Editorial
Unsere Gesellschaft rühmt sich, eine pluralistische zu sein. Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen haben einen Weg gefunden, in einem friedlichen Nebeneinander zu leben. Toleranz wird groß geschrieben: keine Ausgrenzungen, keine Diskriminierungen, keine Unterdrückung von Schwächeren. Den einzelnen Gliedern einer Gesellschaft gelingt das Zusammenleben, weil sie, vielleicht unausgesprochen, von einem Grundkonsens ausgehen. Anerkannt werden jene Bedingungen des Menschseins, die dessen Natur entspringen. Als soziales Wesen ist der Mensch immer auf eine Gemeinschaft hingeordnet. Er ist Geber und Empfänger zugleich, zu verschiedenen Zeiten seines Lebens unterschiedlich ausgeformt, immer jedoch bleibt er eingebunden. In vielen Bereichen des soziokulturellen Lebens gedeiht auf diese Weise ein fruchtbringendes Miteinander.
Weltweit gesehen meinen viele Menschen, in ihren Gemeinschaften und Staaten dieses Programm bereits zu verwirklichen. Ob das wirklich stimmt, oder ob sie meistens nur auf dem Weg, ohne letztlich das Ziel zu erreichen, bleiben, soll hier nicht näher erläutert werden. Der Pluralismus birgt in sich eine Versuchung, der sehr leicht nachgegeben wird: der Relativimus. Überzeugungen werden bloße Meinungen, und sie sind wie Geschmäcker letztlich nicht vergleichbar. Es gibt kein wahr oder falsch, nur richtig und unrichtig. Richtig ist, was jeder in Einklang mit seinen eigenen Überzeugungen tut. Der Relativimus läßt daher nur einen minimalen, rein formalen Konsens zu, der für das Zusammenleben nicht mehr ausreicht und deshalb die Stabilität des Pluralismus gefährden kann. Wie vulnerabel diese ist, bringt die Zeitgeschichte ans Licht.
In den letzten Jahren zeigt sich tatsächlich immer deutlicher, daß innerhalb eines praktischen und weltanschaulichen Pluralismus der Relativismus zu wuchern beginnt. Dieser und nicht der eigentliche Pluralismus ist der Grund für neue, ganz große Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gerade wenn es um grundlegende letzte Überzeugungen vom Sinn des Lebens oder der Würde der Person geht, treten Konflikte auf, die durch Toleranz allein nicht überwunden werden können. Schwierig wird es eben dann, wenn jene tiefgreifenden Konsens-Themen hinterfragt und angegriffen werden. Vatermord beispielsweise ist über Kulturen und Epochen hinweg ein Verbrechen. Die Antike, das Mittelalter, die Neuzeit, afrikanische und asiatische Kulturen, Moslems und Christen sind sich darüber einig und haben es quasi nicht nötig eine „Begründung“ dafür zu suchen. Es ist jedem Kind „sonnenklar“ und sollte dennoch einer auftreten und fragen, warum man denn eigentlich seinen eigenen Vater nicht morden dürfe, so wird sich die Gemeinschaft nicht große Mühe machen, ihm Argumente zur Hand geben, um ihn zu überzeugen. Vielmehr wird man sich überlegen, wie das Mitglied der Gemeinde in sicheren Gewahrsam gebracht werden kann, damit es keinen Schaden anrichtet.
Paradoxerweise kommt es aber in wissenschaftlichen Kreisen, unter Bioethikern zur oben geschilderten Situation: modern und originell ist, wer alles hinterfragt und Antworten einfordert, wo in einer gesunden Gesellschaft keine gegeben werden müssen. Die Euthanasie-Debatte wird größtenteils auf dieser Ebene geführt. Es wird das vermeintlicherweise in der Neuzeit erworbene Recht des Menschen auf Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes propagiert. Nichts und niemand solle ihn daran hindern können, dieses Recht auszuüben. Der Wert des Lebens wird durch die Lebensqualität bestimmt; Schönheit, Lust, Jugend und Leistungsfähigkeit sind vorrangige Güter, deren Verlust dem Verlust des Lebenssinnes selbst gleichkommt. Es ist ein Zeichen der „Nächstenliebe“ und Barmherzigkeit, dem Menschen bei der Ausführung seines Selbsttötungs-Vorhabens behilflich zu sein; wer es wagen sollte, ihn davon abzubringen, ist intolerant und autoritär. Muß man bis zum bitteren Ende das Leiden auf sich nehmen?
Die Euthanasie-Diskussion war bis jetzt vor allem eine akademische. Die Medien beginnen sich mehr zu interessieren. In den USA hat der Fall Dr. Kevorkian der Öffentlichkeit einen Schock versetzt. In Holland wird nicht mehr viel diskutiert, sondern einfach gehandelt(!). Der gesunde Menschenverstand hat sich jedoch vielerorts von intellektueller Verstiegenheit und skandalösen Provokationen nicht blenden lassen. Dennoch ist die Herausforderung groß. Die Argumentationsnot ist da, wenn es sich gerade um nicht hinterfragbare, unantastbare Werte handelt. Wer kann schon erklären, warum der Himmel oben und die Erde unten ist? Es gibt einen Sinn, selbst wenn ihn nicht alle einsehen wollen. Das wird sich nicht ändern, auch dann nicht, wenn die Mehrheit dagegen protestiert. Die Wirklichkeit läßt sich auf Dauer nicht vergewaltigen. Die große Herausforderung an die Gesellschaft, die solche Probleme lösen muß, weil es um ihre eigene Existenz geht, liegt nicht bloß in den Antworten. Sie liegt vornehmlich in der Praxis, im Tun, neue Wege zu gehen, die dem Wert und der Würde jedes einzelnen Mitglieds gerecht werden.
Vor kurzem hat das Imabe Institut eine Fachtagung zum Thema „Leben. Sterben. Euthanasie?“ mitveranstaltet. Der unerwartete Besucherzulauf hat gezeigt, daß in unserem Land eine Mehrheit gegen die Euthanasie eingestellt ist. Die Stimmen der Befürworter sind hörbar geworden, daher gilt es, den Konsens zu stärken. In diesem und im kommenden Heft von Imago Hominis sollen die Argumente dieser Diskussion geprüft werden.
Im Übersichtsartikel des Moraltheologen P.Innhofen sind die wichtigsten Überlegungen zur Problematik der Euthanasie aufgezeigt. Wie Recht und Ethik unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, und welche Auswirkungen dies für die Lebensschutzdiskussion hat, weist der interessante Artikel des Strafrechtsexperten Prof K.Schmoller auf. Der nächste Schwerpunktbeitrag von J.Vilar bemüht sich die falsche Argumentationsweise des Mitleidsmotivs in der Euthanasie zu entlarven. Zum Schluß gibt A. Wiesmeier einige Zusammenhänge der psychologischen Phänomene zu bedenken. Was bringt einen Menschen dazu nicht mehr weiterleben zu wollen? Was steht hinter einem Sterbewunsch?
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