Zur Ethik der Arzt-Patient Beziehung bei suizidal Depressiven

Imago Hominis (2002); 9(3): 159-170
Kurt Heinrich

Zusammenfassung

Anhand der historischen Entwicklung der Psychiatrie im Zeitalter der Aufklärung, im Nationalsozialismus und in der Epoche der Studentenbewegung seit 1968 wird dargestellt, dass dieses medizinische Fach immer schon durch den Zeitgeist maßgeblich beeinflusst wurde. Die Behandlung der psychisch Kranken nach Regeln der Vernunft, nach rassenideologischen Gesichtspunkten bzw. gemäß dem Axiom von der menschlichen Autonomie entspricht zeitgeist-typischen herrschenden Lehren. Die Ablehnung des ärztlichen Paternalismus ist gegenwärtig in den westlichen Industriestaaten verbreitet, die Selbstbestimmung des Patienten soll unter allen Umständen gestärkt werden. Diese Bestrebungen führen dazu, dass bei schwer Depressiven der Wunsch nach Selbsttötung unter bestimmten Umständen als Ausdruck menschlicher Autonomie verstanden wird und dem Arzt das Recht eingeräumt wird, seinem Patienten beim Suizid Hilfe zu leisten. Dabei wird verkannt, dass der psychopathologische Zustand des Suizidenten in den meisten Fällen die freie Willensbestimmung ausschließt und dass der Arzt im Falle der Bestätigung der Suizidabsichten in Gefahr gerät, einen „negativen Paternalismus“ zu verwirklichen. Die Anerkennung der ärztlichen Pflicht zur therapeutischen Hilfe bei depressiven Suizidenten schließt nicht die Anerkennung von seltenen Situationen aus, in denen ein Behandlungsversuch unangemessen erscheint. Die Beispiele von Egon Friedell und Jochen Klepper sind in diesem Sinne anzuführen. Im Gegensatz zu den widersprüchlichen Erörterungen in der Rechtswissenschaft muss die ärztliche Haltung nach wie vor durch die Beachtung der Pflicht zur Erhaltung des Lebens bestimmt sein. Ethik in der Psychiatrie bedeutet immer noch die Anerkennung transzendentaler Auffassungen in Bezug auf die „Heiligkeit“ menschlichen Lebens. Die gegenwärtig verbreitete Diskursethik kann den Anforderungen an den notwendigen Schutz des menschlichen Lebens nicht genügen. Der Arzt gibt seine ärztliche Integrität auf, wenn er sich zum Todbringer machen lässt.

Schlüsselwörter: Suizid, Depression, Psychiatrie

Abstract

Psychiatry always was influenced by the dominating characteristics of the epoch („Zeitgeist“). This is demonstrated by describing the historical evolution of psychiatry in the century of illumination, in the era of National Socialism and during the revolutionary students movement in the western countries. Treatment of the mentally ill then was orientated to the rules of reason, to racism and to human autonomy. Physician’s paternalism is repudiated now, the patient’s selfdetermination is stressed. Under certain circumstances the intention of the depressive patient to kill himself is misunderstood as expression of personal autonomy. In these cases a right of the physician is postulated to assist the patient in his suicide. The assumption is wrong that the suicidal depressive is able to act as an autonomic individual. His psychopathological condition makes free deliberation and independent action impossible. If the physician does not realize this incapacity he is in danger to perform „negative paternalism“ towards the suicidal patient. On the other hand the psychiatrist has to acknowledge that there are very rare cases, where trials of antisuicidal therapy must fail. As examples the fates of Egon Friedell and Jochen Klepper are mentioned. The opinion is expressed that the medical profession has the duty to protect life for transcendental reasons. The „holiness of life“ is still obliging. Physicians loose their professional integrity when they become functionaries of death.

Keywords: Suicide, depression, psychiatry


Zeitgeisteinflüsse auf die Psychiatrie

Die Psychiatrie ist eine medizinische Disziplin, die in ganz besonderer Weise von den Tendenzen des Zeitgeistes abhängt.1 So brachte die grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter den libertären und egalitären Einflüssen der Französischen Revolution die mythisch überhöhte Befreiung der psychisch Kranken in der Bicêtre in Paris durch Pinel mit sich, wobei die Entfernung der Ketten allerdings nicht zu einer Humanisierung der Zustände in den Anstalten für Geisteskranke führte. Im Zeitalter der Aufklärung wurde die Psychiatrie nicht so sehr aufgrund eigener Anstrengungen zur selbständigen Wissenschaft, sie verselbständigte sich als solche unter dem gesellschaftlichen revolutionären Druck.2 Die psychiatrischen Leitideen wurden durch die zeitgenössische Philosophie bestimmt, nach der dem Menschen der Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit3 gezeigt werden sollte. Nach Schrenk4 wollte die Pädagogik des 18. Jahrhunderts mit Hilfe ihrer Methoden die Ideen der aufgeklärten Philanthropie bei Kindern, Sträflingen und Irren verwirklichen. Im Widerspruch zu heutigen humanitären  Axiomen hatte dies allerdings zur Folge, dass die Geisteskranken rigoros vernünftigen Ordnungsprinzipien unterworfen wurden. Die propagierte Herrschaft der Vernunft ließ ihre ungeregelte Existenz nicht zu, sie wurden in Zucht- und Tollhäusern, in Hospitälern und Anstalten zusammengefasst und mit gutem Gewissen einem strikten, auch auf Strafen nicht verzichtenden Regime unterworfen. So konnte es an nicht wenigen Orten im aufgeklärten Europa zu quälenden Freiheitsberaubungen, unmenschlicher Unterbringung und menschenunwürdiger Misshandlung kommen. Selbst Georg Christoph Lichtenberg5 schien die Feststellung nicht falsch zu sein, dass Stockschläge bei Narren oft mehr als andere Mittel helfen und sie nötigen, sich wieder der Welt anzuschließen, aus der die Schläge kommen. Die Epoche der Aufklärung lässt exemplarisch erkennen, dass unmenschlich erscheinende Praktiken in der Psychiatrie in dem Bewusstsein angewandt werden, vernünftiger Menschlichkeit einen Dienst zu erweisen. Schipperges6 führt als aufklärerischen Reformer Johann Peter Frank (1745-1821) an, dessen autoritative und oft despotische Humanität den Zwang nicht verschmähte.

