Die Institutionalisierung der öffentlichen Ethikdebatte in Deutschland
Ethische Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft
Den Menschen in unserer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft bieten sich eine Vielzahl von Handlungsoptionen und Weltdeutungen. Kann es dabei noch einen Konsens über moralisches Handeln geben, der über Kulturen und Lebensentwürfe hinweg allgemeine Geltung beanspruchen kann? Bedarf es angesichts der enormen technischen Fortschritte in der Reproduktionsmedizin und in der Gentherapie neuer Ethikkonzeptionen? Ist der „normale“ Bürger kompetent genug, um sich etwa über den Beginn des Lebens ein richtiges Urteil zu bilden oder sollte er dies nicht eher „Experten“ in Ethikkommissionen überlassen?
Die Bewältigung aktueller bioethischer Probleme, die mit den neuen Reproduktionstechniken verbunden sind, wie Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik und Klonierung stellt für alle Menschen, Wissenschaftler und Laien, eine große Herausforderung dar. Manchem scheint das individuelle Gewissen überfordert, und so werden die Probleme an Instanzen delegiert, die dann stellvertretend für den einzelnen Menschen über Sittlichkeit und Verwerflichkeit von bestimmten Handlungen entscheiden sollen. Was der einzelne Mensch nicht mehr bewältigen kann, wird erst recht für die Gesellschaft unmöglich. Bei der Vielfalt von Wertvorstellungen ist eine Übereinkunft bezüglich allgemeingültiger Handlungsnormen offenbar nur noch schwer vorstellbar.
Ethikgremien wie der Nationale Ethikrat oder die Enquete-Kommission für Recht und Ethik in der Medizin verkörpern in gewisser Weise die politische Antwort auf die Unfähigkeit der Gesellschaft, zu einem ethischen Konsens zu gelangen. Beide Gremien leisten einen deutlich zu vernehmenden Beitrag zur öffentlichen Bioethikdebatte, sind jedoch unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Aufgaben betraut. Sie verbindet das Ringen um die gleichen inhaltlichen Themen: Erzeugung und Einfuhr embryonaler Stammzellen, Zulassung oder Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) und zukünftig auch die Diskussion über das therapeutische und reproduktive Klonen – um nur einige wichtige Themen zu nennen.
Der Nationale Ethikrat
Durch das Bundeskabinett auf Initiative des Bundeskanzlers berufen1, nahm der Nationale Ethikrat im Mai 2001 seine Arbeit auf. Der Rat mit seinen bis zu 25 Mitgliedern besteht zur einen Hälfte aus Experten und zur anderen aus „repräsentativen“ Vertretern der Gesellschaft: der Politik, den Kirchen, der Naturwissenschaft, der Medizin, der Philosophie, der Wirtschaft und der Behindertenverbände. Die einzelnen Mitglieder werden vom Bundeskanzler für vier Jahre berufen und können für weitere vier Jahre gewählt werden. Sie dürfen weder der Bundesregierung oder einer Landesregierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes angehören. Die berufenen Mitglieder wählten seinerzeit in geheimer Wahl Professor Spiros Simitis zum Vorsitzender des Ethikrats. Zwei Mitglieder haben im Frühjahr 2003 ihr Mandat aus Zeitgründen aufgegeben. Über mögliche Nachfolger hat der Kanzler noch nicht entschieden. Die Finanzierung des Rats erfolgt durch Steuergelder.
Gegründet wurde der Rat als „nationales Forum des Dialogs über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften“. Es geht darum, den interdisziplinären Diskurs zu aktuellen bioethischen Fragestellungen zu bündeln und „das Meinungsbild der Gesellschaft“ in einer Stellungnahme zu verarbeiten. Schließlich soll der Stellungnahme eine Empfehlung für das politische Handeln folgen. Die monatlichen Sitzungen sind mitlerweile öffentlich. Weiter sollen die Mitglieder aktiv den öffentlichen Dialog fördern, etwa durch Vorträge, Veröffentlichungen oder Teilnahme an Diskussionsrunden.
Bisher hat der Nationale Ethikrat zwei Stellungnahmen verfasst: Im Dezember 2001 zum Import von embryonalen Stammzellen und im Januar 2003 zur Frage der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik.
