Wie autonom ist der Mensch am Ende des Lebens?

Imago Hominis (2010); 17(2): 136-142
Christian Spaemann

Einleitung

Vor einiger Zeit wurde ein befreundeter Internist zu seiner adeligen Großmutter auf deren Landsitz gerufen. Diese geistig völlig klare, in der Großfamilie hoch angesehene Mutter zahlreicher Kinder und Kindeskinder erklärte ihm unumwunden, dass sie mit dem Leben abgeschlossen habe. Sie verlangte von ihrem Enkel die Todesspritze. Seine Antwort, dass er bereit sei, alles für sie zu tun, nur das nicht, ließ sie zunächst nicht gelten und provozierte ihn mit dem Hinweis auf seine mögliche Feigheit. Die Situation löste sich schließlich in Wohlgefallen auf. In dieser kurzen Szene zeigt sich die ganze Problematik der Autonomie des Menschen, wenn es um seinen Tod geht. Gibt es einen objektiven, unabhängig vom Fluss der menschlichen Beziehungen festlegbaren Standpunkt, von dem aus ein Mensch seinen Tod selbst bestimmen kann?

Der Ruf nach Selbstbestimmung und Patientenrechten steht immer am Anfang, wenn es um die Zulassung aktiver Sterbehilfe und assistierten Suizid geht, auch wenn dies, wie wir noch sehen werden, einer inneren Logik folgend, immer zu einer Ausweitung der Euthanasiepraxis hin zur nichtfreiwilligen Euthanasie führt. Das Autonomieargument, die Forderung nach aktiver Sterbehilfe auf Verlangen, wurde bereits 1990 von der späteren niederländischen Gesundheitsministerin Borst-Eilers als Taktik bezeichnet. Es ginge dabei, so die Ministerin, um einen ersten Schritt der Entkriminalisierung der Euthanasie. Unter ihrer Ägide hat sie diese in den Niederlanden weiter durchgesetzt. Das Autonomieargument beeindruckt und nimmt die Medien in Beschlag. Es wurde schon von den Nationalsozialisten ins Feld geführt, um die Bevölkerung auf die geplante Euthanasiemaßnahmen einzustimmen. Hier sei an den hochkarätig besetzten UFA-Spielfilm des Schauspielers und Regisseurs Wolfgang Liebeneiner mit dem Titel „Ich klage an“ erinnert, der 1942 in die Kinos des damaligen Deutschen Reiches kam. Es ging darum, mit Emphase die Bevölkerung auf die Notwendigkeit der Freigabe der Tötung auf Verlangen einzustimmen. Bis auf einige wenige Sequenzen folgt der Film der heute gängigen Argumentationslinie der Euthanasiebefürworter.

Es ist also, je nach gesellschaftlichem Kontext, eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Autonomieargument notwendig. Diesem Argument, möchte ich mich im Folgenden widmen. Dabei soll das Problem, das immer die Frage des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft berührt, anhand dreier weiterer Fallbeispiele beleuchtet werden. Anschließend wird die Fragwürdigkeit des hinter der Forderung nach aktiver Sterbehilfe liegenden Autonomiekonzeptes diskutiert, um dann die den Anfangsargumenten für die Freigabe der Tötung auf Verlangen innewohnende Logik aufzuzeigen, mit der es regelmäßig zur Ausweitung der Euthanasie hin zur Tötung ohne Verlangen kommt. Zum Schluss soll die hinter der Euthanasiediskussion liegende eigentliche Problematik, die unsere grundsätzliche Einstellung gegenüber menschlichem Leid berührt, angesprochen werden.

