Lebensnotwendige Medikamente in Entwicklungsländern: Ist der Kampf verloren?

Imago Hominis (1999); 6(3): 183-186

Die Wirksamkeit eines Medikamentes hängt von einer langen Reihe verschiedener Faktoren ab: Forschung und Entwicklung, Produktion, Qualitätskontrolle, Verteilung, Bekanntmachung, Diagnose, Vorschreibung, Finanzierbarkeit, Verabreichung, Verlaufskontrolle.... In jedem Bereich kann es zu Interessenskonflikten kommen, wobei die Menschen in den Entwicklungsländern die Erstbetroffenen sind, die das zu spüren bekommen. Zur Zeit haben ganze Bevölkerungsgruppen keinen Zugriff zu lebensnotwendigen Medikamenten. Die Lage scheint sich eher zum Schlechteren hin zu entwickeln. Lebensnotwendige Medikamente sind Grundvoraussetzung für die jeweiligen Gesundheitsprogramme. Die wichtigsten Aktionspläne beinhalten Programme zur Säuglingssterblichkeit, Schwangerschaftsbetreuung, gastrointestinale und respiratorische Erkrankungen, Tuberkulose- und Malariaüberwachung. Im Wesentlichen gibt es vier Hauptprobleme, die eine ausreichende Versorgung der bedürftigen Menschen in den Entwicklungsländern erschweren: (1) schlechte Qualität der Arzneiwaren, (2) mangelnder Zugang zu wirksamen Medikamenten, (3) Notwendigkeit der Grundlagenforschung zur Entwicklung neuer Medikamente gegen Tropenkrankheiten und (4) mögliche Auswirkungen des WTO – Abkommens (Welthandelsabkommens) auf die Verfügbarkeit der Medikamente in den Entwicklungsländern. Der mangelnde Zugang der armen Menschen zu lebensnotwendigen Medikamenten reißt einen weiteren Graben zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern auf. Fortbildungsprogramme für das Gesundheitspersonal, Verbreitung gesicherter medizinischer Erkenntnisse und besseres Arzneimittelmanagement wären wichtige Schritte für die Entwicklung des Gesundheitswesens in den Ländern der dritten Welt.

Gefälschte und Substandard-Arzneien

Arzneimittel müssen nach hohen Sicherheitskriterien hergestellt werden. Leider verfügen viele Entwicklungsstaaten nicht über die notwendigen technischen, finanziellen oder humanitären Ressourcen, um gute Produkte selbst herstellen zu können. Andererseits setzt so manches Land die Qualitätsansprüche herab, wenn es sich um Ware handelt, die für den Export hergestellt wird. In den letzten Jahren sind außerdem zunehmend gefälschte (nachgemachte) oder qualitativ minderwertige Arzneiwaren am Markt aufgetaucht.

Die Autoritäten von Nigeria veranlaßten während der letzten Meningitis-Epidemie im Jahr 1995 eine landesweite Impfaktion. Zu diesem Zweck wurden dem Land 88.000 Ampullen Impfstoff für Neugeborene geschenkt. Die Ärzte der Internationalen Organisation „Ärzte ohne Grenzen", die in Zusammenarbeit mit den Autoritäten des Landes die Aktion durchführten, bemerkten eigenartige Veränderungen an den Impfstoffampullen. Nachforschungen bei den Herstellerfirmen ergaben, daß die Produktionsnummern nicht übereinstimmten: Der geschenkte Impfstoff wurde teilweise durch gefälschten, unwirksamen ersetzt. Schätzungsweise wurden 60.000 Patienten (durchgeführte Impfungen insgesamt: 5 Mio.) mit gefälschtem Serum geimpft. Dieselben Ärzte haben andere Fälle von Fälschungen entdeckt. Organisierte Schmugglerbanden kopieren häufig bekannte Arzneimittel und ersetzen die gelieferten Originale durch ihre Kopien. Illegale Produzenten stellen auch qualitativ schlechte oder Generic-Pharmaca her. Traurigerweise gab es in den letzten Jahren sogar einige Fälle mit tödlichem Ausgang, weil gefälschte Arzneien eingenommen wurden.

