Warum greift die Präventivmedizin nicht?

Imago Hominis (2004); 11(2): 125-128
Dieter Magometschnigg

Seit 1920 wurde in epidemiologischen Untersuchungen immer wieder erkannt, dass Risikofaktoren wie die Hypertonie in nicht industrialisierten Kulturen kaum vorkommen und dass unter diesen Lebensbedingungen auch keine altersbedingten Blutdruckänderungen zu beobachten sind.1 Migrationsuntersuchungen, die seit den 60er-Jahren durchgeführt werden, belegen ferner, dass das kardiovaskuläre Risiko nicht allein wegen der genetischen Ausstattung, sondern erst durch deren Wechselspiel mit dem Umfeld ansteigt.2 Diese variablen und daher veränderbaren Bedingungen kommen bald zum Tragen. Sie wurden in Migrationsstudien schon nach einigen Jahren nachgewiesen.3 Der modifizierbare kardiovaskuläre Risikoanteil ist beträchtlich und beträgt in der Altersgruppe ab 50 etwa 50%.

Es steht somit außer Zweifel, dass der Lebensstil in den industrialisierten Kulturen in wesentlichen Bereichen überzogen ist und über mehrere Zwischenstufen, wie zum Beispiel erhöhte Blutdruckwerte, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus etc., zu schweren Erkrankungen und zum Tod führt. Für viele dieser Risikofaktoren ist auch konkret bekannt, welche Teilbereiche des Lebens als primäre Verursacher anzuschuldigen sind. Fett- und salzreich essen, verbunden mit wenig Bewegung und Stress, führt zur Adipositas, zu Stoffwechselstörungen und über die Atherosklerose zu all den weiteren bekannten Folgen. An Hand dieser Erkenntis scheint das Heilverfahren auf der Hand zu liegen. Ausgehend von der Überlegung: „Wer nicht fliegt, kann nicht abstürzen“ lautet der Analogieschluss: „Wer ‚gesund’ lebt, bleibt von den Schäden des ‚ungesunden’ Lebens verschont“. So einfach scheint das und so einfach wird die Kur auch angeboten. Unsere „Gesundheitsexperten“ raten den Menschen, am liebsten über die Medien, sie mögen doch einfach gesund leben. Wenn die Konsumenten den guten Rat nicht befolgen, scheint es offenkundig, dass sie, frei in ihrer Entscheidung, das Gute einfach nicht wollen. Die Vorstellung, dass das Ganze so einfach nicht geht, wird kaum in Betracht gezogen.

Zur Zeit wird in Österreich, besonders von den Gesundheitsbeauftragten, vor allem von den für die Geldverteilung im System Verantwortlichen, eine Prävention, für die man außer einem kostenlosen Ratschlag nichts zu brauchen glaubt, als Methode der Wahl empfohlen. Das Resultat ist: Die Menschen, vor allem die Kinder, werden dicker, die Raucher nicht weniger, die Hypertoniker, Herzinfarkte und Schlaganfälle auch nicht, und von den Gesundheitsmillionen, die vom Gesundheitsfonds ausgegeben werden, merken nur die, die ihren Gehalt davon beziehen, etwas. Wenn gelegentlich die nicht vorhandene Effizienz angesprochen wird, sind die Schuldigen die bösen boykottierenden, nicht einsichtigen Behandelten. Da aber primär niemand annimmt, dass sich der Großteil der industrialisierten Gesellschaft bewusst selbstschädigend verhält, dass die Menschen in erster Linie essen, trinken, rauchen, sitzen, damit sie krank werden, um dann die Gesundheitsressourcen zu verbrauchen, die für andere „wertvoll“ erworbene Krankheiten vorgesehen sind, ist das nicht funktionierende Erklärungsmodell zu hinterfragen.