Enquete-Kommission
Die mit den fortschreitenden Entwicklungen in Biologie und Medizin aufgeworfenen ethischen und rechtlichen Fragen stellen nicht nur für die Gesellschaft sondern auch für den Gesetzgeber eine Herausforderung dar. Zur Vorbereitung aktueller Gesetzgebungsverfahren hat der Bundestag mit Zustimmung aller Fraktionen im März 2000 die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ für die Dauer von zwei Jahren eingesetzt.2 Der Auftrag bestand darin, „unter Berücksichtigung ethischer, verfassungsrechtlicher, sozialer, gesetzgeberischer und politischer Aspekte die Fortschritte der Medizin, die Forschungspraxis sowie die daraus resultierenden Fragen und Probleme zu untersuchen und grundlegende und vorbereitenden Arbeiten für notwendige Entscheidungen des Deutschen Bundestages zu leisten. Insbesondere sollte die Kommission Empfehlungen für die ethische Bewertung, für Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umgangs sowie für gesetzgeberisches und administratives Handeln in Bezug auf medizinische Zukunftsfragen erarbeiten.“3
Die Kommission besteht aus 26 Mitgliedern. Dies sind zur einen Hälfte Parlamentarier aus allen im Bundestag vertretenen Fraktionen und zur anderen Sachverständige, die weder dem Bundestag noch der Bundesregierung angehören und von den einzelnen Fraktionen berufen werden. Den Vorsitz führte während der 14. Wahlperiode die Abgeordnete Margot v. Renesse. Im Einzelnen gehörte es zum Auftrag der Enquete-Kommission
- den Sachstand über wichtige derzeitige und zukünftige Entwicklungen der modernen medizinischen Forschung zu recherchieren.
- Des weiteren die zugehörige Forschungspraxis zu untersuchen und auf gesetzlich nur unvollständig geregelte Bereiche hinzuweisen.
- Vor allem aber sollten „Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung, Diagnostik und Therapie sowie ihrer Anwendung entwickelt werden, die das unbedingte Gebot zur Wahrung der Menschenwürde beinhalten.“
Dieser dritte Punkt ist für die gesamte Arbeit der Enquete-Kommission richtungsweisend: die Menschenwürde ist das unumstößliche Fundament des Wertsystems der deutschen Verfassung. Sie stellt deshalb für die ethische und rechtsethische Auseinandersetzung mit den Fragen der modernen Medizin einen unverzichtbaren Rahmen dar.
Inhaltlich standen neben anderen Themen die Stammzellforschung und die Präimplantationsdiagnostik im Mittelpunkt der Arbeit der Kommission. Die Ergebnisse wurden in mehreren Zwischenberichten sowie in einem Abschlussbericht im Mai 2002 vorgestellt und die Arbeit vorläufig beendet. Auch in der 15. Wahlperiode hat sich der Bundestag entschlossen, die Arbeit der Enquete-Kommission weiterzuführen.4 Im Mai 2003 konstituierte sich die neue Kommission unter dem Vorsitz des Abgeordneten Rene Röspel und führt anders als ihre Vorgängerin die Ethik vor dem Recht im Namen als Enquete-Kommission für Ethik und Recht der modernen Medizin. Das weiterhin 26 köpfige Gremien soll sich bei seiner Arbeit weiter an dem verfassungsrechtlichen Gebot der Menschenwürde und anderen Grundrechten orientieren. Zu den Themen, mit denen sich die Enquete-Kommission befassen will, zählen die Verteilungsgerechtigkeit in der modernen Medizin und neue Forschungsbereiche wie die Nanobiotechnologie.
Ethische Orientierung durch Ethikräte?
