Verbot von Samen- und Eizellenspende: eine Menschenrechtsverletzung?
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum Thema IVF, in welcher der EGMR einige sich aus dem österreichischen Recht ergebende – tatsächlich wohlbegründete – Beschränkungen künstlicher Fortpflanzungstechniken für menschenrechtswidrig erklärt. Das EGMR-Urteil wird mit einer Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes zum selben Thema verglichen. Die Analyse fällt sehr kritisch aus und zeigt Mängel und Widersprüche in der Argumentation des EGMR auf. Dem Gerichthof wird auch eine Überschreitung seiner Kompetenzen vorgehalten, welche Fragen nach der Verbindlichkeit dieses Urteils aufwirft.
Schlüsselwörter: In-Vitro-Fertilisation, Menschenrechte, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Verfassungsgerichtshof
Abstract
The article analyses a recent judgement of the European Court of Human Rights (ECHR) concerning In-Vitro-Fertilization, in which the ECHR declares – indeed well founded – Austrian restrictions of artificial procreation techniques as contradicting human rights. This judgement is compared with a decision of the Austrian Constitutional Court on the same topic. The analysis turns out very critical and shows deficits and contradictions in the arguments of the EHCR. The Court is charged with an ultra vires action which causes questions about the binding force of that judgement.
Keywords: In-Vitro-Fertilisation, Human Rights, European Court of Human Rights, Austrian Constitutional Court
1. Einleitung
Seit der Erlassung des Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG) im Jahre 1992 besitzt Österreich eine im internationalen Vergleich eher restriktive Regelung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung. Das FMedG war das Resultat eines breiten und lang dauernden Diskussionsprozesses, in dem Vertreter eines Totalverbots der IVF ebenso zur Sprache kamen wie Befürworter einer weitgehenden Freigabe der extrakorporalen Reproduktionstechniken.1 Auch IMABE war an diesem Prozess beteiligt2 und hat dem kontroversen Thema breiten Raum gegeben.3 Der Gesetzgeber hat als Kompromiss zwischen diesen Positionen schließlich eine relativ stark beschränkte Zulassung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung etabliert.
Arten der medizinisch unterstützten Fortpflanzung sind gemäß § 1 (2) FMedG insbesondere
- das Einbringen von Samen in die Geschlechtsorgane einer Frau;
- die Vereinigung von Eizellen mit Samenzellen außerhalb des Körpers einer Frau und darauffolgend das Einbringen der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter oder den Eileiter einer Frau (In-Vitro-Fertilisation – IVF);
- das Einbringen von Eizellen oder von Eizellen mit Samen in die Gebärmutter oder den Eileiter einer Frau.
Als bedeutsame Restriktionen, die sich aus dem FMedG ergeben, sind beispielhaft folgende anzuführen: Nach dem FMedG darf eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung nur innerhalb einer Ehe oder Lebensgemeinschaft von Personen verschiedenen Geschlechts bei entsprechender medizinischer Indikation vorgenommen werden (§ 2 [1] und [2] FMedG). Weiters ist für die IVF und das Einbringen von Eizellen oder von Eizellen mit Samen in die Gebärmutter oder den Eileiter einer Frau nur die Verwendung von Keimzellen des jeweiligen Paares zulässig (homologe IVF bzw. sonstige Techniken), nicht jedoch die Verwendung von Keimzellen, die von anderen Personen „gespendet“ (Samen-, Eizellenspende) wurden (heterologe IVF bzw. sonstige Techniken). Nur bei der „einfachen“ künstlichen Besamung der Frau kann auch das Sperma eines „Spenders“ herangezogen werden, wenn der Same des Ehegatten bzw. Lebensgefährten nicht fortpflanzungsfähig ist (vgl. § 3 FMedG).
