Weit weg von einer Humanisierung der Medizin. Der Präsident der Österreichischen Ärztekammer über die Folgen der OGH-Urteile „Kind als Schaden“ im Gespräch mit Robert Harsieber
Was ist aus Ihrer Sicht problematisch an diesem Urteil?
Bei diesem Erkenntnis des Senats – es handelte sich ja nicht um ein Urteil – ist es problematisch, dass man eine Geburt, ein Kind, mit einem Schadensfall gleichsetzt. Das scheint mir eine eigenartige Äußerung, weit weg von jeder Ethik. Behinderte sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Bei Kindern mit Down-Syndrom sieht man, dass sie sich im Laufe der Zeit entwickeln, dass auch Eltern, die liebevoll mit diesen Kindern umgehen, eine positive Entwicklung durchmachen. Daher halte ich es für äußerst bedenklich, Leben von Menschen in diese Richtung zu kategorisieren.
Was mich an diesem OGH-Urteil am meisten stört, ist, dass es sich bei den Klagenden um Menschen höherer Intelligenzstufe gehandelt hat, denen man gewisse Literaturkenntnisse durchaus unterstellen kann. Vielleicht war das auch eine Flucht nach vorne oder eine negative Beeinflussung, die dazu geführt hat, den Weg der Klage und des „Schadenersatzes“ zu suchen. Doch auch in einer Zeit wie heute, in der nur mehr ökonomische Zwänge gelten, kann man die Geburt und Pflege eines behinderten Kindes nicht mit Geld aufwiegen.
War die Aufklärung Ihrer Ansicht nach ausreichend? Wie beurteilen Sie die Kommunikation zwischen Arzt und Patient?
Die Aufklärung war in diesem Fall sicher ausreichend, der zuständige Arzt hat die Frau untersucht und ihr eine Überweisung geschrieben. Dass sie entgegen des Rates des Arztes die Ambulanz nicht aufgesucht hat, liegt in ihrem freien Willen. Daher glaube ich sehr wohl, dass es sich um eine ausreichende Aufklärung gehandelt hat. Die Frage für uns Ärzte ist, ob wir uns in Zukunft aus forensischen Gründen diese Aufklärung auch immer unterschreiben lassen sollten. Jedenfalls müssen wir uns forensisch noch exakter absichern; über eine verpflichtende Haftpflichtversicherung wird standespolitisch intern bereits nachgedacht. Sonst könnten derartige Ereignisse Ärztinnen und Ärzte in den Ruin treiben – oder es wird niemand mehr als Geburtshelfer fungieren wollen.
Der Patient schließt mit dem Arzt einen virtuellen Behandlungsvertrag, schon wenn er in die Ordination kommt und ihm damit sein Vertrauen schenkt. Und da wird es problematisch. Denn der Fall zeigt, dass wir uns von der Humanisierung der Medizin schon sehr weit entfernt haben. Beide Seiten müssten sich wieder besinnen, dass die Humanität ein wichtiger Faktor ist. Natürlich wird auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient noch deutlich verbessert werden müssen. Im Zeitalter der Informationstechnologie muss man alles deutlich aussprechen.
Bei der Aufklärung müssen wir die Dringlichkeit einkalkulieren: Je akuter ein Eingriff notwendig ist, desto prägnanter und kürzer wird die Aufklärung sein. Je geplanter ein Ereignis ist, desto ausführlicher wird sie sein, und es ist dann auch auf die psychische Situation der Patienten einzugehen.
Welche Folgen hat dieses Urteil für die Gesellschaft?
Es ist sehr wichtig, dass wir uns genau überlegen, welche Möglichkeiten die technisierte Medizin bis hin zur Genomforschung und Gentechnologie bietet. Wie positiv oder negativ kann sich das alles auswirken? Es ist ja nicht garantiert, dass eine heute durchgeführte Genuntersuchung auch wirklich stimmt. Wie wird derjenige, der vorhersagt, dass das Kind missgebildet auf die Welt kommen wird, diese Aussage vor sich selbst verantworten können, wenn die Mutter nicht an Abtreibung denkt, weil für sie ein Kind Kind ist – und sie schließlich sogar ein gesundes Kind zur Welt bringt? Oder wird die moralische Verantwortung in den nächsten Jahren noch derart abstumpfen, dass so etwas den Menschen gar nichts mehr ausmacht?
Wirft nicht erst die medizinische Technik an beiden Enden des Lebens heute Probleme auf, die wir früher gar nicht hatten?
Es hat immer behinderte Kinder gegeben, es hat immer Kinder mit besonderen Bedürfnissen gegeben, aber die heutigen Überlegungen haben sich gar nicht gestellt, weil die technischen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren und die Auffassung herrschte, dass Leben etwas Gottgegebenes ist. Daher wurden diese Probleme nie derartig säkularisiert in Betracht gezogen wie heute. Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft, die Religion, Ethik und Moral vom Leben zu trennen versucht. Dann beginnen die Probleme.
Damit sind wir beim Menschenbild: Welchem Menschenbild kann eine technisierte Medizin überhaupt folgen?