Die unreflektierte Dominanz rationaler Gesichtspunkte bei der Behandlung von psychisch Kranken ist auch in neueren Epochen der Psychiatriegeschichte zu beobachten. Der unmenschliche Höhepunkt solcher Entwicklungen in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes ist häufig beschrieben worden. Ehrhardt hat in seiner Monographie über Euthanasie und Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens7 darauf hingewiesen, dass die sozialdarwinistisch und rassenideologisch begründete Vernichtung keine „nazistische Erfindung“ gewesen sei. Das NS-Regime habe ein nur in Ansätzen und Umrissen vorgefundenes Konzept in seinem Sinne ausgebaut und erweitert, sei dann jedoch nicht bei der Theorie stehengeblieben, sondern habe dieses Konzept mit einer Gründlichkeit und in einem Umfang praktiziert, die in der neueren Geschichte der zivilisierten Welt erstmalig und einmalig gewesen seien. Auch hier spielten pervertierte Vernunftgründe eine wichtige Rolle, der nationalsozialistische Rassenwahn sollte eine Verbesserung des völkischen Erbgutes durch „Ausmerze“ bewirken, ein weiteres Kalkül versprach sich ökonomische Vorteile von der Elimination unproduktiver „Minderwertiger“.

Zeitgeistbedingte Einflüsse ganz anderer Art wurden zur Zeit der Studentenrevolte zwischen 1967 und 1975 deutlich. Noelle-Neumann8 stellte seit 1967 Veränderungen im Wertesystem fest, die sich vor allem in einem Abbau der Hochschätzung sog. bürgerlicher Tugenden äußerten. Sekundärtugenden wie Höflichkeit, gutes Benehmen, Sorgfalt bei der Arbeit, Sparsamkeit und Ordnungsliebe wurden vor allem von jüngeren Menschen wesentlich weniger häufig als verpflichtende Werthaltungen angesehen. Die studentischen Revolutionäre bedienten sich einer provozierenden marxistischen Phraseologie, hinter der jedoch nicht so sehr die ernsthafte Absicht zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als die spielerische Irritation der Elterngeneration und der gesellschaftlichen Autoritäten stand. Die sich linksradikal gebende Ideologie der Revolte war nach Grossarth-Maticek9 durch Elemente des bürgerlichen Liberalismus, durch Züge des Surrealismus und durch einen im Grunde dürren Kathedersozialismus gekennzeichnet. Die Unvollkommenheit der realen Situation wurde am Optimum der Utopie gemessen. Der damit verbundene moralische Rigorismus diente vorwiegend der Selbstüberhebung und der Verurteilung Andersdenkender. Die Arbeiterschaft hat sich für die revolutionären Bestrebungen der Studenten nicht gewinnen lassen, sie durchschaute den im Grunde bürgerlich-romantischen Kern des Aufruhrs einer narzisstisch „die Verhältnisse zum Tanzen“ bringen wollenden intellektuellen Jugend. Der Bemerkung Grossarth-Maticeks, dass das permanente Bedürfnis der antiautoritären Studenten nach exemplarischen öffentlichen Konflikten eher auf gruppentherapeutische Bedürfnisse als auf eine sozialistische Politik mit Weitblick schließen lasse, ist zuzustimmen.

Schon vor dem Beginn der Studentenbewegung waren Reformbemühungen seitens der Ärzteschaft und der Psychiatrie erkennbar gewesen, sie hatten jedoch keinen Widerhall gefunden. Mit der Studentenrevolte und der damit verbundenen Idee der Emanzipation ging eine gesellschaftliche Öffnung gegenüber den Problemen der psychisch Kranken und der Psychiatrie einher. Medien, Parlamente, Gemeinden und Verwaltungen mussten erstaunt, häufig auch verstört, zur Kenntnis nehmen, dass es die diskriminierte Minderheit der psychisch Kranken und geistig Behinderten gab, die unter menschenunwürdigen Bedingungen lebte. Es ist schwierig, im Nachhinein zu entscheiden, ob der studentische Protest eine kausale Rolle bei der etwa gleichzeitig mit ihm einsetzenden Psychiatriereform spielte oder ob es sich nur um eine zeitliche Koinzidenz vor dem Hintergrund umfassenderer gesellschaftlicher Entwicklungen gehandelt hat. Ursächlich viel bedeutender war für Deutschland die Psychiatrie-Enquête, die ihren Bericht 1975 dem Deutschen Bundestag vorlegte. Die Lust am Chaos und der spielerische, dabei durchaus allerdings auch gewaltsame Unernst der Revolte machen es unwahrscheinlich, dass diese eine positive Veränderung auf Dauer hätte bewirken können. In den psychiatrischen Kliniken richteten die 68er kontraproduktive Unordnung an, die die Situation der Patienten verschlechterte.10

Wichtig war jedoch, dass in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Prinzip der menschlichen Autonomie für psychisch Kranke zunehmend relevant wurde. Es spielt auch beim Thema der Euthanasie bzw. ärztlichen Unterstützung von Suizidabsichten eine wichtige Rolle.