Die kausale Verknüpfung zwischen Risikofaktor und kardiovaskulären Erkrankungen wurde mit epidemiologischen Methoden erarbeitet. Aus dem überzufälligen Zusammentreffen von bestimmten Bedingungen wie zum Beispiel dem Salzkonsum einer Gesellschaft und ihrer Hypertonieinzidenz oder der Fernsehzeit und dem Übergewicht wird Kausalität abgeleitet. Die Beweiskette zwischen Ursache und Folge ist unzuverlässig geknüpft. Die einzelnen Hypothesen, die erklären, wie aus dem Lebensmuster schließlich Gefäßschäden entstehen, sind mehr oder weniger logische Denkmodelle, die ihre Rechtfertigung partiell aus in vitro Experimenten ableiten. Die überaus komplexe Funktion des Endothels bietet sich zur Zeit als ein möglicher Ariadnescher Faden an, der den rechten Weg durch das Labyrinth zeigen könnte.

Da die Erklärungsketten zwischen Ursache und Folge letztlich als unzureichend empfunden werden, werden neue Pharmaka auch nicht allein auf der Grundlage, dass sie einen Risikofaktor beeinflussen, zur Prävention von Gefäßschäden etc. empfohlen. Vor ihrer definitiven Akzeptanz als indiziertes Therapeutikum wird daher der Beweis am eigentlichen Therapieziel gefordert. Wenn zum Beispiel ein antihypertensiv wirkendes Pharmakon zur Behandlung der linksventrikulären Hypertrophie, einer typischen Hypertoniefolge, anerkannt werden will, muss dies auch durch Therapiestudien belegt sein.

Wenn es um die Bewertung der Wirkung von Arzneien geht, gilt diese naturwissenschaftliche Logik. Sobald es aber um die Bewertung „alternativer“ Methoden geht, – vom Lebensstil bis hin zur Homöopathie – wird diese Art der Beweisführung außer Kraft gesetzt und durch Indizienketten ersetzt. Zum Beispiel:

Homöopathische Mittel können ohne Zulassung zur Hochdruckbehandlung verordnet werden, wahrscheinlich weil man ein geringes Ausmaß an Wirkung für möglich hält, weil man glaubt, dass auch unter Placebo eine Blutdrucksenkung von einigen mmHg zu beobachten sei. Da aber die Prämisse, Placebo senke den Blutdruck, falsch ist, wie Studien mit dem ABM zeigen, ist auch der darauf aufbauende Schluss falsch. Weil der Beweis, dass die homöopathische Arznei etwas kann, weder für das Surrogat Blutdruck, noch für den Endpunkt geführt werden muss, bleibt sie unter falschen Prämissen für die falsche Indikation am Markt. Der Sozialversicherungsträger, der Hauptanwalt der Kostenreduktion, fühlt sich dafür nicht zuständig und vielleicht ist es ihm auch egal, weil die Therapiekosten zur Gänze vom Patienten getragen werden. Letztlich aber werden die Hypertoniker ziellos behandelt, sie bleiben hyperton und werden ihre Hochdruckschäden erleiden und im Routineablauf die gleichen und später höhere Kosten verursachen als die „schulmedizinisch“ behandelten.

Für die Begründung, warum die Empfehlung zur Lebensstiländerung bei der Diagnose eines behandlungswürdigen Risikofaktors als Therapie erster Wahl angeboten wird, wird dieselbe Unlogik benutzt. Als ausreichend nachgewiesen gilt, dass sich Risikofaktoren kurzfristig ändern, wenn der „krankmachende“ Lebensstil kurzfristig geändert wird. Eine umfassende Übersicht über die Effizienz der nicht pharmakologischen Therapie des Lebensstils und der Hypertonie wurde in Blood pressure 2001 Vol. 10; No. 5-6:352-365 von Cox KL, Hodgson JM, Mori TA and Puddey IB publiziert. Man weiß, dass Übergewichtige 3 Mal häufiger eine Hypertonie haben,4 und dass bei einer Gewichtsreduktion zwischen 4-8% der Blutdruck um 3/3 mmHg sinkt.5 Man postuliert, dass dieser Effekt auf Dauer aufrecht erhalten werden könne und, wenn das der Fall wäre, die Hochdruckfolgen wegbleiben müssten. Dass dem so ist, dafür gibt es weder Beweise, noch Hinweise. Bisher war es nicht einmal möglich, Übergewicht durch Empfehlungen anhaltend zu reduzieren. Wenn aber die Prämissen fehlen, sind alle davon ausgehenden Ideen bestenfalls zur Hypothesenbildung geeignet und können nicht Grundlage einer generellen Therapieempfehlung sein.