Am 01.04.2010 hat jedoch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil4 gefällt, welches Österreich möglicherweise5 zu einer sehr weitgehenden Lockerung der Gesetzeslage zwingen und auch Auswirkungen auf andere nationalstaatliche Regelungen in Europa haben wird, etwa in Deutschland. Dieses Urteil steht im Gegensatz zum bezughabenden Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (VfGH), der schon im Jahre 1999 die Verfassungsmäßigkeit bzw. Menschenrechtskonformität der vom EGMR beanstandeten Bestimmungen festgestellt hat.6 Da sich allerdings Österreich zur Beachtung der Urteile des EGMR völkerrechtlich verpflichtet und diese Verpflichtung auch in das österreichische Verfassungsrecht übernommen hat (Artikel 46 EMRK), sitzt der EGMR letztlich gleichsam „am längeren Ast“.
Im folgenden sollen die angefochtenen Bestimmungen und die wesentlichen Gründe für die Etablierung derselben angeführt und im Lichte der gegensätzlichen Argumente der beiden Gerichtshöfe analysiert werden (die Urteilsausfertigungen sind nach Punkten gegliedert, nachstehende Zitate folgen dieser Punktegliederung).
2. Die Beschwerdeführer vor dem EGMR
Beim EGMR hatten sich zwei Paare mit jeweils unterschiedlichen Problemen beschwert: Paar 1, eine Frau mit eileiterbedingter Sterilität und ein unfruchtbarer Mann; Paar 2, eine unter Gonadendysgenesie leidende Frau (d. h. sie konnte überhaupt keine Eizellen produzieren) und ein gesunder Mann. Beide Paare waren verheiratet. Die „medizinische Lösung“ für Paar 1 wäre eine IVF mit Eizellen der Ehefrau und Samenzellen eines fremden Mannes gewesen, für Paar 2 eine IVF unter Verwendung von (von einer fremden Frau) „gespendeten“ Eizellen und Samenzellen des Ehegatten, also in beiden Fällen eine heterologe IVF.
Nach dem oben Gesagten war die „medizinische Lösung“ (heterologe IVF) in beiden Fällen rechtlich unzulässig. Daher versuchten die Paare, ihr (vermeintliches) Recht auf ein „eigenes“ Kind im Rechtsweg bis hinauf zum EGMR durchzusetzen.
3. Die wesentlichen Argumente der Gerichtshöfe
a) Der von der EMRK im Bereich der Fortpflanzungsmedizin eingeräumte „weite Ermessensspielraum“ nationaler Gesetzgeber
Beide Gerichtshöfe sind sich zunächst insofern einig, als Fragen der Fortpflanzungsmedizin, da eng mit der von der EMRK garantierten freien Entscheidung über die Erfüllung eines Kinderwunsches zusammenhängend, in den Anwendungsbereich des Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fallen; der EGMR bezieht auch Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) mit ein, der VfGH den Gleichheitssatz der österreichischen Bundesverfassung (Artikel 7 Bundes-Verfassungsgesetz).7 Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dürfen an sich nur unter bestimmten Voraussetzungen vorgenommen werden.8 Beide Gerichtshöfe betonen hier jedoch angesichts der Komplexität der Problematik und des Fehlens eines Konsenses unter den Vertragsstaaten der EMRK einen weiten Ermessensspielraum für die staatliche Gesetzgebung.9
Die aus diesen allgemeinen Festlegungen gezogenen Schlüsse sind jedoch schon auf grundsätzlicher Ebene durchaus unterschiedlich, wobei der VfGH zunächst einen „strengeren“ Eindruck macht: Der Gesetzgeber dürfe medizinisch unterstützte Fortpflanzung nicht generell verbieten.10 Weiters könne ein Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft, der bestimmte Befürchtungen hinsichtlich der Auswirkungen künstlicher Fortpflanzungstechniken widerlege oder gewisse zunächst bestehende Risiken minimiere bzw. ausschließe, zu einer Verengung des staatlichen Ermessensspielraumes – im Sinne der Notwendigkeit der Aufhebung bestimmter gesetzlicher Restriktionen – führen.11
Der EGMR sagt hingegen, „dass es keine Verpflichtung für einen Staat gibt, eine Gesetzgebung dieser Art einzuführen und künstliche Fortpflanzung zu erlauben.“ Ein generelles Verbot künstlicher Fortpflanzung wäre demnach möglich.12 Gleich danach findet sich freilich, dies ist aus ethischer Sicht zu betonen, schon der entscheidende „Giftzahn“ in der Argumentation des EGMR, der einschränkende Regeln für die künstliche Fortpflanzung wesentlich erschwert: „Jedoch wenn einmal die Entscheidung getroffen ist, künstliche Fortpflanzung zu erlauben, und unbeschadet des weiten Ermessensspielraumes der Vertragsstaaten, dann muss der gesetzliche Rahmen für diesen Zweck in einer kohärenten Art ausgeführt sein, welche es ermöglicht, die betroffenen unterschiedlichen legitimen Interessen adäquat und im Einklang mit den sich aus der Konvention ergebenden Verpflichtungen zu berücksichtigen.“
Was die Gerichtshöfe im Einzelnen aus diesen grundsätzlichen Festlegungen folgern, wird gleich unten ausgeführt.