Der Nationale Ethikrat orientiert sich am Verfahren der Diskurstheorie von Jürgen Habermas5 im Hinblick auf die wachsende Vielfalt an Lebensentwürfen, individuellen Präferenzen und Modellen sozialer Gemeinschaft. Die Diskursethik konzentriert sich auf die Form der moralischen Argumentation. Inhaltliche Elemente wie die Frage nach dem „guten Leben“ werden als nicht konsensfähig erachtet und aus dem moralischen Diskurs entlassen. Dennoch sollte die ethische Kontroverse so geführt werden, dass alle Teilnehmer am Diskurs ihre Argumente frei äußern können. Von dieser Art des ethischen Disputs darf nicht erwartet werden, dass er einen Konflikt zu lösen vermag. Er konfrontiert vielmehr die unterschiedlichen Positionen miteinander und lässt unterschiedliche Weltanschauungen und Wertvorstellungen miteinander ins Gespräch treten. Jedem Teilnehmer an diesem theoretisch herrschaftsfreien Dialog wird gleichermaßen Gehör geschenkt.
Im Gegensatz zur Enquete-Kommission wird im Nationalen Ethikrat nicht explizit auf eine für alle tragfähige ethische Grundposition verwiesen. Dies bedeutet nicht, dass die Achtung der Menschenwürde nicht als ein wichtiges Bewertungskriterium herangezogen würde. Sie hat jedoch unterschiedlichen Stellenwert je nach der vertretenen Position.
In den bisherigen Stellungnahmen des Nationalen Ethikrats zum Import von Embryonalen Stammzellen6 und zur Einführung der Präimplantationsdiagnostik7 wird dies deutlich. Während die Vertreter der stringenteren Position (jeweils in der Minderheit für ein Verbot der Einführung von Embryonalen Stammzellen und gegen die Einführung der PID) sich klar zur unbedingten Achtung des Gebots der Menschenwürde und des Lebensschutzes stellten, waren die Vertreter der weniger stringenten Position (jeweils mehrheitlich für eine „streng kontrollierte Einführung“ von Embryonalen Stammzellen und „eng begrenzte“ Zulassung der PID) geneigt, den absoluten Lebensschutz hinter den Primat der guten Absicht zu stellen.
Gemäß dem diskursethischen Grundsatz wurden in den Stellungnahmen die Argumente der Pro- und Contraposition jeweils in gleichem Umfang dargestellt. Sie sollen Politikern und der interessierten Öffentlichkeit als Hilfestellung für die eigene Urteilsbildung dienen. Aus den Stellungnahmen geht hervor, wie viele Mitglieder des Rates jeweils den unterschiedlichen Positionen zugestimmt haben. In der letzten Stellungnahme zur PID hatten die Mitglieder durch ihre Unterschrift ihre jeweilige Position öffentlich bekannt.
Bei den Berichten der Enquete-Kommission gewinnt der Leser den Eindruck, dass die Darstellung der Sachlage, des Diskussionsstands und die abschließende Bewertung der unterschiedlichen Handlungsoptionen nicht mit völliger „Neutralität“ erfolgen soll: Die Bewertung der Stammzellforschung und der PID erfolgt in der Perspektive der ethischen und rechtlichen Orientierungspunkte, auf die man sich von vorn herein verständigt hatte. Bei der Dokumentation der Ergebnisse wurden ebenfalls die unterschiedlichen Handlungsoptionen dargestellt, die Positionen für und gegen die begrenzte Zulassung der Stammzellforschung und der PID. Im Gegensatz zum Nationalen Ethikrat war das parlamentarische Ethikgremium mehrheitlich für ein Verbot dieser innovativen Reproduktionstechniken. Die Begründung unter Berufung auf den Verfassungsgrundsatz zum Gebot des unbedingten Lebensschutzes ohne Möglichkeit einer Güterabwägung führte zu einer ebenso klaren Formulierung des gesetzlichen Handlungsbedarfs.8
Auch innerhalb der Enquete-Kommission war eine Meinungspluralität erkennbar, jedoch wurde in der Art der Darstellung der Argumentationslinien erkennbar, dass der unbedingte Lebensschutz unter keinen Umständen zur Disposition stand.
Ethikräte und ihr Einfluss auf die Politik
Gemäß dem Selbstverständnis des Nationalen Ethikrats hat dieser nur die Aufgabe, Argumente zusammenzustellen und Optionen zu formulieren, die vom Parlament oder der Regierung aufgegriffen werden können. Die Enquetekommission dagegen ist der direkte Berater des Parlaments und des Bundestags und hat die entsprechende parlamentarische Legitimation.