Gesellschaftliche Umwälzungen verlaufen allerdings nicht widerspruchslos, die Propagierung von Freiheit und Vernunft in der Aufklärung führte durchaus auch zu inhumanen Behandlungsweisen von Geisteskranken, der emanzipatorische Aufruhr der 68er führte bei aller Betonung der bürgerlichen Autonomie der Psychiatriepatienten zu schlimmen Fehlentwicklungen wie dem Heidelberger sozialistischen Patientenkollektiv oder den Auswüchsen der italienischen Psychiatriereform. Es zeigte sich, dass eine „reine Lehre“ im Rahmen einer alle gesellschaftlichen Phänomene mit letzter Autorität erklärenden Ideologie zu schlimmen Fehlentwicklungen führt.11

Autonomie und Paternalismus

Die im Kampf gegen den ärztlichen Paternalismus angestrebte autonome Selbstbestimmung des Kranken kann zu widersinnigen, im eigentlichen Sinne unmenschlichen Praktiken in Form von aktiver Euthanasie und tätiger ärztlicher Mithilfe beim Suizid führen. Das eifrige Bemühen um die Sicherung der Rechte des Patienten im asymmetrischen Verhältnis zum Arzt hat zu einer forcierten Verrechtlichung der Beziehungen von Patient und Arzt geführt, die den Entscheidungsraum des ersteren gegen den als übermächtig gedachten Arzt erweitern soll. Auch wenn eine infantile Rolle des Kranken gegenüber seinem Arzt mit guten Gründen als nicht angemessen anzusehen ist, so ist die gleichsam mitleidlose Verfolgung der Autonomiesierung durch die Justiz in den westlichen Industriestaaten potenziell kontraproduktiv, weil sie zur Verringerung des Schutzes des krankheitsbedingt häufig eben doch nicht zur vollen Selbstbestimmung Fähigen führen kann. Der Aufbau eines Schutzwalls gegen die befürchtete Expansion ärztlicher Befugnisse kann zur Folge haben, dass der Arzt sich seinerseits dahinter verschanzt und zum Schaden des Kranken eine für ihn selbst risikoarme Defensivmedizin betreibt.

Mit dem Stichwort des ärztlichen Paternalismus ist entsprechend modernen Kommunikations-theorien ein gut handhabbarer Kampfbegriff formuliert worden, der die im Sinne progressiver  Modernität zu bekämpfende Haltung eindrücklich umreißt. Kein Psychiater – und auch kein sonstiger Arzt – würde heute die 1961 von Schöllgen vertretene Anschauung gutheißen, dass die ärztliche Autorität nicht nur auf intellektuell fassbaren Prämissen ruhe, sondern dass diese Autorität die Vitalschichten des Patienten binde und diesen irgendwie hörig mache – zu seinem eigenen Heil und Nutzen. Die Regression des Patienten, die diesen infantil und anlehnungsbedürftig werden lässt, wird als eine Weisheit der Natur gedeutet, die Urbeziehung von Arzt und Patient möglichst eng werden zu lassen. Solche Sätze können nicht mehr auf Zustimmung rechnen. Auch die Empfehlung von Hare12, dem Prinzip des Paternalismus eine dominierende Rolle in der psychiatrischen Ethik zu geben, wird mit guten Gründen abgelehnt.13 Einen realistischen Standpunkt nimmt Lungershausen14 ein. Unter bestimmten Bedingungen (ärztliche Verhinderung einer Suizidhandlung z.B.) sei die ethische Rechtfertigung paternalistischen Verhaltens gegeben. Diese Auffassung ist der Lehre von der unbeschränkten Autonomie des psychisch Kranken vorzuziehen, der mit der juristischen und ärztlichen Zuweisung voller Selbstverantwortlichkeit überfordert werden kann. Es muss als unangemessene Analogisierung bezeichnet werden, wenn nach gewissen juristischen Auffassungen das Recht auf Leben auch das Recht auf Sterben beinhaltet. Lungershausen bestreitet zu Recht den Sieg der freien Selbstbestimmung des Menschen über die Situation im Suizid. Er sieht in der Selbsttötung den Sieg der Situation über den in ihr Gefangenen. Er zitiert eine Bemerkung Schopenhauers, in der dieser feststellt, dass es „niemals das Leben ist, das verneint wird, sondern die Umstände, unter denen es gelebt werden soll.“