Fallbeispiele

Das erste Fallbeispiel betrifft die Sterbephase einer, an einer Vasculitis leidenden, ca. 70-jährigen Patientin in einer neurologischen Universitätsklinik, die bei vollem Bewusstsein sehr qualvoll dem Tode entgegen ging. Jedes Mal, wenn die Angehörigen das Zimmer betraten, kam es zu einer dramatischen Verschlechterung der Beschwerden. Die Angehörigen zeigten sich dem Leid gegenüber völlig hilflos. Es kam hier zu einem für solche Situationen typischen Wechselspiel: Die Hilflosigkeit der Angehörigen erzeugten eine Hilflosigkeit bei der Patientin mit verstärkter Atemnot und diese wiederum verstärkten die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Angehörigen. Es war nicht mehr festzustellen, wer mit wem jetzt am meisten Mitleid hatte. Erst als ein erfahrener Seelsorger den Raum betrat, kehrte Ruhe ein, die Patientin konnte in Würde sterben.

Angenommen, die Todesspritze wäre zur Verfügung gestanden: Inwieweit könnte hier von einer selbst bestimmten Entscheidung der Patientin gesprochen werden? Wessentwegen hätte sie nach der Spritze verlangt oder ein entsprechendes Angebot angenommen? Wegen ihrer selbst oder wegen der Angehörigen? Unerträgliches Leid wäre als Begründung dokumentiert worden. Welches Leid war hier unerträglich: das der Patientin oder das der Angehörigen? Oder das Leid, das aus dem Zusammenspiel beider resultiert?

Wir sehen an diesem Beispiel, dass sich Leid nicht losgelöst von den menschlichen Umgebungsbedingungen differenzieren und bewerten lässt. Bei Freigabe der aktiven Sterbehilfe wäre eine missbräuchliche Induktion oder Unterstellung von Sterbewünschen bei Schwerstkranken Tür und Tor geöffnet. Allzu leicht käme es zur Projektion eigener Vorstellungen. Befragungen in den Niederlanden haben ergeben, dass 50 Prozent der Ärzte ihren Patienten bereits aktive Sterbehilfe vorgeschlagen haben.

Das angeführte Fallbeispiel passt auch gut zu dem Befund, dass es keineswegs in erster Linie unerträgliche Krankheitssymptome und Schmerzen sind, welche zu einem Wunsch nach Sterbehilfe führen. Befragungen von Ärzten in den Niederlanden haben ergeben, dass es die Erfahrung von Sinnlosigkeit des Leids, die Angst vor dem Verlust an Würde und vor Abhängigkeit sind, die weiter oben rangieren.1 Die Aussagen der Betroffenen deuten demnach auf Ängste, Sorgen und Zweifel, die ganz wesentlich von den vorhandenen menschlichen Beziehungen beeinflusst werden. Ein Befund, der von der Hospizbewegung mit ihrer reichen Erfahrung geteilt wird.

angegebene Gründe wichtigster Grund einer der Gründe (Mehrfachnennungen möglich)
Sinnloses Leiden 29% 56%
Angst vor bzw. Vermeidung von Entwürdigung 24% 46%
Unterträgliches Leiden 18% 42%
Angst vor noch größerem Leiden 7% 26%
Angst vor Ersticken 7% 13%
Schmerzen 5% 35%
Lebensüberdruss 4% 14%
Nicht länger eine Belastung für Familie oder Umgebung sein wollen 2% 22%
Andere 3% 14%
Tab. 1: Von den Patienten genannte Gründe für den Wunsch nach aktiver Euthanasie oder assistiertem Suizid2