Ein weiteres Beispiel ist das Thema „Ausdauertraining und Prävention“, auf das sich der Slogan – „Wien bewegt sich“ – bezieht. Nachgewiesen scheint, dass Trainingsprogramme von mittlerer bis hoher Intensität (60% – 75%des maximalen O2-Verbrauches VO2max)6 den Blutdruck senken können und auf Grund einer Metaanalyse von 16 „walking studies“ ist es wahrscheinlich, dass der Blutdruck der Erwachsenen durch Bewegung um etwa 2% sinkt,7 wobei Frauen weniger als Männer profitieren.8 Abgesehen davon, dass das Therapieziel „Normotension“ mit diesem Wirkungsausmaß bei keinem Hypertonieschweregrad erreicht werden kann, ist diese Therapieform für das Gros der Hypertoniker, die ja älter als 70 sind, weder untersucht noch umsetzbar. Langzeituntersuchungen, die die Nachhaltigkeit des Trainingseffektes auf den Blutdruck oder andere Risikofaktoren über Jahre und Jahrzehnte belegen, gibt es nicht, geschweige denn Beweise, die zeigen, dass dadurch die Morbidität und Mortalität an kardiovaskulären Erkrankungen reduziert werden kann. Keine „evidence“ – keine „evidence based medicine“.

Die wahrscheinlich beste Studie zum Thema „Essen und Hypertonie“ wurde unter dem Akronym „DASH-Diät“9 bekannt. Dabei wurden 459 Personen 8 Wochen lang randomisiert zur Hälfte mit einer nordamerikanischen Normalkost, zur anderen mit einer an Gemüse und Früchten reichen Kost, die wenig gesättigte Fettsäuren enthält, ernährt. In einer Subgruppe wurde zusätzlich das Salz 30 Tage lang reduziert. Die Ergebnisse zeigen, dass anders Essen Effekte hat, sagen aber nichts über ihre Langzeiteffekte oder Verträglichkeit aus, oder wie so eine Kost in einer breiten Bevölkerung etabliert werden kann. Als breite Basis für eine erste Wahl-Empfehlung ist eine solche „evidence“ nicht ausreichend.

Die Annehmlichkeiten des industrialisierten Lebensstils sind für jeden, der die Möglichkeit hat, sie zu leben, so einleuchtend, dass sie gerne angenommen werden. Wenig körperliche Anstrengung, geschmackvolle, energiereiche und würzige Speisen, gute und preiswerte Genußmittel sind mit einem abwechslungsreichen Alltag verknüpft. Der Weg zurück zur mühevollen körperlichen Arbeit, zu Hunger und dürftiger geschmackloser Kost scheint kaum jemanden, auch nicht um den Preis eines gesünderen „hohen Alters“, begrüßenswert. Askese im Kreise derer, die im Genuss und Überfluss schwelgen, ist offensichtlich nicht möglich. Dass solch schlechtere Alternativen nicht angenommen werden, ist nicht verwunderlich. Bessere Alternativen, die gut und gesund vereinen, sind gefragt.