Die Befürworter von aktiver Euthanasie und ärztlich unterstütztem Suizid übersehen, dass die als Menschenrecht postulierte Selbstbestimmung durch psychische Störungen aufgehoben oder beeinträchtigt sein kann und dass der Psychiater aus vergleichbaren Gründen gegen die Suizidabsicht seines Patienten handeln darf und muss, wie er eine zwangsweise Unterbringung eines Kranken nach den entsprechenden Gesetzen zu veranlassen hat.15 Die Absolutsetzung der Autonomie ist falsch und muss zur Schutzlosigkeit von Kranken und zum gesellschaftlichen Chaos führen. Es ist eigentümlich, dass in den hochentwickelten Industriestaaten eine Fülle von freiheitseinschränkenden Gesetzen und Vorschriften auf so gut wie allen Lebensgebieten klaglos hingenommen wird, während lautstarke Gruppen die Befreiung vom Lebensschutz mit großem öffentlichen Widerhall fordern können. Die angestrebte Erweiterung der menschlichen Autonomie wird widersinnig, wenn der Kranke bzw. Depressive sich mit ärztlicher Hilfe töten soll, während durchaus noch Aussicht auf Erfolg einer antidepressiven Therapie besteht. Der in der Literatur häufig zitierte Fall der 50jährigen holländischen Sozialarbeiterin, deren Psychiater ihr Medikamente zur Selbsttötung gegeben hatte, ist geeignet, dies zu illustrieren. Die Patientin litt an einer schweren Depression, sie hatte einen Sohn durch Suizid und einen zweiten durch eine Tumorerkrankung verloren. Sie drohte dem Psychiater sich auf gewalttätige Weise das Leben zu nehmen, wenn er ihr nicht helfe sich umzubringen. Der Psychiater half ihr bei der Selbsttötung und wurde vom Gericht freigesprochen, weil er sich in einem Notstand befunden habe. Der Beurteilung dieses Falles durch Cécile Ernst16 ist zuzustimmen, dass Depressionen in der Regel nicht unheilbar sind und dass eine intensive Therapie auch dieser Kranken nicht aussichtslos gewesen wäre. Ernst zitiert Untersuchungen an Tumorkranken, nach denen in etwa 25 Prozent der Fälle zumindest mittelschwere Depressionen bestehen, die grundsätzlich einer antidepressiven Behandlung zugänglich sind. Präsuizidale Risikofaktoren sind eine ungenügende palliative Therapie und die Entlassung aus der Betreuung durch das (hier schwedische) Gesundheitssystem.

Todeswünsche von Depressiven können auch durch entsprechende Insinuationen der Umwelt (Familienangehörige, Medienverlautbarungen, ökonomische Erwägungen) verstärkt werden. Es kann quasimoralischer Druck auf Kranke ausgeübt werden, ihre Krankheit sei teuer und belaste die Umgebung. Suizid kann dann als obligatorische Handlung erscheinen, die der Kranke Familie und Gesellschaft schuldet. Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass bei scheinbar sachlichen Feststellungen in der Öffentlichkeit über die demographische Entwicklung mit der Zunahme der Alten das Bedauern mitschwingt, dass man diese Entwicklung nicht verhindern kann. Dabei fällt auf, dass diese Sorgen von jüngeren Leuten geäußert werden, die durch ihr eigenes limitiert reproduktives Verhalten zur Verformung der Bevölkerungspyramide beitragen. Die Single-Ideologie gilt als schick, das Sozialprestige der Alten ist gering. Die monströsen „Ausmerze“-Aktionen der Nationalsozialisten gegen „unnütze Esser“ verhindern erstaunlicherweise das Umsichgreifen der Billigung der aktiven Euthanasie und des ärztlich unterstützten Suizids nicht. Selbst Befürwortern müsste es unheimlich werden, wenn sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Zahl der jährlichen Anfragen nach assistiertem Suizid bei holländischen Psychiatern 320 beträgt und dass 64 Prozent (von 552) befragten Psychiatern ärztlich assistierten Suizid aufgrund psychischer Erkrankungen für akzeptabel halten.17 Diese Gegebenheiten entsprechen einem negativen ärztlichen Paternalismus, ohne affirmative Haltung des Arztes angesichts der Suizidalität des Patienten ist der „Erfolg“ der unterstützten Selbsttötung ja nicht denkbar. Der ärztliche Einfluss muss als erheblich, wenn nicht als entscheidend angesehen werden.

Psychopathologie der Suizidalität

Als praktisch gut brauchbar hat sich das von Mitterauer18 beschriebene suizidale Achsensyndrom erwiesen, das aus offener oder versteckter Suizidalität, aus der Diagnose eines endomorph-zyklothymen, endomorph-schizophrenen oder/und eines organischen Achsensyndroms sowie einer suizidpositiven Familienanamnese besteht. Es ist leicht erkennbar, dass in dieser Zusammenstellung pathologische Faktoren überwiegen, die eine freie Willensbestimmung ausschließen oder zumindest einschränken. Den selbstbestimmten Bilanzselbstmord bezeichnet Pöldinger19 mit Recht als selten.