Das zweite Fallbeispiel betrifft einen ca. 80-jährigern Patienten, der nach einem schweren Suizidversuch mit Barbituraten aus der Herzüberwachung einer Münchener Universitätsklinik in die Psychiatrie übernommen wurde. Bei der Exploration stellte sich heraus, dass der Patient über Jahre mit der Gesellschaft für humanes Sterben in Augsburg in Kontakt stand, die ihn mit Informationsmaterial und entsprechenden Medikamenten versorgten. Der Patient sammelte diese im Hinblick auf eine mögliche Situation, in der er nicht mehr leben wolle. Es zeigte sich ein Mensch, der in den Jahren vor seinem Suizidversuch immer mehr in die Vereinsamung geraten war. Ich fragte ihn bewusst naiv, ob diese Sterbehilfeorganisation sich um ihn gekümmert habe, was natürlich nicht der Fall war. Ich rief bei der Organisation in Augsburg an, schilderte den Fall und fragte nach, warum man den Patienten nicht besucht und versucht habe, ihm aus seiner Einsamkeit zu helfen. Die Dame am Telefon erklärt mir, dass sie dafür nicht zuständig seien. In den weiteren Gesprächen entwickelte der Patient Ärger, ja Wut darüber, dass er jahrelang von dieser Organisation auf die Frage des Suizids eingeengt wurde. Er fühlte sich durch die Ideologie dieser Leute missbraucht.

Man kann an diesem Beispiel sehen, dass wir die Wirklichkeit der Mitmenschen verändern können, je nachdem, wie wir selbst zum Leben stehen. Das ‚Ja zum Leben’ bedeutet Engagement, bedeutet Entwicklung von Phantasie und Kreativität. Hätten die Mitarbeiter der Organisationen diesen Mann besucht, mit ihm Kaffee getrunken und wären mit ihm spazieren gegangen, so hätten sie seine Wirklichkeit positiv verändern können. Die Nicht-Zuständigkeit betrifft vielleicht den Schalterbeamten bei der Post oder den Straßenbahnfahrer, nicht aber eine Organisation, an die sich Menschen um Hilfe wenden. Es gibt da, wo es um menschliche Not, in diesem Fall sogar um Leben und Tod geht, keinen neutralen Bedienungsstandpunkt außerhalb menschlicher Solidarität. Als Angehöriger, Freund oder professioneller Helfer kommt man in der Konfrontation mit einem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe nicht um die Grundentscheidung herum, wie man selber zum Leben steht. Die Entscheidung kann nicht einfach an den Betroffenen abgetreten werden!

Drittes Fallbeispiel: Es handelt sich um eine ca. 75-jährige Patientin in einer neurologischen Universitätsklinik, die an einer unheilbaren Erkrankung litt und pflegebedürftig war. Sie war bei vollem Bewusstsein. Als der zuständige Arzt den erwachsenen Kindern erklärte, dass ihre Mutter noch ca. zwei Jahre zu leben habe, war die Enttäuschung in ihren Gesichtern nicht zu übersehen. Das Erbe eines Hauses stand durch die Finanzierung der zu erwartenden Pflege auf dem Spiel. Diese in streng protestantischer Tradition stehende einfache Frau war nicht gewohnt, an sich selber zu denken. Sie wäre die erste gewesen, die nach der Todesspritze verlangt hätte, um ihren Kindern das Erbe zu sichern.

Ich hatte genau diesen Fall bei einer Diskussion zum Thema Sterbehilfe mit namhaften Vertretern der aktiven Euthanasie aus den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland zur Sprache gebracht – und erntete dafür Gelächter. Genau dies sei ja, so die Befürworter der Sterbehilfe, die autonome Freiheit der Patientin: ihren Kindern das Erbe sichern zu können.

Wir sind hier beim ganz handfesten ökonomischen Aspekt der Euthanasie angelangt. Was sich hier abzeichnet, ist nicht offen, sondern versteckt. Es liegt gleichsam in der Luft. Ist die Möglichkeit der Tötung auf Verlangen und des assistierten Suizids einmal eröffnet, so kommt derjenige, der für die Familie und Gesellschaft nichts mehr leisten kann, zunehmend von Pflege abhängig wird und finanzielle und seelische Ressourcen in Anspruch nimmt, unweigerlich in die Lage, sich zumindest vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, warum er noch lebt. Angesichts des zunehmenden Anteils alter Menschen in unserer Bevölkerung, der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und der durch kleiner werdende Familien knapperen menschlichen Ressourcen, kann sich jeder selbst ausmalen, mit welcher gesellschaftlichen Dynamik die so genannte Autonomie des Einzelnen konfrontiert sein wird. Die Dynamik der Entsorgung von Alter, Leid und Krankheit durch Entsorgung der Alten, Leidenden und Kranken braucht heute keine nationalsozialistische Ideologie vom „gesund zu erhaltenden Volkskörper“ mehr.