Aber wer kann schon auf „schönen Wegen“ zu seinem Arbeitsplatz gehen, joggen, skaten, mit dem Rad fahren? Sich zwischendurch am Arbeitsplatz mit Yogaübungen, im Zengarten, bei entspannenden Klängen regenerieren? Mittags frisch zubereiteten Fisch, saftiges Obst und wohlschmeckendes Gemüse oder Kohlehydrate, die langsam freigesetzt werden, essen und dazu eine feine Tasse Tee, Gemüse- oder Obstsaft oder auch nur klares Wasser trinken und sich abends nach einem Nudelgericht und einem Obstimbiss im Turnstudio zur bewegten Unterhaltung mit der Familie und/oder den Freunden treffen? Ein gesünderer und besserer Lebensstil ist offensichtlich derzeit nicht wählbar. Selbst für ein viel einfacheres „Mehr an Gesundheitsqualität“ fehlen viele Voraussetzungen. Auf allen Verkehrswegen haben Fortbewegungsmittel, in denen man still sitzt, absolut Vorrang. Die modernen vielstöckigen Bürohäuser laden zum Liftfahren und nicht zum Stiegensteigen ein. Die „gesunden" Speisen sind ohne aufwändige Schulung von „ungesunden“ nicht zu unterscheiden und meist in ihrer Geschmacksqualität so, dass sich auch gut gebildete Fachleute bei freier Wahl dagegen entscheiden.

Wenn der Gesellschaft ein gesunder Lebensstil ein Anliegen ist, sind dafür die Bedingungen zu schaffen. Analog der Seuchenbekämpfung, die ja auch in erster Linie durch die geänderten Bedingungen wie Trinkwasser und Abwasserregelungen, Müllentsorgung, Rattenbekämpfung, Bau- und Arbeitsvorschriften, Nahrungsmittelvorschriften und vieles andere mehr effektiv wurde, müßten wahrscheinlich auch durch geänderte Bedingungen die Risikofaktoren bekämpft werden. Allein vom Rat: „weniger Salz und Fett zu essen, dafür mit mehr Bewegung und weniger Stress leben“ zu erwarten, dass die Risikofaktoren und kardiovaskulären Toten in der Gesellschaft abnehmen, ist absurd. In neuen Denkansätzen, die aus der Gesundheitsförderung kommen, wären zunehmend die personen- und verhaltenszentrierten Ansätze durch Interventionen zu ersetzen, die ganze Regionen, Gemeinden oder Betriebe, die sogenannten Lebenswelten der Menschen, so verändern, dass man darin gesund leben kann. Für die Lebenswelten wurde ein eigener Begriff, das „Setting“, eingeführt. Für die Zukunft ist zu hoffen, dass in den ökonomisch regierten Lebenslandschaften gesunde „Settings“ ihren Platz finden, in denen die Menschen mit ihrer unveränderbaren Genausstattung gut und gesund leben können.

Referenzen

  1. Fleming H. C., Medical observations on the Zuni Indians. Contribution to Museum of American Indians, Heye Foundation, 7, No. 2, New York 1924
  2. Florey C. V., Cuadrado R. R., Blood pressure in native Cape verdans and in Cape Verdean immigrants and their descendants living in New Enland, Hum Biol (1968); 40: 189
  3. Cruz-Coke R., Etcheverry R., Nagel R., Influence of migration on blood pressure of Eastern Islanders, Lancet, (1964); 1: 697
  4. Gampel B., Slome C., Scotch N. et al., Urbanisation and hypertension in Zulu adults, J Chron Dis (1962);15: 67
  5. Stamler R., Stamler J., Riedlinger W. F., Algera G., Roberts R. H., Weight and blood pressure findings in hypertension screening of 1 million Americans, JAMA (1978);120: 1607-1610
  6. Moreira W. D., Fuchs F. D., Ribeiro J. P., Appel L. J., The effects of two aerobic training intensities on ambulatory blood pressure in hypertensive patients: results of a randomized trial, J Clin Epidemiol (1999); 52: 637-642
  7. Fagard R. H., Exercise characteristics and the blood pressure response to dynamic physical training, Med Sci Sports Exerc (2001), 33: S484-S492
  8. Kelly G. A., Aerobic exercise and resting blood pressure among women:a meta-analysis, Prev Med (1999); 28: 264-275
  9. Appel L. J., Moore T. J., Oberzanek E. et al., A clinical trial of the effects of dietary patterns on blood pressure. DASH Collaborative Research Group, N Engl J Med (1997); 336: 1117-1124

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Dieter Magometschnigg
Institut für Hypertoniker
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