Erwin Ringels20 einprägsame Beschreibung des präsuizidalen Syndroms mit den Elementen der Einengung, der gehemmten und gegen die eigene Person gerichteten Aggression sowie der Selbstmordphantasien beruht ebenfalls auf der Annahme, dass in solchen Fällen ein abnormer bzw. krankhafter psychischer Zustand zur Suizidabsicht führt. Er räumt realistischerweise ein, dass unerträgliche Außenfaktoren auch Menschen, die an und für sich nicht selbstmordgefährdet wären, in den Suizid treiben können. Jeder Selbstmord entstehe im Zusammenwirken innerer und äußerer Faktoren. Es gibt Suizidhandlungen in Situationen, in denen auch der Psychiater nicht so sehr psychopathologische Faktoren als wirksam erkennen kann als eine Ausweglosigkeit hinsichtlich der Fortsetzung des Lebens, die auf äußere Umstände zurückzuführen ist. Ringel zitiert den Bericht von Walther Schneider21 über die Selbsttötung von Egon Friedell, in dem eine Verzweiflung deutlich wird, die psychiatrischen Therapieanstrengungen unzugänglich erscheinen muss. In einem derartigen außergewöhnlichen Fall sind die Umstände tatsächlich stärker als alle denkbaren ärztlichen Korrekturversuche. Friedell sprang aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock auf die Straße, als ein SA-Kommando ihn verhaften wollte. Er fürchtete die Einlieferung in ein Konzentrationslager mit allen sich daraus ergebenden mörderischen Konsequenzen. Ähnlich verhielt es sich mit der Selbsttötung Jochen Kleppers22, der als „Arier“ und Christ sich während des Zweiten Weltkrieges zu seiner jüdischen Ehefrau und seiner jüdischen Stieftochter bekannte. Gerade auch der Psychiater wird die Tagebucheintragungen Kleppers in den letzten Tagen seines Lebens mit tiefer innerer Bewegung lesen und aus ihnen Folgerungen für seine Einstellung zu dieser Art von Selbsttötung ableiten können. Nachdem alle Versuche, eine Ausreiseerlaubnis für seine Frau und die Tochter zu erreichen, gescheitert waren, nahm sich die Familie am 10. Dezember 1942 das Leben. Klepper starb als tief gläubiger Christ, nachdem er nach Erschöpfung aller Hilfsmöglichkeiten die Ausweglosigkeit der Situation für ihn und seine Familie erkennen musste. Reinhold Schneider schrieb in einem Nachwort zu dem veröffentlichten Tagebuch Kleppers 1956: „Klepper hat die Seinen an der Hand genommen, als es kein Recht und keinen Schutz mehr gab, und ist mit ihnen vor den Richter, den schrecklichen Vater, geeilt, sich schuldig wissend und doch unergründlicher Gnade gewiss. Gerade dieser Tod ist, von ihm her gesehen, zu einem Glaubenszeugnis und einem Zeichen der Treue geworden... Er war an eine Stelle genötigt worden, von der niemand zurückkehrt – und also können die Lebenden nicht urteilen über die Entscheidung, die er dort vollzog.“

Solche schrecklichen Ausweglosigkeiten, in denen der Psychiater seine Nichtzuständigkeit anerkennen muss, sind nicht die Regel bei der Beurteilung depressiver suizidaler Zustände. Für diese erlauben die modernen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV nur etikettierende Kennzeichnungen. Diagnostische Zuordnungen erfolgen anhand der Summation von Symptomen, deren Ätiologie nicht berücksichtigt wird. Ihre Psychodynamik bleibt unberücksichtigt, wodurch zwar Beurteilungsunschärfen vermieden werden können, jeder nähere Zugang zu der anthropologischen Verfassung des Depressiven unterbleibt jedoch. Gerade die Erörterung eines Themas, wie es die suizidale Verzweiflung von depressiven Menschen ist, zeigt, dass die intendierte weltweite Anwendbarkeit von psychopathologischen Klassifikationssystemen einen hohen Preis hat. Inzwischen sind viele Psychiater der Auffassung, dass der Preis tatsächlich zu hoch ist und dass er einen Verlust an psychiatrischem Verständnis für menschliche Befindlichkeiten mit sich bringt. Scobel23 hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitskonzept der Depression als reine Abstraktion verstanden werden müsse. Es existiere weder als einheitliche, genau definierbare Krankheit, noch lasse sich eine einheitliche, kongruente Gruppe von depressiven Menschen festmachen. Jede Kategorisierung von depressiven Erscheinungen enthält danach immer auch die subjektive Einschätzung und die Beurteilung des Untersuchers. Die Diagnostik depressiver Phänomene und ihre psychiatrische Erklärung müssten deshalb zwangsläufig umstritten und zum Teil widersprüchlich sein. Depression sei ein eher verwaschener Oberbegriff für verschiedenste Zustandsbilder.

Dies ist zwar richtig, trotzdem ist eine Differenzierung depressiver Syndrome nach ätiologischen Gesichtspunkten nicht nutzlos, da die Behandlung eines präsuizidalen Symptomenkomplexes je nach Verursachung schwerpunktmäßig verschieden sein kann. Eine früher endogen genannte Depression mit Suizidalität wird vor allem eine stationäre klinische Therapie mit Antidepressiva erforderlich machen, eine reaktive Depression nach einem Verlusterlebnis wird in erster Linie eine Psychotherapie angezeigt sein lassen.

Versucht man das Kernsyndrom der schweren („majoren“) Depression unabhängig von soziokulturellen Überformungen zu erfassen, so ergibt sich eine menschliche Befindlichkeit, die als Herabgestimmtheit bezeichnet werden kann.24 In Anlehnung an den Sprachgebrauch der Verhaltensphysiologie können die menschlichen Handelns- und Erlebensbereitschaften als Formen der Umweltkommunikation mit dem Terminus Gestimmtheit bezeichnet werden. Die depressive Herabgestimmtheit ist in diesem Sinne identisch mit einer Verminderung der Aktionsfähigkeit und aktiven Erlebensfähigkeit. Die rein seelische Traurigkeit als besondere Form der Stimmung impliziert die Frage, wie ein Mensch verstimmt ist, angesichts melancholischer Herabgestimmtheit im Sinne der verminderten Handelns- und Erlebensbereitschaft ist zu fragen, wozu ein Kranker noch oder schon nicht mehr gestimmt ist. Die Herabgestimmtheit kann so intensiv sein, dass Suizidhandlungen bei bestehender Suizidabsicht erschwert oder verhindert werden. Sie liefert die dynamischen Voraussetzungen für das melancholische Erlebenmüssen des eigenen Befindens und der Zuständlichkeit der Welt. Die eigene Unversehrtheit kann nicht mehr gedacht und erlebt werden, sie bleibt als Ziel der Selbstverwirklichung unerreichbar. Die Welt wird unbewältigbar. Daraus erwachsen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung als Verstimmungsqualitäten mit der Selbsttötung als vermeintlichem letztem Ausweg. Bei einem bisher Handlungsunfähigen kann raptusartig ein bis dahin kompensierter Suizidantrieb in eine Selbsttötungshandlung umgesetzt werden, wobei vorherige Selbstmordandrohungen trotz ihres manchmal theatralisch-appellativen Charakters in jedem Falle ernstgenommen werden müssen.25