Kritik

Es stellt sich bei der gegenwärtigen Euthanasiedebatte immer wieder die Frage, inwieweit der Mensch eine von seinen menschlichen Umgebungsbedingungen unabhängige Autonomie besitzt. Diese Frage berührt natürlich alle Lebensbereiche. Entscheidet man sich z. B. für eine medizinische Maßnahme, beispielsweise für eine Operation, so lässt sich solch eine Entscheidung häufig in Frage stellen. Hätte es andere Möglichkeiten gegeben? Hätte man doch noch abwarten sollen? Wir müssen Entscheidungen fällen, die auf Abwägungen nicht absoluter Art beruhen und nicht rückgängig zu machen sind. Das menschliche Leben ist durch seine zeitliche Struktur so und nicht anders beschaffen. Es nimmt über Entscheidungen seinen Lauf, über sie entstehen neue Lebenskontexte. Auch die Einstellung einer medizinischen Maßnahme, vielleicht sogar in Hinblick auf ein Zulassen des Sterbens, gehört dazu. Aber auch diese Entscheidung bedeutet in gewisser Weise eine Entscheidung für das Leben: Der Organismus selbst geht seinem natürlichen Ende entgegen. Eine Tötungshandlung dient indessen nie dem Leben. Die Todesspritze bringt den Gesunden wie den Kranken um. Sie ist vom ethischen Status her mit einer passiven Sterbehilfe nicht zu vergleichen. Tötung verändert keine Kontexte, sondern beendet alle Kontexte. Die Entscheidung für aktive Sterbehilfe würde also etwas Absolutes darstellen und müsste zu ihrer Legitimation eine Art kontextunabhängige Gültigkeit beanspruchen. Genau dies ist aber, wie die Fallvignetten zeigen sollten, nicht möglich. Wir können uns nicht aus unseren menschlichen Lebenszusammenhängen herausnehmen, wie es die Angestellten der Gesellschaft für humanes Sterben zu tun versuchen. Wie wir sahen, bedeuten solche Versuche nur, anderen, lebensfeindlichen Kontexten den Raum zu überlassen: Der Arzt, der bei der Frau mit der terminalen Vaskulitis zur Todesspritze greift, würde vom Kontext einer verworrenen Mitleidssituation im Zusammenspiel der Patientin mit ihren überforderten Angehörigen bestimmt. Die Gesellschaft für humanes Sterben lässt sich vom Einsamkeitskontext des alten Herren in München bestimmen, und die Ärzte an der neurologischen Universitätsklinik würden von den indirekten Auswirkungen der nach dem Erbe gierenden Kinder ihrer Patientin bestimmt. Die Selbstbestimmung des Menschen ist demnach vom jeweiligen Lebenskontext wesentlich mitbestimmt. Dieser Lebenskontext wiederum bestimmt sich auch von den Haltungen der Mitmenschen, die dem Betroffenen entgegengebracht werden. So bestimmt z. B. die Haltung des Enkels gegenüber seiner adeligen Großmutter, die ganz offensichtlich ihre Stellung in der Großfamilie austesten will, wesentlich ihren Lebenskontext: „Ich bin bereit alles für Dich zu tun, aber die Todesspritze wirst Du von mir niemals bekommen“; oder „Ja, wenn Du Dir sicher bist, bekommst Du von mir die Todesspritze.“ Diese beiden Aussagen des Enkels und die hinter diesen Aussagen liegenden Werthaltungen bedeuten für seine Großmutter zwei verschiedene menschliche Lebenswelten, gegenüber denen kein objektiver Standpunkt bezogen werden kann.