b) Für und Wider das Verbot der Eizellenspende
Wie oben schon erwähnt, diskutiert der EGMR die Einschränkungen nach österreichischem Recht vor dem Hintergrund des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens i. V. m. dem Diskriminierungsverbot. Er fragt, ob die unterschiedliche Behandlung der IVF je nach dem, ob sie mit oder ohne Eizellenspende erfolgt, eine „objektive und vernünftige Rechtfertigung hat“.13
Zunächst hält er fest, dass „Bedenken basierend auf moralischen Überlegungen oder auf sozialer Akzeptanz in sich keine hinreichenden Gründe für ein Totalverbot einer bestimmten Technik künstlicher Fortpflanzung sind. Solche Gründe mögen besonders gewichtig sein bei der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen eine Erlaubnis künstlicher Fortpflanzung, und der Gerichtshof möchte hervorheben, dass es keine Verpflichtung für einen Staat gibt, eine Gesetzgebung dieser Art einzuführen und künstliche Fortpflanzung zu erlauben.“ Da Österreich freilich kein generelles Verbot künstlicher Fortpflanzung etabliert hat, kann der Gerichtshof auf Basis dieser Überlegungen die vom österreichischen Gesetzgeber seinerzeit und vom Staat Österreich im aktuellen Verfahren ins Treffen geführten moralischen Bedenken in der Bevölkerung als Begründung für das Verbot der Eizellenspende schnell vom Tisch wischen.14
Diese m. E. doch mehr als subtile Differenzierung – Relevanz moralischer Bedenken in der Gesellschaft für die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit künstlicher Fortpflanzung, aber Irrelevanz für das Ausmaß der Zulassung – trifft der österreichische VfGH nicht und anerkennt bestehende moralische Bedenken als Rechtfertigung zwar nicht für ein generelles Verbot künstlicher Fortpflanzung, aber doch für die vom österreichischen Gesetzgeber getroffenen Einschränkungen.15
Auch die Begründung für das Verbot der Eizellenspende, die auf die Gefahr des Missbrauchs der IVF zur genetischen „Selektion“ von Kindern, die mögliche Ausbeutung von (womöglich sozial schwachen) Frauen als Eizellenspenderinnen und die medizinischen Risiken solcher Eingriffe Bezug nimmt, akzeptiert der EGMR nicht. Nach Ansicht des Gerichtshofes gebe es vielmehr ausreichende gelindere Mittel, um diesen Gefahren vorzubeugen: So werde im FMedG die Durchführung der IVF ohnehin nur Ärzten gestattet, „die besonderes Wissen und Erfahrung auf diesem Gebiet haben und an die ethischen Regeln ihres Berufes gebunden sind.“ Weiters existieren zusätzliche gesetzliche Sicherheitsmaßnahmen und sei die Zahlung eines Entgelts für Eizellen- oder Samenspenden verboten. Generell weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich diese Bedenken auch gegen die homologe IVF verwenden ließen, sodass die Argumentation Österreichs in gewisser Hinsicht inkonsequent sei.16 Der VfGH akzeptierte hingegen die vom EGMR verworfenen Argumente.17