Fluktuierende Produktion lebenswichtiger Medikamente

Medikamente zur Behandlung von Tropenkrankheiten sind in den letzten Jahren vom Markt verschwunden, weil ihre Herstellung ökonomisch gesehen nicht profitabel ist. Viele jener Medikamente sind in den 50er oder 60er Jahren entwickelt worden und in den Industriestaaten selten oder gar nicht zum Einsatz gekommen. Beispielsweise kann die bakterielle Meningitis (Erreger Neisseria meningitidis), die in einigen Ländern Afrikas endemisch verbreitet ist (Nigeria, 1996 100.000 dokumentierte Fälle), mit Chloramphenicol in öliger Suspension zur i.m.-Injektion (Einmalgabe) gut behandelt werden. Die Therapie mit Ampicillin ist etwa gleichwertig, allerdings ist eine 10-Tage-lange iv-Applikation (4x täglich) notwendig, und die Kosten sind um das 10-fache höher. Die Weiterherstellung von Chloramphenicol ist aber nicht gesichert, weil die Firma Roussel-Uclaf die Produktion ausgegliedert hat, um sie an einen anderen Ort zu verlegen. Ähnlich verhält es sich mit einem Medikament zur Behandlung der afrikanischen Trypanosomiasis (20% Durchseuchung in Uganda). Das Mittel wurde zu exzessiv hohen Kosten verkauft und wird seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr hergestellt. Nur mit Hilfe der WHO und bestimmter NG-Organisationen kann dieses Medikament noch bezogen werden.

Unerschwingliche Preise

Die Problematik der Virustatika zur Behandlung von AIDS in den Entwicklungsländern ist hinlänglich bekannt. Es gibt darüber hinaus aber noch viele andere Medikamente, die für die Menschen in den Entwicklungsländern einfach unbezahlbar sind.

Streptococcus pneumoniae ist der Erreger einer Art von Lungenentzündung, die Hauptursache der Kindersterblichkeit in Afrika ist. Diese Erkrankung läßt sich ausgezeichnet mit Ceftriaxon behandeln, das unerschwinglich ist, so wie beispielsweise die Impfstoffe gegen Hepatitis B oder Haemophilus influenzae. Ein erfreuliches Beispiel muß aber auch berichtet werden. Die hoch ansteckende Shigellen-Ruhr (bis zu 15% letal verlaufende Durchfallserkrankung) kann gut mit Ciprofloxacin behandelt werden. Bayer und MSD haben in einer gemeinsamen Absprache Arzneimittel zur Behandlung von 50.000 Personen zu einem stark reduzierten Preis hergestellt.

Lebensnotwenige Medikamente unzulänglich aufbereitet

An Tuberkulose verstarben im Jahr 1997 drei Mio. Menschen. Die wirksame, gesicherte Therapie ist aber in der Praxis kaum durchführbar, und die Compliance ist schlecht. Überhaupt nur 23% der Weltbevölkerung hat überhaupt Zugang zu Tuberkulostatika. Die Therapiekonzepte sollten dringend überarbeitet und leichter zugänglich gemacht werden. Weiters stellen die resistenten Keime ein Problem dar. Alternativtherapien sind noch viel teurer, zu lang und zu kompliziert. Die Tatsache, daß in einigen Ländern bereits viele Menschen an multiresistenten Tb-Bazillen erkrankt sind und keinerlei Behandlung erhalten, ist medizinisch und humanistisch gesehen einfach unverantwortlich. Die Forschung und Entwicklung neuer Verabreichungsformen und Therapiekonzepte stellt eine dringende Notwenigkeit dar. Es versteht sich von selbst, daß die armen Länder nicht in der Lage sind, ohne technische und finanzielle Unterstützung dieses Ziel zu erreichen.

Fehlende Weiterentwicklung neuer Medikamente

Die bereits genannten Gründe machen eine verstärkte Forschung und Entwicklung von Tropenmedikamenten erforderlich. Zwischen 1910 und 1979 zog die Pharmaindustrie gegen die Tropenkrankheiten zu Felde. Seit 1970 hat sich eine andere ökonomische Strategie durchgesetzt. Beispielsweise wurden zwischen 1975 und 1997 1.223 neue Substanzen auf den Markt gebracht, nur 13 davon zur Behandlung von Tropenkrankheiten. Für diese beträchtliche Änderung sind in erster Linie ökonomische Gründe verantwortlich.

Globalisierung und Medikamente: Fragen und Probleme

Eine Diskussion über die gegenwärtige Lage auf dem Gebiet der Medikamentenverfügbarkeit wäre nicht vollständig, ohne dabei die steigende Globalisierung der pharmazeutischen Industrie und die möglichen Auswirkungen der jüngsten, aber auch zukünftigen Welthandelsabkommen in Betracht zu ziehen.