Wenn schon, wie wir gesehen haben, Selbstbestimmung im normalen Leben des Menschen etwas Relatives, Kontextabhängiges ist, wieso sollte sie gerade in Zuständen der Schwäche, des Leids und der Abhängigkeit von anderen besonders stark sein? Muss es nicht misstrauisch machen, wenn in einer Zeit der Zunahme des Anteils alter Menschen, kleiner werdender Familien und knapperer Ressourcen im Gesundheitswesen der selbst bestimmte Tod zum Thema gemacht wird?

Die Tendenz zur Ausweitung der Euthanasie

Wie ist es möglich, dass eine Bewegung unter dem Banner der Selbstbestimmung antritt und regelmäßig beim Gegenteil, der Tötung ohne ausdrückliches Verlangen landet? Die Euthanasiegesetze in Belgien und den Niederlanden sehen so genanntes unerträgliches Leid als wesentliches Kriterium, einen Menschen zu töten. Nicht unähnlich der Entwicklung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, lässt sich dabei folgende zwingende Logik beobachten: Der Wunsch nach Zulassung aktiver Sterbehilfe tritt zunächst unter dem Gewand der Forderung nach Autonomie und Patientenrechten auf: Der Einzelne habe das Recht, über sein Leben selbst zu entscheiden. Es sei nicht zumutbar, jemanden zu zwingen, unerträgliches Leid durchzustehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in der ersten Phase der Forderung nach aktiver Sterbehilfe von terminalen Leidenszuständen die Rede ist. Die Rechtsprechung und Gesetzgebung in den Niederlanden und Belgien führten aber immer weiter von der Sterbephase weg zu todesfernen körperlichen und seelischen Leidenszuständen. Das im Mai 2002 in Belgien in Kraft getretene Gesetz zur Sterbehilfe sieht seelische Qualen als eine eigenständige und hinreichende Bedingung für eine Tötung auf Verlangen vor und eröffnet damit ausdrücklich die Möglichkeit von Euthanasiemaßnahmen an Menschen mit psychischen Leiden. Warum sollte das Recht auf einen selbst bestimmten Tod auf terminale oder körperliche Leidenszustände beschränkt sein? Die Tendenz zur Ausweitung der Sterbehilfe in diese Richtung wird auch in der Empfehlung einer holländischen Ärzte-Kommission aus dem Jahre 2004 deutlich, die Regeln über aktive Sterbehilfe sogar dann anzuwenden, wenn der Todeswunsch allein dem Lebensüberdruss entspringt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass inzwischen namhafte Vertreter der Euthanasiebewegung in den Niederlanden öffentlich den selbst bestimmten Tod als den Tod der Zukunft preisen. Sie wünschen sich, dass in Zukunft die Gesundheitsämter Suizid-Sets vorhalten, die sich die Bürger dort abholen können.

Hat man einmal das sog. unerträgliche Leid begrifflich als Kriterium für die Straffreiheit des Tötens auf Verlangen und des assistierten Suizids etabliert, ergibt sich die Konsequenz, dass man nicht so ungerecht sein will, demjenigen den Gnadentod vorzuenthalten, der diesen Wunsch nicht äußern kann oder dem man solch eine Entscheidung nicht zumuten will. Insofern ist es nahezu unvermeidlich, von der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen, zur aktiven Sterbehilfe ohne Verlangen überzugehen. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass es in den Niederlanden inzwischen zu jährlich mindestens 3.100 Fällen aktiver Lebensbeendigung ohne Verlangen, entsprechend 2,2% aller Sterbefälle kommt, wobei die Dunkelziffer als deutlich höher anzusehen ist. Nimmt man die Schmerzbehandlungen mit teilweiser Intention zur Lebensverkürzung hinzu, sind es ca. 6.300 Menschen, entsprechend ca. 4,5% aller Todesfälle. Diese Sterbehilfe ohne Verlangen betrifft zu 45% einwilligungsfähige Patienten. Zur Begründung hierfür wird in den Einzelfällen angegeben, dass dies das Beste für die Patienten gewesen sei und eine Diskussion mehr Schaden als Gutes bewirkt hätte.4 Die übrigen aktiven Lebensbeendigungen ohne Verlangen betreffen geistig und körperlich behinderte Neugeborene ebenso wie schwer Demente und andere Patienten, bei denen zuvor weitere lebensverlängernde Maßnahmen eingestellt wurden.

