Fetozid in Österreich 2002
Eine Gruppe namhafter Ärzte, Mitglieder der Österreichischen Gesellschaft für Prä- und Perinatalmedizin, hat vor kurzem Richtlinien für „Spätabtreibung aus medizinischer Indikation“ veröffentlicht (in: Sonderdruck aus Speculum 2002; 20 (4): 4-5).
I. Das Konzept: „Spätabbruch aus medizinischer Indikation“
Ausgangspunkt der Stellungnahme ist die Überzeugung, „dass der mütterliche Wunsch nach Beendigung der Schwangerschaft bei einer zugrundeliegenden fetalen Erkrankung im Zeitbereich nach der vollendeten 22. Woche p. m. in Österreich bislang eine – alle Beteiligten extrem belastende – Problematik darstellt." Darum versammelten sich die Unterzeichneten und erarbeiteten ihre Richtlinien. In den ersten beiden Punkten ist im Grunde alles gesagt:
„1. Die Diskussionsteilnehmer sind sich einig darüber, dass es nach der vollendeten 22. Woche p. m. Indikationen zur Beendigung einer Schwangerschaft gibt. Solche Indikationen können sich in gravierenden Fällen auf gute rechtliche und ethische Grundlagen ihrer Legitimation stützen. Sowohl die konkreten Lebensumstände der Schwangeren als auch der Zustand und die Entwicklungsprognose des Ungeborenen vermögen dabei das tragende normative Fundament zu beglaubigen. Die Unterzeichneten setzen hierbei das Konzept eines graduell abgestuften, sich im Fortgang der Schwangerschaft zunehmend verstärkenden pränatalen Lebensschutzes voraus. Dieses Konzept gehört in wohlverstandener Interpretation zum Grundrechtsverständnis der meisten rechtsstaatlichen Verfassungsordnungen. Es wird außerdem getragen von einem breiten internationalen Konsens in den Diskussionen über die Prinzipien einer säkularen sozialen Ethik.
2. Es besteht Einigkeit, dass der Entscheidungsprozeß im Einzelfall durch eine möglichst breit und interdisziplinär beschickte Beratungsgemeinschaft gelenkt werden muss. Kommt es in dieser Beratung zum einstimmigen Konsens darüber, dass der Wunsch der Frau aufgrund der vorliegenden individuellen Problematik für alle verständlich ist und legitim erscheint, so ist die Problemlösung aus humanitären, ethischen, medizinischen und rechtlichen Überlegungen primär die Geburtseinleitung nach Fetozid. Dies gilt, sofern die betroffene Mutter nicht ein anderes medizinisch und ethisch verantwortbares Procedere wünscht. Die praktische Durchführung des Fetozids hat nach internationalen Standards zu erfolgen.“
Die restlichen 5 Punkte besagen nur noch: Die Diagnose soll sicher sein (3), der Fetozid soll professionell in einem gut geführten Zentrum durchgeführt werden (4), man sollte die Frau psychologisch betreuen lassen (5), danach soll es eine feto-pathologische Untersuchung geben (6), und man sollte das Geschehen dokumentieren (7).
II. Stellungnahme
Angesichts der „extremen Belastung“, die der Fetozid für die ganze Gesellschaft – und nicht nur für die betroffenen Frauen und Ärzte – mit sich bringt, werden die Ärzte, die mit ihrer Unterschrift ihre Zustimmung zu diesem Konzept gegeben haben, nicht überrascht sein, wenn ihr Vorschlag auf – sogar massive – Kritik stößt. Die Kritik ist sachlich und beabsichtigt in keiner Weise, einen der Ärzte persönlich zu diffamieren. Dabei werden gewichtige Fragen aufgeworfen, die nicht nur gesellschaftspolitisch bedeutsam sind, sondern offenkundig auch direkt das persönliche Gewissen betreffen.