Eine besondere Bedeutung für die Argumentation des VfGH zur Rechtfertigung der Unterscheidung zwischen homologer und heterologer IVF hat im Einklang mit den Gesetzesmaterialien der Umstand, dass durch die Eizellenspende sozusagen die Trennung zwischen genetischer und „plazentarer“ Mutterschaft erfolge. Dadurch können für das in vitro gezeugte Kind aufgrund „ungewöhnlicher Beziehungen“ zusätzliche psychische Konflikte entstehen.18 Der EGMR nahm auf diese Gedankenführung des VfGH zwar Bezug, meinte aber, „unübliche Beziehungen in einem weiteren Sinn sind den Rechtsordnungen der Vertragstaaten gut bekannt. Familienbeziehungen, welche nicht dem typischen Eltern-Kind-Verhältnis basierend auf einer direkten biologischen Verbindung entsprechen, sind nichts Neues und haben schon in der Vergangenheit existiert, seit Etablierung des Rechtsinstituts der Adoption […] Aus diesem allgemeinen Wissen würde der Gerichtshof schon schließen, dass es keine unüberwindbaren Hindernisse gibt, um Familienverhältnisse, welche aus einer erfolgreichen Nutzung der gegenständlichen künstlichen Fortpflanzungstechniken resultieren, in den allgemeinen Rahmen des Familienrechts und anderer verwandter Rechtsbereiche zu bringen.“19 Ein Hauch von Ironie ist in der Formulierung des EGMR m. E. nicht zu übersehen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass der EGMR die Argumentation des VfGH unvollständig wiedergibt und nur deshalb den Schein argumentativer Überlegenheit gegenüber dem VfGH zu erwecken vermag. Wer die Entscheidung des VfGH hingegen genau liest, wird auch auf folgende Passage stoßen: „Dem […] Vergleich mit der Adoption steht wieder entgegen, daß durch diese keine ungewöhnlichen biologischen, sondern bloß rechtliche Verhältnisse hergestellt werden, die jenen gleichen, wie sie zwischen biologisch verwandten Eltern und Kindern bestehen. Diese rechtlichen Verhältnisse knüpfen ihrerseits an faktische soziale Verhältnisse an, die sich schon vor der Adoption eingestellt haben […] Auch sie dürfen aber zulässigerweise nur hergestellt werden, wenn sie dem Wohl eines nicht eigenberechtigten Wahlkindes entsprechen.“20 Manchmal sind die Argumente, welche der EGMR „übersieht“, tatsächlich interessanter als jene, welche er zwecks (scheinbar) leichter Widerlegung heranzieht.
Schließlich verwirft der EGMR auch das Argument, bei Eizellenspenden könnte das legitime Interesse von Kindern, über ihre wahre Abstammung informiert zu werden, nicht befriedigt werden. Dieses Informationsrecht sei nämlich „kein absolutes“, und es könne durch entsprechende rechtliche Lösungen (der Gerichtshof verweist hier auf die französische Regelung der anonymen Geburt) eine ausgewogene Balance zwischen den einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen gefunden werden.21 Der VfGH hat sich mit diesem Aspekt im von ihm geführten Verfahren übrigens nicht näher befassen müssen.
c) „Einfache“ Besamung (Insemination) mit „fremdem“ Sperma ja, IVF mit „fremdem“ Sperma nein?
Wie oben schon erwähnt, erlaubt das FMedG die Verwendung von Sperma, das nicht vom Ehegatten/Lebensgefährten der Frau stammt, sondern von einem „Samenspender“, für die „einfache“ Besamung, für die IVF hingegen nicht. Der EGMR hatte sich somit zu fragen, ob diese Differenzierung gerechtfertigt sei.