1990 % 1995 % 2001 %
1a Todesfälle in den Niederlanden 129.000 100 135.500 100 140.500 100
1b Todesfälle bei denen ein Arzt beteiligt war 94.000 73,0 99.000 73,0
2 Wunsch nach Sterbehilfe 8.900 7,0 9.700 7,1 9.700 6,9
3 durchgeführte Sterbehilfe 2.300 1,9 3.200 2,4 3.500 2,5
4 ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung 400 0,3 300 0,2 300 0,2
5 Lebensbeendigung ohne entsprechenden Wunsch 1.000 0,8 900 0,7 1.000 0,7
6 Verstärkung der Schmerz- und Symptombehandlung 22.500 17,5 20.000 14,8 27.800 19,8
6a ausdrücklich zur Lebensverkürzung 1.350 1,0 2.000 1,5 2.100 1,5
6b teilweise zur Lebensverkürzung 6.750 5,2 3.200 2,4
6c unter Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung 14.400 11,3 14.800 11,0 25.800 18,4
7 Beendigung oder Unterlassen einer Behandlung
(incl. künstl. Ernährung)
22.500 17,5 27.300 20,1 28.500 20,3
7a Auf Verlangen des Patienten 5.800 4,5 5.200 3,8 mit und ohne ausdrückliches Verlangen
7b Ohne ausdrückliches Verlangen
1. ausdrückliches oder teilweises zur Lebensverkürzung 5.840 4,5 14.200 10,5 17.900 12,7
2. unter Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung 10.850 8,4 7.900 5,8 10.800 7,5
Tab. 2: Entwicklung der Euthanasie in den Niederlanden von 1990 – 20013

Ein weiterer Schritt in dieser Logik ist dann, wie in den Niederlanden bereits erfolgt, der Schritt hin zur Tötung des Patienten bei Unzumutbarkeit des Leidens für die Umgebung.

Dass hierbei Patienten wie z. B. Demente oder Komatöse zu Tode kommen, bei denen keineswegs sicher ein subjektives unerträgliches Leiden vorliegt, hat die Staatskommission für Euthanasie in den Niederlanden bereits 1985 damit begründet, dass der wegen völliger Sinnlosigkeit durchgeführte Behandlungsabbruch „zu einem fortschreitenden, unaufhaltbaren, körperlichen und geistigen Verfall des Patienten“ führt, „der auch für seine nächste Umgebung (Familie und Pflege) eine unhaltbare und unerträgliche Situation bedeuten kann“. In diesem Fall müsse, so wörtlich, „der Arzt das Leben straflos beenden können“.5

Wie wir sehen, beginnt hier das Nicht-Mitansehen-Können von Leid eine Rolle zu spielen.

Schluss

Die bisherige Entwicklung der Euthanasie in Europa, insbesondere in den Niederlanden, lässt die innere Konsequenz erkennen, mit der sich eine Kultur des Todes ausbreitet, wenn einmal die bisher geltende Grenze des ärztlichen Auftrages dahingehend überschritten wird, dass nicht dem Leidenden so gut und so viel wie möglich geholfen, sondern der Leidende selbst beseitigt wird.

Der Dammbruch ist vor allem dann unvermeidlich, wenn es sich hierbei nicht um Einzel- und Grenzfälle handelt, die im Einzelfall ein mildes Gerichtsurteil zu erwarten haben, sondern um eine gängige Praxis, die, wie in den Niederlanden, ihren Niederschlag in Richtlinien von Standesorganisationen und gesetzlichen Regelungen findet.

