Editorial

Imago Hominis (2009), 16: 3-5
Susanne Kummer

Stress ist das zweithäufigste arbeitsbedingte Gesundheitsproblem. Zu den häufigsten Auslösern zählen laut einer Studie der Europäischen Beobachtungsstelle unsichere Arbeitsverhältnisse, hoher Termindruck, Mobbing und die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie. Im Jahre 2005 sind 22 Prozent der europäischen Arbeitnehmer betroffen gewesen. Vermutlich bis zu 60 Prozent aller versäumten Arbeitstage seien auf Stress zurückzuführen. Man geht davon aus, dass die Zahl der Betroffenen weiter zunehmen wird. Bei vielen endet der Dauerdruck in einem Burnout. Auch dauernde Langeweile bleibt nicht ohne Folge. Von der umgekehrten Version, dem sogenannten Bore-out-Syndrom, sind nach Schätzungen von Schweizer Experten rund 15 Prozent aller Arbeitnehmer im Dienstleistungsbereich betroffen (Krankheiten durch arbeitsbedingten Stress steigen, Der Standard online, 06. 08. 2008).

Das Selbstbild des arbeitenden Menschen hat sich durch die neuzeitliche Bindung der Arbeit an die einkommensbezogene Erwerbstätigkeit verändert, der Begriff der Arbeit knüpfte sich an das Paradigma des Produzierens. Die moderne Industriegesellschaft wurde zur Leistungsgesellschaft. „Sag mir, was du leistest, und ich sage dir, wer du bist.“ Wer innerhalb dieser Leistungskultur funktioniert – ist jemand, wer aus ihr heraus fällt – ist niemand, ja eine Belastung für das System. Dem liegt die faktische Macht des Subsystems Wirtschaft zugrunde: Alles, was der Wirtschaft dient, ist gut. Alles, was ihr schadet, ist schlecht.

Dass das auf Dauer nicht gut gehen kann, hat bereits der Begründer der deutschen Soziologie, Georg Simmel, im Jahr 1900 in seinem Traktat „Philosophie des Geldes“ gezeigt, in dem er die Problematik des Geldes und seine Verführungskraft treffend beschrieb: „Das zum Endzweck gewordene Geld lässt jene Güter, die an sich gar nicht ökonomischer Natur sind, nicht als ihm koordinierte, definitive Werte bestehen; es genügt ihm nicht, sich neben Weisheit und Kunst, neben personale Bedeutung und Stärke, ja neben Schönheit und Liebe als ein weiterer Endzweck des Lebens aufzustellen.“ Wo Geld zum Ziel wird, gewinnt es die Kraft, alle anderen Werte als „Mittel für sich herabzudrücken.“ Wo Geld zum absoluten Gut (und die Bewertung durch Geld zum absoluten Maßstab) wird, kommt es zu „pathologischen Ausartungen“, sagt Simmel. Die Diktion des Geldes, der Leistung, hat der Arbeit ihren wesentlichsten Ast abgesägt: dass ihr nämlich selbst ein Moment von Sinn-Erfahrung innewohnen muss, wenn sie menschlich bleiben will. „Der Mensch ist nicht zwangsläufig zum Arbeitssklaven oder zum „Schlachtopfer seines Fleißes“ bestimmt, wie Schiller das nennt. Er hat die Freiheit, sich zu seiner Arbeit zu verhalten. Keine Arbeit, die wirklich gekonnt, gelungen ist, kommt ohne dieses Moment der Freiheit aus.“ (Melchinger C., Schweiß und Spiele, Die Presse, 26. 04. 2008)