Ärztliche Selbsttötungshilfe

Die Psychiater werden die in den letzten Jahren von den verschiedensten Seiten in westlichen Ländern an sie gestellten Forderungen nach ärztlicher Mithilfe bei Suizidhandlungen abzulehnen haben. Die Propagandisten des ärztlich unterstützten Suizids (physician assisted suicide: PAS) geben sich nicht ausreichend Rechenschaft darüber, dass sich die Position des Arztes in der Gesellschaft zwangsläufig ändern wird, wenn er nicht mehr als Anwalt des Lebens, sondern als Todbringer angesehen wird. Kennzeichnend für die Änderung des Zeitgeistes ist die Tatsache, dass der erfahrene Kliniker Kranz in seinem 1970 erschienenen Buch „Depressionen. Ein Leitfaden für die Praxis“ die Probleme des ärztlich assistierten Suizids bzw. der aktiven Euthanasie von Depressiven nicht einmal erwähnt. Ein Psychiater, der den Nationalsozialismus abgelehnt hatte und deshalb erhebliche berufliche Beeinträchtigungen erfuhr, konnte sich 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges offenbar nicht vorstellen, dass derartige Themen für die Psychiatrie wieder relevant werden könnten. Die Psychiatrie hatte mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes eine Phase ihrer Gefährdung und Gefährlichkeit26 hinter sich gebracht, die Morde an psychisch Kranken und geistig Behinderten waren in intensiver Erinnerung. Es war nicht vorherzusehen, dass mit der offensiven Verkündigung des Emanzipationsideals eine neue Epoche der selektiven Tötung von Menschen durch Psychiater heraufziehen würde. Zweifellos hat die seit den späten sechziger Jahren eingetretene Psychiatriereform mit der Vermehrung von Freiheit und Selbstbestimmung psychisch Kranker einerseits zur Humanisierung beigetragen, die Kehrseite dieser Bestrebungen ist jedoch andererseits die Erfahrung, dass Psychiatrie-Patienten in eine falsche Autonomie hineingestoßen werden, die sie ohne Schutz vor eigenen selbstzerstörerischen Antrieben lassen kann. Auch wenn man die Figur des alles bestimmenden „großen Arztes“ als Verkörperung eines unerlaubten Paternalismus ablehnt, so zwingen die praktischen Lebensverhältnisse den Arzt nicht selten, eine der reinen Lehre von der unbedingten Selbstbestimmung widersprechende Haltung einzunehmen. Der Philosoph H.-M. Sass hat 1991 die These vertreten, dass der Paternalismus zwar nicht als ein generelles Modell für Güterabwägung in der Psychiatrie zu akzeptieren sei, er sei jedoch eine nicht vermeidbare Rückfallposition,... die immer erst in einem konkreten Fall aktuell werde, wenn die Benutzung anderer Szenarien der Interaktion versage. Schwerste Fremdgefährdung und Selbstgefährdung werden von ihm in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt. Auf Lungershausens27 Auffassung wurde bereits hingewiesen, dass bei der ärztlichen Verhinderung einer Suizidhandlung die ethische Rechtfertigung paternalistischen Verhaltens gegeben ist. Das ärztliche Standesrecht fordert vom Arzt, dass er einem Suizidenten gegenüber interveniert.28 Die Schwierigkeit, die ärztliche Hilfspflicht an den Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Suizidenten zu knüpfen, führt nach Lenckner29 zu höchst merkwürdigen, wenn nicht widersinnigen Ergebnissen: Der Arzt müsste dann zwar den Krebskranken nicht daran hindern, die tödliche Dosis Schlaftabletten zu nehmen, wohl aber müsste er postwendend den Suiziderfolg abwenden, sobald der Kranke das Bewusstsein verloren habe. Ringel30 und Pöldinger31 ist darin Recht zu geben, dass die überwiegende Mehrzahl der Suizidenten entweder aus reaktiv-depressiven oder aus psychotischen Gründen psychopathologische Symptome aufweist, die die Fähigkeit zur rationalen Würdigung der eigenen Situation und zu darauf gegründeten freiheitsbestimmten Entschlüssen einschränken. Holderegger sieht dies ganz ähnlich. Bei suizidbereiten Menschen sei davon auszugehen, dass sich die Mehrzahl in einem außergewöhnlichen Zustand befindet. In der Regel könne wohl kaum von einem vollverantwortlichen Freiheitsakt („Freitod“) die Rede sein. Es entspricht verbreiteter psychiatrischer Erfahrung, dass nicht wenige Suizidversuche verdeckte Hilferufe an die Umgebung sind, deren helfendes, tötungsverhinderndes Eingreifen gefordert und erwartet wird. Jede psychische Erkrankung, die die affektive Ausgeglichenheit schwer beeinträchtigt, ist als Ausschließungsgrund freiheitlicher Selbstbestimmung anzusehen, wenn es um die Frage geht, präventive oder therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Stone32 hat pragmatisch paternalistische Handlungsweisen dann als gerechtfertigt bezeichnet, wenn erwartet werden kann, dass derjenige, bei dem eine solche Handlung durchgeführt wurde, später dafür dankbar sein wird.