Die Einleitung und die beiden Hauptpunkte der veröffentlichten Richtlinien sollen einer kritischen Betrachtung unterworfen werden:
1. Wieso ist der Abtreibungswunsch nur nach der 22. Woche p. m. eine „extrem belastende Problematik“? Warum nur „in Österreich“? Vorher und in anderen Ländern sollte er kein Problem sein? Oder nur kein „extrem belastendes“? Ist die Tötung eines Schwerstbehinderten belastender als die eines gesunden Kindes? Oder tritt die „extreme Belastung“ erst ab einer gewissen Größe des Kindes auf, und dann sogar bei Schwerstbehinderten?
2. Das Konzept will „Problemeliminierung“ sein oder wenigstens dazu entscheidend beitragen. Worin hat denn das Problem bestanden, wenn es mit diesem Konzept eliminiert wurde? Es werden nur Bedingungen für den Fetozid genannt, der Fetozid als solcher aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Also bestand die Belastung nur darin, dass man bisher nicht wusste, wann und wie der Fetozid angewandt werden sollte und dass er daher manchmal zu wenig überlegt durchgeführt wurde? Wurde er das?
3. Der Text spricht von „guten rechtlichen und ethischen Grundlagen“, die den Fetozid in bestimmten Fällen legitimieren sollen. Welche „Grundlagen“ sind damit gemeint? Bei einer so wichtigen Frage wäre es wohl angemessen, diese Grundlagen zu benennen und nicht nur auf die Notlage der Frau und den bedauernswerten Zustand des Kindes zu verweisen. Aber selbst die Benennung von Voraussetzungen ergibt noch keine Ethik – die Frage nach dem Guten fängt damit erst an! Die ethische und rechtliche Legitimation ist in einem solchen Zusammenhang daher Postulat und müsste sorgfältig dargelegt werden.
4. Die Autoren reden von einem „graduell abgestuften“ Lebensschutz. Die Frage ist nur: Warum „abgestuft“? Entweder ist es noch kein Mensch, warum dann „Lebensschutz“; oder es ist schon Mensch, wieso „abgestufter“ Schutz?
5. Ist diese Rede vom „abgestuften“ Schutz nicht eine Selbsttäuschung? Der schwerst behinderte Fetus hat nach diesem Konzept überhaupt keinen rechtlichen und ethischen Schutz, weil sein Leben ganz von dem Willen seiner Mutter und der Ärzte abhängt. Die Urteilsfindung der „Beratungsgemeinschaft“ sortiert ja nur zwischen jenen, denen man einen Schutz zubilligt, und den anderen, denen man ihn abspricht: Nicht geschützt wird, wer zu schwer behindert ist und nicht geschützt wird, wenn die Mutter in einer problematischen Lage ist! Wer stellt eigentlich die Kriterien auf, die zwischen schützenswert und nicht-schützenswert aussortieren?
6. Hat man nicht schon wiederholt Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt? „Arbeitsfähig“ und „arbeitsunfähig“, „lebenswert“ und „nicht-lebenswert“, „schutzwürdig“ und „nicht-schutzwürdig“ – jeweils mit tödlichen Folgen für die „aussortierte“ Gruppe.
7. Das „Grundrechtsverständnis“ dieses Konzepts gehört nicht zu den „meisten rechtsstaatlichen Verfassungsordnungen": Erstens hat die Fristenlösung nicht Verfassungsrang und zweitens gibt es in Österreich dieses „Recht“ überhaupt nicht, sondern Abtreibung gilt als Unrecht, das nur nicht bestraft wird. So jedenfalls der Buchstabe des Gesetzes, der heute freilich vergessen ist und gelegentlich in ein „Recht auf Abtreibung“ umgedeutet wird.
8. Rechtssysteme, die Abtreibung zulassen, haben keinen Anspruch mehr, uneingeschränkt als „rechtsstaatlich“ bezeichnet zu werden. Auch was die Rechtsstaatlichkeit anlangt, gibt es nicht nur Entweder – Oder, nicht nur Rechtsstaaten und Schurkenstaaten. Die sogenannten rechtsstaatlichen Länder sind meistens nur auf dem Weg zur vollen Rechtsstaatlichkeit – und manchmal auf dem Rückweg (wie Österreich seit der Fristenlösung – und wie viele andere Länder ebenso).