Sind wir zu Sklaven der Arbeit geworden? Stress in der Form von Disstress ist eine Form innerer Unfreiheit. Die beinah totalitär anmutende Auffassung, der Job sei der erste und einzige Sinnstifter im Leben, hinter dem alle andere Möglichkeiten der menschlichen Reifung zurücktreten müssen, hat seine Spuren hinterlassen. Verräterisch ist, wie so oft, die Sprache, wenn man etwa von einer „Babypause“ spricht, und meint, dass Frauen zeitweise aus der Erwerbstätigkeit aussteigen, um sich ihren Sprösslingen zu widmen. Als ob die Aufzucht von Säuglingen ein Urlaub wäre, eine Erholungspause von der eigentlichen „Arbeit“… Diese Auffassung übersteigerter Wertschätzung der Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft, führt zu Spannungen, die dauerhaft nicht durch kleine kosmetische Eingriffe zu kaschieren sind, sondern eigentlich ein Anruf, tiefer nachzudenken, welchem Leitbild von Arbeit wir heutzutage nachlaufen.

Wir haben uns deshalb entschieden, dieses Heft dem Thema Work-Life-Balance zu widmen, und das aus unterschiedlichen Perspektiven. Hugo W. Rüdiger liefert in seinem Beitrag den sozialmedizinischen Befund zur Ausgewogenheit zwischen Arbeit und sozialem Leben. Leistungsverdichtung und Beschleunigung sind die Kennzeichen der heutigen Arbeitswelt. Das Ergebnis ist ein dramatischer Anstieg, vor allem der psychischen Belastung. Martin Grabe erläutert die Phasen der Entstehung eines Burnout-Syndroms und beschreibt jene Personen- und Berufsgruppen, die mit Idealismus, Arbeitseifer und Begeisterung an die Sache herangehen, mit hohen Anforderungen an sich selbst, wobei sich schleichend, oft über Jahre ein Zustand chronischer Erschöpfung einstellt. Sie brennen aus, wenn sie gleichzeitig längst nicht im erwarteten Maß Erfolg und Anerkennung erhalten. Manfred Stelzig gibt einen Überblick aus psychosomatischer Sicht, in der nicht nur das Burnout-Syndrom eine Rolle spielt, sondern eine Unzahl von Symptomen und Krankheitsbildern, die als Folgeerscheinungen des Disstress angesehen werden müssen.

Maria Pia Chirinos weist den Weg in eine neue Ära philosophischer Auseinandersetzung mit der Arbeit als Lebenswirklichkeit des Menschen. Noch in den philosophischen Schulen der Antike bis hin zur Moderne war die Arbeit ein blinder Fleck. Menschliche Arbeit ist weiter zu fassen als nur individuelle Selbstverwirklichung, da es um die Schaffung von gemeinsamen Gütern geht. Andererseits muss sich die Arbeit vom Produkt-Paradigma lösen: Das Ziel der Arbeit sind nicht bloß äußere Güter wie Besitz, Geld oder Macht. Es geht vor allem um innere Güter, in deren Besitz der Mensch kommt, wenn er tätig ist: in Form von intellektuellen Fähigkeiten, aber auch eines praktischen Wissens im Umgang mit Dingen und Menschen und nicht zuletzt positiver Haltungen, Tugenden, die er durch rechtes Arbeiten erwirbt und die ihn als Person aufblühen und reifen lassen.

Der Mensch „ist“ nicht bloß sein Beruf, sein gesellschaftliches Sein kann nicht bloß auf seine Erwerbsarbeit reduziert werden. Dies widerspricht sowohl der menschlichen Würde, als auch dem Wert, der jeder ehrbaren menschlichen Tätigkeit innewohnt, ob hochintellektuell, handwerklich oder in den eigenen vier Wänden.

Seelenfrieden findet nach Seneca, wer sich nicht übernimmt, sich nicht in einem hektischen Leben verzettelt, seine Ansprüche in Grenzen hält und sich nicht ängstlich verstellt, sondern sich gibt, wie er ist. Umtriebige und fremdbestimmte Menschen finden nicht einmal dann Ruhe, wenn sich zufällig etwas Ruhe einstellt. Auch Otium will gelernt sein. Viel Muße bei der Lektüre!

S. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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