Der EGMR verweist hinsichtlich der bisher (siehe oben b) erörterten Argumente der österreichischen Regierung zunächst darauf, dass diese entweder nicht auf diese Konstellation passen oder bereits widerlegt seien.22 So muss er sich nur mit einem Zusatzargument auseinandersetzen, welches auf die Effizienz rechtlicher Regeln Bezug nimmt: Auf das Verbot der „einfachen“ Besamung mit „fremdem“ Samen sei deshalb verzichtet worden, weil diese Technik schon lange praktiziert worden und die Kontrolle aufgrund der einfachen Anwendbarkeit der einschlägigen Techniken (dabei seien nicht einmal besondere medizinische Kenntnisse nötig) nicht effektiv möglich sei. Bei der IVF sei eine effektive Kontrolle angesichts des höheren Aufwandes an technischen Mitteln und Kenntnissen eher möglich, sodass die Differenzierung gerechtfertigt sei. Der EGMR anerkannte zwar das Effektivitätsargument grundsätzlich, hob aber im Gegensatz zum VfGH23 hervor, der Kinderwunsch stelle einen so wichtigen Gesichtspunkt dar, dass ein Verbot der Samenspende für eine IVF letztlich einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff darstelle.24
4. Abschließende Würdigung
Allgemein lässt sich zunächst sagen, dass nach den Maßstäben des EGMR den Vertragsstaaten de facto nur die Möglichkeit bleibt, künstliche Fortpflanzung entweder ganz zu verbieten (was politisch wohl in den weitaus meisten EMRK-Vertragsstaaten unrealistisch sein dürfte) oder aber in sehr weitem Umfang zuzulassen. Dies erinnert ein wenig an die bisherige25 Linie des EGMR zur Abtreibungsfrage, zumal er etwa einerseits die irische (Verfassungs-) Rechtslage i. w. akzeptiert, welche26 die rechtliche Gleichstellung geborener und ungeborener Menschen vorsieht und dementsprechend ein (fast) lückenloses Abtreibungsverbot enthält,27 andererseits jedoch dann, wenn ein Staat Abtreibung zumindest in beschränktem Umfang zulässt, stark zur Ausweitung tendiert.28
Die vom EGMR gepflogene „Alles-oder-nichts-Argumentation“ kann m. E. schon im Grundsatz nicht überzeugen. Bei der Frage der Zulassung gefährlicher oder sonst bedenklicher Tätigkeiten und Verfahren steht der Gesetzgeber immer vor dem Problem der Interessenabwägung, deren Ergebnis keineswegs mathematisch exakt bestimmbar ist und daher je nach Interessengewichtung unterschiedlich ausfallen kann.
Als jedermann bekanntes Beispiel ist das mit großen und mitunter schnell bewegten Massen verbundene Autofahren zu nennen. Gesetzgeber auf der ganzen Welt nehmen die Risiken dabei grundsätzlich in Kauf und lassen den KFZ-Verkehr aufgrund der positiven Auswirkungen (Mobilität der Bevölkerung, Förderung wirtschaftlichen Austausches etc.) weitestgehend zu, statuieren aber auch mitunter empfindliche Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen, zumal das Risiko mit steigendem Gewicht und Geschwindigkeit des KFZ tendenziell steigt. Bei dieser Interessenabwägung treffen nationale Gesetzgeber bisweilen sehr unterschiedliche Regelungen, wie etwa das Fehlen eines allgemeinen Tempolimits für die meisten PKW auf deutschen Autobahnen im Gegensatz zum absoluten Tempolimit von 130 km/h in Österreich zeigt.
Im Prinzip nichts anderes hat der österreichische Gesetzgeber bei der Zulassung der von vielen Bedenken und Risiken begleiteten künstlichen Fortpflanzungstechniken gemacht und sich dabei im internationalen Vergleich mit guten Gründen für einen eher vorsichtigen Zugang entschieden. Aufgrund der Bedeutung des Kinderwunsches für viele aus eigenem fortpflanzungsunfähige Paare hat er bestimmte Techniken zugelassen (insbesondere die homologe IVF), andere, weil mit höheren Risiken als die zugelassenen verbunden (z. B. die heterologe IVF mit Samen- bzw. Eizellenspende), hingegen nicht.
Es ist schon richtig, wenn der EGMR meint, medizinische Risiken und Missbrauchsgefahren bestehen auch bei der homologen IVF und könnten daher auch für ein gänzliches Verbot der IVF ins Treffen geführt werden. Ebensowenig ist aber die Risikoerhöhung bei der heterologen IVF zu bestreiten. Wenn der EGMR den EMRK-Vertragsstaaten sogar die Möglichkeit eines gänzlichen Verbots künstlicher Fortpflanzungstechniken einräumt, wieso sollte dann die gesetzliche Inkaufnahme der mit diesen Techniken verbundenen Risiken bis zu einem gewissen Ausmaß – aber eben nicht darüber – unzulässig sein? Dies erscheint ähnlich abwegig, wie dem Gesetzgeber aus menschenrechtlichen Überlegungen nur die Wahl zu lassen, das Autofahren entweder ganz zu verbieten oder aber frei von jeglichem Tempolimit zuzulassen.