Vor allem der rechtswissenschaftlichen Literatur ist zu entnehmen, dass vielen Juristen eine derartige Denk- und Handlungsweise als zu simpel imponiert. Bottke33 hat die Meinungsvielfalt in der juristischen Diskussion beschrieben, daran hat sich bis heute noch nichts Entscheidendes geändert. Der Juristenstreit ist geeignet, den in der aktuellen Situation handeln sollenden Arzt zu verunsichern. Er wird sich, auch zu seinem eigenen Schutz vor strafrechtlicher Anklage und zivilrechtlicher Haftung, im Sinne von Eser an seiner Garantenpflicht zu orientieren haben, die sein suizidverhinderndes Eingreifen fordert. In der Praxis haben sich häufig unrealistische Anforderungen durch Staatsanwälte und Richter an die absolut sichere Verhinderung einer Selbsttötung eines Patienten in einer psychiatrischen Klinik ergeben, dabei wurde dann argumentiert, dass die Angehörigen eines suizidalen Menschen nach der Aufnahme des Kranken in die Klinik mit Sicherheit hätten erwarten dürfen, dass diesem ein Suizid nicht gelingt. Der Praktiker weiß, dass der Garantenpflicht trotz aller Vorkehrungen nicht die uneingeschränkte Sicherheit der entsprechenden Garantie entspricht.

Schockenhoff34 hat zutreffend die Argumentation, die ihren Ausgangspunkt allein beim Gedanken der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen nimmt, als nur scheinbar frei von anthropologischen Voraussetzungen bezeichnet. Diese Auffassung enthalte in Wahrheit eine dezidierte anthropologische Prämisse – Autonomie im Sinne der Autarkie und Selbstgenügsamkeit -, die am gesunden leistungsbewussten und keiner Hilfe bedürftigen Individuum abgelesen sei. Ebenso wie die verzweifelte Geste der versuchten Selbsttötung seien auch sprachlich geäußerte Sterbewünsche im letzten Krankheitsstadium häufig verhüllte Mitteilungen, die auf einer tieferen Beziehungsebene etwas anderes meinten, als sie äußerlich ausdrückten. Diese Appellfunktion von suizidalen Bekundungen muss erkannt und ernstgenommen werden. Zwar gibt es Rechtsauffassungen (z.B. nach deutschem Recht), wonach die Beihilfe zur Selbsttötung nicht strafbar ist, strafbar ist dann allerdings die unterlassene Hilfeleistung, wenn die suizidale Lebensgefährdung eingetreten ist. Diese Situation ist ärztlich unbefriedigend, man würde wohl auch nicht zögern, einen Menschen als nicht geschäftsfähig zu bezeichnen, der in einer schweren Depression mit Verarmungs- und Schuldwahn Erbangelegenheiten regeln möchte.

Ethik in der Psychiatrie

Die frühere ärztliche Sicherheit, dass der Arzt Leben zu befördern und den Tod zu verhindern bzw. hinauszuschieben habe, ist verloren gegangen. Der hippokratische Eid mit seinen einschlägigen Vorschriften war in seiner schlichten Transzendenz eindeutig, das christlich bestimmte Ideal ärztlichen Handelns ließ keine Relativierung der ärztlichen Pflicht zur Erhaltung des Lebens zu. Ärztlicher Paternalismus wird jetzt grundsätzlich in Frage gestellt, die Autonomisierung des Patienten führt zur Verrechtlichung der Patient-Arzt-Beziehung. Diese entspricht nach herrschender Rechtsauffassung einem Vertrag zwischen gleichartigen Partnern, dessen Gegenstand eine definierte Leistung gegen Bezahlung ist. Die seit etwa zwei Jahrzehnten eingetretene grundlegende Änderung mit dem Verschwinden der Transzendenz als eines anthropologischen Grundwertes und damit mit dem Verblassen der christlichen Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen35 kennzeichnet die Leitlinien der aktuellen bioethischen Diskussion. Das vorgerückte Humanitätsbewusstsein unserer Tage tritt an die Stelle der Religion.36 Die Gefahr, dass das Humanum verkürzt wird, sobald es ohne einen Bezug über sich selbst hinaus gedeutet wird37, wird häufig nicht mehr gesehen. Dominierend ist die sogenannte Diskursethik, nach der eine Entscheidung oder Bewertung dann moralisch richtig ist, wenn alle von ihr Betroffenen im freien und echten Austausch ihr zustimmen können.38 Personen sind nach Strasser allerdings nicht bloß von dieser Welt. Unser Wissen davon sei intuitiv und selbstevident. Es bestehe eine universale religiöse Evidenz. Pannenberg39 stimmt mit ihm im Grundsätzlichen überein: Der Begriff der Person ist unter christlichen Aspekten auf alles anwendbar, was Menschenantlitz trägt. Derartige Überlegungen widersprechen dem Zeitgeist. Neben der Lehre von der Autonomie des Menschen besteht eine pragmatisch-kasuistisch orientierte Tendenz zur Kosten-Nutzen-Orientiertheit. Der Begriff der „Heiligkeit des Lebens“ wird als obsolet betrachtet. Der Wert des menschlichen Lebens tritt bei der Güterabwägung hinter die Würdigung der depressiv-suizidalen Befindlichkeit zurück. Die ärztliche Bereitschaft, den Menschen von dieser Befindlichkeit zu „erlösen“ wird in vielen Fällen nicht mehr durch die Anerkennung des Lebens als eines höchsten Wertes verhindert.