9. Es wird gesprochen von einem „internationalen Konsens“ bezüglich dieses Konzeptes – aber worin besteht denn dieser Konsens wirklich? Das neue Konzept ist alles, nur nicht neu und differenzierter als es der Hausverstand ohnehin sagt. Denn als Entscheidungshilfe bietet es nur den Blick auf die Not der Frau und die Schwere der Behinderung an. Darauf haben die Ärzte doch bisher auch schon geachtet und fühlten sich dennoch „extrem belastet“. Warum wohl? Im Grunde tut das Konzept nur eines: Es beruhigt und solidarisiert alle, die Fetozid machen, durch den Hinweis „International machen es alle so!“ und „entlastet“ dadurch das Gewissen – aber tut es das wirklich? Das Gewissen anerkennt das „Alle anderen auch!“ nicht, sondern wird davon höchstens eine Zeit lang narkotisiert.
10. Die Berufung auf die „Autorität" des Konsenses ist ein schwaches Argument, es ist ein Autoritätsargument, das gebieterisch nach Ergänzung durch Einsicht verlangt. Aber auch die „säkulare soziale Ethik“, von der man spricht, wird in keiner Weise einsichtig und nachvollziehbar gemacht. In einer so wichtigen Frage nur auf die Autorität einer Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern zu pochen, ist unverantwortlich.
11. Mehrheitsentscheidungen in ethischen Belangen sind fragwürdig. Dass die Mehrheit für einen bestimmten Sachverhalt stimmt, macht diesen sittlich gesehen noch nicht „gut“. Immer wieder haben sich ganze Nationen mehrheitlich für bestimmte Vorgehensweisen entschieden, die der Rest der Völkergemeinschaft als unethisch erkannt und verurteilt hat. Ethik unterliegt nicht demokratischen Prinzipien.
12. „Säkulare Ethik“ sagen die Autoren. Meistens ist die Rede davon, wenn man suggerieren will, dass ein Widerspruch zu den eigenen Ansichten nur von einer „Welt-irrelevanten“, religiös motivierten Ethik kommen kann. Die selbsternannte „säkulare“ Ethik macht sich damit unangreifbar, in dem sie entscheidet, was säkular und was religiös ist. Was sie damit aber de facto erreicht, ist die Instrumentalisierung der Ethik, die dann aufhört, Ethik zu sein, und zu blanker Ideologie wird. Eine echte philosophisch-ethische Reflexion muss „ergebnis-offen“ bleiben, d. h. unabhängig von pragmatischen Zielsetzungen erfolgen und sich offen jeder Kritik stellen.
13. Die Entscheidung soll eine „Beratungsgemeinschaft“ treffen. Warum trifft diese Entscheidung eigentlich nicht nur die Frau – wie bei den Abtreibungen im Rahmen der „Frist“? Wenn die Frau ein gesundes Kind ohne Begründung abtreiben darf, warum nicht erst recht ein schwerstkrankes? Warum plötzlich diese Bevormundung?
14. Der Text redet von der „betroffenen Mutter“. Es besteht auch für die Autoren dieses Konzeptes nicht der geringste Zweifel, dass es um ein Kind geht. Wie erschreckend daher die Tatsache, dass man sich ans Töten von „Kindern“ – auch, wenn es sich um noch nicht geborene handelt – so sehr gewöhnt hat, dass dies auch offen ausgesprochen wird.
15. Die Forderung, den Fetozid „nach internationalen Standards“ durchzuführen, ist makaber: Was für eine Wohltat für das Kind, nach „Standards“ getötet zu werden! Dass es medizinisch für die Mutter besser ist, versteht sich von selbst.
Weihbischof Univ.-Doz. Dr. Andreas Laun
Kapitelplatz 2
A-5020 Salzburg