Ebenso abwegig ist der Versuch des EGMR, die sich aus der Aufspaltung von genetischer und, wie der VfGH sich ausdrückt, „plazentarer“ Mutterschaft im Fall der Eizellenspende ergebenden Gefahren unter Verweis auf die Adoptionsmöglichkeit unter den Teppich zu kehren. Dass es einen Unterschied macht, ob man auf schon bestehende schwierige soziale Verhältnisse unterstützend reagiert (indem man etwa durch Adoption sozial benachteiligten Kindern die Möglichkeit gibt, in „besseren Verhältnissen“ aufzuwachsen), oder aber durch „Aufspaltungen“ der Mutterschaft wie bei der Eizellenspende potentiell prekäre familiäre Konstellationen bewusst heraufbeschwört, sollte eigentlich unmittelbar einleuchten. Diesbezüglich ist den obzitierten Überlegungen des VfGH nichts hinzuzufügen.
Aus alldem folgt: Hätte sich der EGMR an seine eigenen grundlegenden Prämissen – weiter Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei medizinisch und ethisch umstrittenen Fragen – gehalten, hätte er wie der VfGH die österreichische Regelung als menschenrechtskonform bestätigen müssen. Stattdessen hat er aber de facto die Rolle eines Ersatzgesetzgebers eingenommen und rechtspolitische Festlegungen getroffen, die dem demokratischen Wettbewerb in den Vertragsstaaten überlassen werden sollten. Die EMRK ist bekanntlich insbesondere unter dem Eindruck der Verbrechen des NS-Regimes bzw. der Parole „Nie wieder!“ etabliert worden und hat daher selbstverständlich zu Recht breiten Konsens gefunden. Wer hätte sich damals gedacht, dass der EGMR die ihm zugedachte Stellung als Hüter elementarer Menschenrechte dazu verwenden würde, ganz bestimmte (und wie er selbst einräumt, keineswegs unumstrittene) gesellschaftspolitische Positionen zu propagieren?
Der renommierte Verfassungsrechtslehrer und ehemalige deutsche Bundespräsident und Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts a. D., Roman Herzog, hat angesichts vergleichbarer Tendenzen auf seiten des aufgrund der Verträge über die Europäische Union eingerichteten Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ein Plädoyer mit dem Titel „Stoppt den Europäischen Gerichtshof!“29 verfasst. M. E. sollte man sich unter Heranziehung der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) auch in Österreich überlegen, welche Konsequenzen Kompetenzüberschreitungen des EGMR für die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen haben.
Das gegenständliche EGMR-Urteil sollte aber auch Anlass sein, ganz grundsätzlich die Zulassung künstlicher Fortpflanzungstechniken zu hinterfragen, wenngleich die Durchsetzung eines Totalverbots der IVF derzeit politisch unrealistisch erscheint.
Referenzen
- Als zeitgenössische Publikationen wären etwa zu nennen Bernat E. (Hrsg.), Lebensbeginn durch Menschenhand (1985); BMFJK (Hrsg.), Familienpolitik und künstliche Fortpflanzung (1986); Posch W., Rechtsprobleme der medizinisch assistierten Fortpflanzung und Gentechnologie (Gutachten zum 10. Österreichischen Juristentag [1988]). Auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des FMedG (216 der Beilagen zu den Nationalratsprotokollen, XVIII. GP) sowie der bezughabende Bericht des Justitauschusses des Nationalrates (490 der Beilagen zu den Nationalratsprotokollen, XVIII. GP) geben einen guten Einblick in den Diskussionsstand und die Motive des Gesetzgebers.