Eine unserer Aufgaben muss künftig sein, dass wir die Humanisierung wieder mehr in den Vordergrund stellen. Das wird eines meiner Hauptthemen in der nächsten Zeit sein. Damit sprechen wir die sozialpolitische Dimension an. Denn eines muss uns klar sein: Die Wohlstandsgesellschaft wird kippen. Was wir jetzt beobachten, sind die Vorzeichen dieses Kippens. Was wir Soziale Marktwirtschaft nennen, die für einen Ausgleich und auch für eine echte Umverteilung gesorgt hat, dieses System beginnt aus den Fugen zu laufen, bzw. wir befinden uns schon mitten in diesem Auflösungsprozess. Das zu stoppen ist anscheinend niemand bereit, oder es gibt kein Rezept.
Die maschinengetriebene Medizin muss ein Gegengewicht durch die Humanmedizin erhalten. Das wird Aufgabe der nächsten Jahre sein. Das wird nicht nur in der kurativen Medizin notwendig sein, sondern auch in der Prävention und im Gesundheits- und Wellness-Bereich.
Unsere Aufgabe wird sein, dem ohnehin überinformierten Patienten zu vermitteln, dass wieder die Heilbarkeit im Vordergrund steht und nicht die Machbarkeit. Die Menschen werden uns Ärzte in Zukunft als Dienstleister in Sachen Gesundheit betrachten. Darauf müssen wir uns einstellen. Ärzte müssen den humanen Bereich betreuen und nicht so sehr die technokratischen Möglichkeiten in den Vordergrund rücken. Die „heilenden Hände“ werden wieder wichtiger werden als das technisch Machbare.
Sie fordern ein Umdenken in der Medizin?
Wenn wir nur mehr Gesundheitsdienstleister sind, dann wird unser Werteanspruch auch ein anderer werden, und wir müssen beweisen, dass wir auch Ander-Wertiges bewegen können. Das wird sich der heute üblichen bloß ökonomischen Bewertung der Leistungen entziehen. Heute wird ja nur mit ökonomischen und nicht mit humanistischen Wertmaßstäben gemessen.
Der Arzt ist heute nur mehr ein Supermarkt der Gesundheit. Auch bei dem oben angesprochenen Erkenntnis des Senats wird Gesundheit als Ware gesehen. Leben ist Schaden oder nicht Schaden. Diese Haltung und diese Lebenseinstellung müssen wir aufhalten und verändern. Das Maß des Humanen muss wieder Geltung bekommen.
Das Leben als Schaden zu bezeichnen, ist eine bedenkliche Enttabuisierung. Es sind die Krankheit und der Schmerz, die dem Tod vorausgehen. Vor dieser Phase fürchten sich die Menschen, nicht vor dem Tod. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sich das Berufsbild des Arztes auch dahingehend ändern. Die Entwicklung der Schmerztherapie geht in diese Richtung. Dann brauchen wir über Euthanasie kein Wort verlieren, weil die Phase davor die entscheidende ist, die der Mensch fürchtet; und er sieht, dass sein diesseitsorientiertes Leben – nur Materie, globales Kapital und Ökonomie – abrupt endet. Dann sucht er die Brücke, die bis dahin kein Thema war. Daher müssen wir ganz entschieden alle Gedankengänge, die in diese Richtung gehen – von der Abtreibung bis zur Euthanasie – massiv bekämpfen. Wir müssen darauf hinweisen, dass das Gedanken sind, die ins vorige Jahrhundert gehören und damals auch strafrechtlich verfolgt wurden.
Medizin beschäftigt sich zunehmend nicht nur mit Krankheit, sondern auch wieder mit Gesundheit…
Die Medizin hat sich immer mit Gesundheit beschäftigt. Krankheit und Gesundheit gehören zusammen wie Licht und Dunkel. Nur muss man die Relationen wieder richtig herstellen. Man darf den Arzt nicht als Reparaturwerkstätte oder als Supermarkt der Gesundheit abstempeln. Ureigenste Aufgabe des Arztes ist es, die Gesundheit zu erhalten. Und wenn jemand krank ist, dann ist es unsere Aufgabe, die Krankheit möglichst rasch, effizient und so zu beenden, dass er wieder an den ursprünglichen Zustand herangeführt wird. Letztlich heilt die Natur selbst; wir sind nur Regulatoren, die helfen, dieses Leben im Diesseits zu begleiten.
Wäre es dann nicht auch Aufgabe der Ärzteschaft, den Menschen zu vermitteln, wie eine gesunde Gesellschaft aussehen könnte?
Ja, aber das glaubt uns doch niemand. Wenn man den Menschen zum Beispiel sagt, rauchen ist ungesund, das sollte man nicht – dann wird man als Fanatiker, Extremist und Fundamentalist hingestellt. Nur weil man die Gesundheit in den Vordergrund rückt. Wir Ärzte werden sicher die Mahner sein müssen. Die junge Ärztegeneration wird das auch viel bewusster leben, als wir das getan haben. Da wird viel Erziehungsarbeit an der Gesellschaft nötig sein.
Prim. MR Dr. Walter Dorner
Präsident der Österreichischen Ärztekammer
Weihburggasse 10-12, A-1010 WienDr. Robert Harsieber
Wissenschaftsjournalist
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