Die Forderung nach Selbstbestimmung ist nur die Eintrittspforte zur Euthanasie. Es kann sich hierbei nicht um die eigentliche Motivation hinter der Euthanasiebewegung handeln. Wo liegt das eigentliche Problem?

Seit Jahrzehnten haben wir es weltweit mit einer immer differenzierteren Quality of Life-Forschung zu tun. Im Vordergrund unseres Bewusstseins steht die Bewertung von Zuständen als eigentlicher Qualität des menschlichen Lebens. Das Kostbare des Lebens als solches, nämlich das Sein von Menschen, Tieren und Pflanzen, tritt in den Hintergrund. Leiden muss demnach um jeden Preis beseitigt werden. Dabei droht das aus dem Blickfeld zu geraten, was der Wiener Psychiater Viktor Frankl als Einstellungswert bezeichnet hat. Nach Frankl gehört es zu den ureigensten Möglichkeiten des Menschen, sich gegenüber einem Schicksal so oder so zu verhalten. Der Mensch kann sich darin ganz persönlich neu entfalten. In seiner Haltung dem Unabänderlichen gegenüber kommt seine Haltung zum Wert des ganzen Lebens zum Ausdruck, der Wert, der im Grunde er selber ist. Diese Einstellung betrifft keineswegs allein den Leidenden selber, sondern muss ganz wesentlich von den Mitleidenden, den Angehörigen, Ärzten, Pflegern und Seelsorgern mitgetragen, ja vielleicht sogar stellvertretend für den Betroffenen gelebt werden. Sie müssen an den Wert des Lebens des ihnen anvertrauten glauben und entsprechende Unterstützung geben.

Die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben bedeutet auch, seinen Wert nicht an Bewusstseinszustände zu knüpfen. Neugeborene, demente oder bewusstlose Menschen sind eben Menschen und von ihrer Potentialität her auf ein volles Menschsein hingeordnet.

Bei Freigabe der Möglichkeit gezielter Tötungshandlungen von Ärzten an Patienten wäre gesamtgesellschaftlich mit einer weiter schwindenden allgemeinen Bereitschaft zum Schutz menschlichen Lebens zu rechnen. Die Tötung von Menschen und die Beihilfe zum Suizid als Mittel zum Zweck der Befreiung von Schmerz und Leid ist kein ärztliches Therapiemittel und daher vom ärztlichen Auftrag nicht gedeckt. Dies soll so bleiben.

Zeitspanne%
< 1 Tag13
1 Tag – 1 Woche35
1 Woche – 1 Monat30
1 – 6 Monate17
Tab. 3: Zeitspanne zwischen erstem ausdrücklichem Sterbewunsch und Durchführung der Euthanasie6

Referenzen

  1. nach van der Wal G. et al., Euthanasia ans assisted suicide II. Do Dutch family doctors act prudently?, Family Practice (1992); 9: 135-140
  2. nach van der Wal G. et al., siehe Ref. 1
  3. Onwuteaka-Phillipsen B. D. et. al., Euthanasia and Other End-of-Life Decisions in the Netherlands in 1990, 1995, and 2001, Lancet (2003); 302: 395-399
  4. vgl. Jochemsen H., Sterbehilfe und Sterbebegleitung in Holland. Empirische Befunde und gesellschaftliche Entwicklung, Imago Hominis (2001); 8: 31-47
  5. Reuter B., Die gesetzliche Regelung der aktiven ärztlichen Sterbehilfe des Königreichs der Niederlande – ein Modell für die Bundesrepublik Deutschland?, Peter Lang, Frankfurt/Main (2002), S. 77-78
  6. nach van der Wal G. et al., siehe Ref. 1

Anschrift des Autors:

Prim. Mag. Dr. Christian Spaemann
Klinik für psychische Gesundheit
Krankenhaus St. Josef der Franziskanerinnen von Vöcklabruck
Ringstraße 60, A-5280 Braunau
Christian.Spaemann(at)khbr.at

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