- Z. B. IMABE, Schweizerische Gesellschaft für Bioethik, Zürich (Hrsg.), Der Status des Embryos. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Beginn des menschlichen Lebens, Fassbaender, Wien (1989)
- U. a. Imago Hominis 4/2002: IVF – Hinterfragung einer Praxis; Bertolaso M., Gaudino C., Leben aus dem Labor?, Imago Hominis (2007); 14: 110-112; IMABE-Info IVF (2/2006), http://www.imabe.org/index.php?id=623
- Fall S. H. und andere gegen Österreich, Beschwerdenummer 57813/00
- Bei diesem Urteil handelt es sich – ähnlich wie beim vor einigen Monaten gefällten umstrittenen „Kruzifix-Urteil“ gegen Italien – um eine Entscheidung, die von einer aus sieben Richtern bestehenden Kammer des Gerichts gefällt wurde (Artikel 29 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK). Gemäß Artikel 43 EMRK könnte eine Partei – in dem Fall also z. B. Österreich – eine Verweisung an die aus 17 Richtern (Artikel 27 [1] EMRK) bestehende Große Kammer beantragen, wenn sie mit dem Kammerurteil nicht einverstanden ist. Ein Urteil der Großen Kammer ist von vornherein unanfechtbar; ein Urteil der „kleinen“ Kammer wird endgültig, wenn die Parteien erklären, dass sie eine Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer nicht begehren, wenn binnen drei Monaten keine Verweisung an die Große Kammer beantragt wird, oder wenn der Verweisungsantrag vom Ausschuss der Großen Kammer abgelehnt wird (Art. 44 EMRK). Im Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages (Ende Mai 2010) war öffentlich nicht bekannt, ob Österreich die Verweisung an die Große Kammer beantragen würde.
- Geschäftszahlen G 91/98, G 116/98, Sammlungsnummer (VfSlg.) 15632
- VfGH Pkt. B. 1. ff., B. 2.6. ff., EGMR Pkt. 56. ff.
- Wortlaut des Artikels 8 EMRK: (1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. - VfGH Pkt. B. 2.4.2.2., EGMR Pkt. 68. f. (mit rechtsvergleichenden Hinweisen)
- Pkt. B. 2.4.
- Pkt. B. 2.4.2.4.
- Pkt. 74.; diese wie auch die folgenden Zitate sind meine eigenen Übersetzungen aus dem englischen Originaltext des Urteils.
- Pkt. 72.
- Pkt. 73. f.
- Pkt. B. 2.3.2. ff.
- Pkt. 75. ff.
- Vgl. insbes. Pkt. B. 2.4. ff.
- Pkt. B. 2.6. ff.
- Pkt. 79. ff.
- Pkt. B. 2.6.2.
- Pkt. 82. ff.
- Pkt. 90.
- Pkt. B. 2.6.1.2.
- Pkt. 91. ff.
- „Bisherige“ deshalb, weil beim EGMR derzeit ein die Abtreibungsregelung in Irland behandelndes Verfahren anhängig ist, das unter anderem die Frage eines „Rechts auf Abtreibung“ thematisiert und einen Paradigmenwechsel in der Abtreibungsfrage – es ist zu befürchten, mit einer die Abtreibung stark begünstigenden Tendenz – bringen könnte.
- Wie übrigens der formell im Range eines einfachen Gesetzes stehende § 22 ABGB in Österreich, wobei in Österreich nicht zuletzt auf strafrechtlicher Ebene leider nicht dieselben Konsequenzen gezogen werden wie in Irland.
- Fall D. gegen Irland, Beschwerdenummer 26499/02
- So hinsichtlich der polnischen Regelung der medizinischen (nicht vitalen) Indikation im Fall Tysiac gegen Polen, Beschwerdenummer 5410/03. Eine ausführliche kritische Erörterung dieses Urteils und verwandter Entscheidungen des EGMR findet sich bei Piskernigg T., Gesetzesvorstoß gegen die „Kind als Schaden-Rechtsprechung“ des OGH, Imago Hominis (2007); 14: 227-242 (S. 230 ff.).
- Gemeinsam mit Lüder Gerken, erschienen in der FAZ vom 08.09.2008
Der Autor ist Prüfbeamter der Volksanwaltschaft. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
Korrespondenz:
Dr. Thomas J. Piskernigg
c/o IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien