusst kreative Freiräume ein.
  43. Paradoxerweise sind es jedoch gerade einzelne Personen, welche in der Regel „Großes“ bewirken. Z. B.: Bill Gates hat ein gesamtes Zeitalter revolutioniert.
  44. „Daher ist jeder Dienst, welcher zur Bewahrung des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalts dient, jedem Dienst vorzuziehen, welcher sich auf Erkenntnisgewinn und Wissenschaft beschränkt...“, Marcus Tullius Cicero, De Officiis 1/157
  45. Novotny H., siehe Ref. 4
  46. Als Beispiel für eine das Thema betreffende Publikation: Sanchez Sorondo M. (Hrsg.), siehe Ref. 36

Anschrift des Autors:

o. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Mag. Dr. Christian R. Noe
Departement für Pharmazeutische Medizinische Chemie der Universität Wien
Althanstraße 14, A-1090 Wien
Christian.Noe(at)univie.ac.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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