Es muss jedoch festgestellt werden, dass der Ethikrat, obwohl er nach außen hin eine neutrale Stellung einnimmt, einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Abstimmungen im Parlament ausgeübt hat und wahrscheinlich weiter ausüben wird. Bei der Stellungnahme zur Stammzellforschung hatte die Enquete-Kommission zu zwei Drittel gegen den Import von embryonalen Stammzellen gestimmt. Das Votum des Nationalen Ethikrats fiel einen Monat später im Dezember 2001 genau umgekehrt aus. Die Entscheidung im Parlament Ende Januar 2002 spiegelte schließlich das Votum des Ethikrats wider.
Eine ähnliche Situation bahnt sich nun in der Frage der Zulassung der PID an. Zuerst hat die Enquete-Kommission im Mai 2002 ihre Untersuchung mit der Empfehlung an den Gesetzgeber abgeschlossen, das im Embryonenschutzgesetz enthaltene Verbot beizubehalten. Im Januar 2003 endet die Diskussion im Nationalen Ethikrat mit dem mehrheitlichen Votum, bei Hochrisikopaaren die PID zunächst zeitlich befristet zuzulassen. Auch wenn die namentliche Unterschrift unter die jeweiligen Positionen nicht als „interne Abstimmung" gedacht war, wurde sie dennoch von den Medien als eine Vorwegnahme der Debatte im Bundestag gewertet. Die Anhörungen zum Entwurf eines neuen Fortpflanzungsgesetzes stehen in Kürze an. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat allen Abgeordneten ausdrücklich empfohlen, beide Stellungnahmen aufmerksam zu lesen.9
Noch ein Ethikrat?
Der Ort der Entscheidung biopolitischer Grundfragen ist das Parlament. Ethikgremien können den einzelnen Abgeordneten bei einer Abstimmung im Parlament ihre Entscheidung nicht abnehmen, die sie vor ihrem eigenen Gewissen verantworten müssen. Sie können aber einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung dieser Gewissen leisten, ihnen die Grundwerte unserer Verfassung neu vor Augen führen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Themen anregen. Trotz der umfangreichen Aufklärungsarbeit beider Ethikgremien scheint es den Politikern immer noch an Entscheidungssicherheit zu fehlen. Um dem weiterhin bestehenden Informations- und Diskussionsbedarf Rechnung zu tragen, wurde von der CDU/CSU-Fraktion kürzlich ein dritter Expertenrat ins Leben gerufenen. Ähnlich der Logik des Ethikrats und der Enquete-Kommission besetzt, vereinigt dieser Zwölferrat den Sachverstand aus den Bereichen Ethik, Recht und Naturwissenschaft.
Referenzen
- Kabinettvorlage vom 25.4.01 zur Einrichtung eines Nationalen Ethikrates (www.nationalerethikrat.de/ueber_uns/einrichtungserlass.html)
- vgl. Bundesregierung (2000) Bundestagsdrucksache 14/3011, 24.03.2000
- vgl. Bundesregierung (2002) Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. Bundestagsdrucksache 14/9020, 14.05.2002, S.7
- Deutscher Bundestag (2003) Neue Enquete-Kommission des Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ konstituiert sich. Pressemitteilung 29.4.03
- Habermas, Jürgen (1991), Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt
- Nationaler Ethikrat (2001), Stellungnahme zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen, Dezember 2001
- Nationaler Ethikrat (2003), Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, Januar 2003
- vgl. ebd. Bundesregierung (2002), S.114-115: „Die Mehrheit der Enquete empfiehlt dem Deutschen Bundestag, gegebenenfalls im Rahmen eines neuen Fortpflanzungsgesetzes, den inhaltlichen Gehalt des Embryonenschutzgesetzes zu bewahren und das Verbot der PID zu konkretisieren.“
- Thierse, Wolfgang (2003), Die Furcht, dass Behinderte zu Verhinderbaren werden, Die Tagespost 28.2.2003
Dr. Bergund Fuchs, M. A.
Dozentin für Bioethik
Gustav-Siewert-Akademie Weilheim Bierbronnen
Stadtwaldgürtel 39
D-50935 Köln