Das Allgemeine Abkommen über Tarife und Handel (General Agreement on Tariffs and Trade – GATT) wurde am 15. April 1994 unterzeichnet und später vom WTO-Abkommen abgelöst, das 1997 unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen legt die weltweite Durchführung einer Freihandelswirtschaft fest. Seine Inkraftsetzung in Bezug auf den pharmazeutischen Sektor wirft bestimmte Fragen auf. Zwei Arten von Vorschriften scheinen für pharmazeutische Firmen in Entwicklungsländern besonders wichtig: eine, die Schutzzollmaßnahmen aufhebt, und eine, die den Patentschutz für Medikamente vorschreibt sowie auch ihre jeweiligen Herstellungsverfahren, wie das Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights Agreement (TRIPS). Das ist wichtig, da viele Entwicklungsländer die Patentschutzrechte für Pharmazeutika nicht gänzlich anerkennen.

Erneut verstärkte Forschung?

Die Leiter von pharmazeutischen Firmen in den Industrieländern haben wiederholt geäußert, daß der Grund für das Unterlassen der Weiterforschung an Tropenkrankheiten der mangelnde Schutz für Neuerungen in einigen Entwicklungsländern ist, was auch ihre limitierte Investition in den betroffenen Ländern erklären würde. Sobald der Patentschutz in Kraft tritt (in den Entwicklungsländern nicht später als ab 1. Januar 2006), sollte die Forschung auf diesem Sektor wieder aufgenommen werden, die von westlichen Firmen oder von Herstellern in Entwicklungsländern finanziert wird. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß westliche Hersteller viel für zahlungsunfähige Bevölkerungen aufwenden, mit oder ohne Patente.

Zunehmend unerschwingliche Preise?

Eine von amerikanischen Pharmafirmen unterstützte Studie zeigt, daß eine Bewilligung von Medikamentenpatenten nicht unbedingt dazu führt, daß der Medikamentenpreis am Markt erhöht wird. Diese Studie untersucht jedoch nicht die Preise der neuen Medikamente und erklärt, daß der Marktwert von diesen logischerweise höher sein sollte. Wenn die Herstellerfirma sichergestellt hat, daß ihr Produkt nicht kopiert werden kann, hat sie klarerweise mehr Spielraum, über Preise mit den öffentlichen Gesundheitsbehörden zu verhandeln. Darüber hinaus verursacht die Liberalisierung des internationalen Pharmahandels eine Entwicklung von Parallelimporten zwischen Ländern, in denen dasselbe Medikament zu unterschiedlichem Preis verkauft wird. Pharmafirmen, die in der Folge weniger bereit sind, den Entwicklungsländern günstigere Preise zuzubilligen, werden möglicherweise statt dessen weltweit außergewöhnlich hohe Preise verlangen oder die Lieferung an Entwicklungsländer verzögern. In beiden Fällen ist der Zugang zu Medikamenten gefährdet.

Empfehlungen

Die WHO hat Konzepte erstellt, um weltweit den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten zu sichern. Die Strategien haben eine Veränderung zum Besseren bewirkt, brauchen aber noch weiterhin viel Unterstützung.

Die vier Bereiche, die besonders beachtet werden müssen, wurden in diesem Artikel bereits angeführt:

  • Bemühung um qualitativ gute Arzneiwaren
  • Bessere Verfügbarkeit für alle Menschen in einer Situation der Bedürftigkeit
  • Wiederaufnahme der Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen Tropenkrankheiten
  • Humanisierung der Welthandelsabkommen

Zur Erreichung dieser Ziele ist es notwendig, daß die pharmazeutische Industrie eng mit Organisationen wie die WHO, UNICEF o.ä. zusammenarbeitet und daß die Weltbank die große Herausforderung annimmt, in den Ländern der dritten Welt die Entwicklung des pharmazeutischen Marktes für Tropenkrankheiten zu fördern.

* Von IH-Redaktion gekürzte Fassung des Artikels Pécoul Bernard, MD, MPH; Chirac Pierre, PharmD; Trouiller Patrice, PharmD, Jacques Pinel, PharmD, Access to Essential Drugs in Poor Countries - A Lost Battle?, JAMA 1999, 281: 361-367. Die Originalarbeit ist durch 33 Literaturangaben und 2 Tabellen illustrativ ergänzt. Die Autoren sind Mitglieder der Vereinigung „Ärzte ohne Grenzen“ (Médicins Sans Frontières), der größten medizinischen Nothilfeorganisation, die jährlich etwa 2500 internationale Mitarbeiter auf 150 Projekte in 70 Ländern weltweit entsendet. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Autoren.

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