Angesichts des Fehlens einer metaphysisch begründeten ethischen Maxime hat sich eine auf gesellschaftlicher Zustimmung beruhende Ethikdefinition ergeben. Die Selbstbestimmung in fast jeder Lage wird so zur Grundlage ärztlichen Handelns, wobei die Psychiatrie in ein ganz spezifisches Dilemma gerät. Sie ist mit gesetzlich verankerten Freiheitsentzugsmöglichkeiten ausgestattet, deren Anwendung die Gesellschaft einerseits sanktioniert, die andererseits jedoch geeignet erscheinen, den Vorwurf des Paternalismus zu begründen. Die Antipsychiatrie hatte diesen Vorwurf mit besonderer Heftigkeit erhoben, wobei sie übersah, dass das psychotische bzw. depressiv-suizidale Erleben und Verhalten nicht einer selbstbestimmten, freiheitlichen Reaktion eines Individuums entsprechen, sondern auf eine freiheitsmindernde Erkrankung zurückzuführen sind. Die psychiatrische Therapie mit dem Ziel der Beseitigung der Krankheitssymptome ermöglicht erst wieder ein Leben in freiheitsbestimmter Autonomie.

Die antipsychiatrischen Überspitzungen haben jetzt an Bedeutung verloren. Es ist allerdings deutlich geworden, dass Versuche, psychiatrisches Handeln in ethische Regeln zu fassen, auf große Schwierigkeiten stoßen. Nach Payk40 ist Ethik in der Psychiatrie täglich angewandte Ethik, mit oft unzulänglichen Antworten auf konkrete Fragen. Sich vom Schreibtisch aus mit ethischen Fragen der Medizin zu beschäftigen, gelte zwar als zeitkritisch engagiert, stehe aber oft nicht mit der Wirklichkeit in Einklang. Tatsächlich irritiert die in den letzten Jahren immer weiter wachsende Zahl von Ethikkommissionen, ethischen Richtlinien, Ethikkongressen und einschlägigen Veröffentlichungen, deren inflationäre Vermehrung den Verdacht erweckt, dass die Probleme der Ethik in der Psychiatrie immer noch nicht befriedigend gelöst sind. Helmchen41 hat lapidar festgestellt, dass es eine spezielle psychiatrische Ethik gar nicht gibt. Wir haben uns also angesichts der Probleme von aktiver Euthanasie und ärztlicher Beihilfe zum Suizid auf tragfähige Grundlagen einer die Anforderungen der täglichen Praxis bestehenden allgemeinen Ethik zu besinnen. Die herrschende säkulare Bioethik wird nach Engelhardt Jr.42 dieses notwendige Fundament nicht liefern können. Sie ist nach Engelhardt ein verzweifelter kultureller Versuch, moralische Orientierung zu erlangen, wobei hinzuzufügen wäre, dass die in der Politik und in der Wissenschaft bewährte Methode der Entscheidung durch Mehrheitsbildung auf die Formulierung und Anerkennung ethischer Maximen übertragen wird. Für Parlamente und für wissenschaftliche Beurteilergremien, die nach Symptomlisten zu entscheiden haben, ist diese Methode angemessen, eine zeitgeistbedingte Mehrheit ist jedoch angesichts der gegenwärtig zu machenden Erfahrungen im Zusammenhang mit aktiver Euthanasie und ärztlich assistiertem Suizid als fehlbar zu bezeichnen.

Gerade bei geschichtsbewussten Psychiatern besteht der Eindruck, dass die Ethikdiskussion Züge einer Mode aufweist und dass sie häufig für den psychiatrischen Alltag unbrauchbar ist, in dem ein Weg gefunden werden muss „zwischen Freiheitsberaubung und unterlassener Hilfeleistung“.43 Finzens Frage, ob die jetzigen Ethikdiskussionen nicht schlicht eine Fortsetzung des postmodernen Diskurses sind, in dem Werte nicht stabilisiert, sondern relativiert werden, trifft wohl ein wesentliches Merkmal der Situation. Dem Verständnis von ärztlichen Pflichten und Rechten muss es unangemessen erscheinen, dass ethisch relevante Entscheidungen aufgrund von epochal wechselnden, situations- und kontextabhängigen Diskussionsergebnissen gefällt werden sollen.44 Der aufscheinende Ökonomismus, der als hintergründiger Faktor in der öffentlichen Diskussion als wesentlich erkannt werden muss, ist in höchstem Maße beunruhigend. Er kommt durchaus auch im ethischen Gewand daher, indem er die Ansprüche der Alten und Kranken zu Lasten der Jungen und Produktiven als ungerechtfertigt, gemeint ist unmoralisch, denunziert. Ein depressiver suizidaler Mensch ist sicher eine Belastung für seine Umwelt, die ärztliche Sicherstellung des Gelingens seiner Selbsttötung beseitigt auch einen Kostenfaktor. Die gegenwärtig zu hörenden Argumente für aktive Euthanasie und ärztlich assistierten Suizid sind allerdings feiner gesponnen. Den kruden Ökonomismus der Nationalsozialisten verurteilt man selbstverständlich entrüstet, dabei wird aber die Ähnlichkeit der Ergebnisse übersehen. Die Spannung zwischen Zeitgeist und ärztlichem Handeln bei Suizidalität mag manchmal schwer auszuhalten sein, der Arzt muss jedoch auf der Seite des Lebens stehen. Er gibt seine ärztliche Integrität auf, wenn er sich zum Todbringer machen lässt.


 

Referenzen

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em. Direktor der Psychiatrischen Klinik
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