Über den Nutzen des Todes für das Leben

Imago Hominis (1998); 5(2): 89-94
Rafael Alvira

Zusammenfassung

Wäre unsere Existenz endlos und müßte man nicht den Tod erleiden, dann hätte nichts, was mit uns geschieht, relevante Bedeutung. Das wäre eine Qual, nämlich das Bewußtsein der Nichtigkeit aller unserer Handlungen. Eine solche Existenz könnte auch keine Synthese der Zeit, also eine Unterscheidung in Vergangenheit und Zukunft hervorbringen und den Menschen in der Undendlichkeit der Existenz sein ihm eigentümlichstes Tun berauben, nämlich zu lernen. So ist der Tod zwar Zerfall, doch nicht das, was das Leben schenkt, sondern es erst ermöglicht. Wer den Tod nicht als Grenze seines Lebens begreift, kann sich nicht selbst konstituieren, oder seine eigenen Grenzen annehmen und sich dem anderen öffnen. Je radikaler er dies begreift, umso wahrhafter ist die Liebe und die Wirklichkeit seines Lebens – wer nicht liebt, existiert nicht. Für den Tod dankbar sein, ihn anzunehmen und zu begreifen, bedeutet ein erfülltes Leben in Liebe.

Schlüsselwörter: Tod, Bewußtsein, Bejahung, Erfüllung des Lebens

Abstract

If our existence were eternal and if we were not forced to suffer death then nothing that happens to us would be of relevance. The consciousness of the futility of all our actions would be torment. Such an existence could not bring forth a synthesis of time, in other words there would be no differentiability between the past and the future and one would be robbed of his, in his existence unthinkable, most characteristical property or action and that is to be able to learn. Therefore, death is decomposition but not that which gives life, but does make it possible. He who can not grasp death as the boundaries of his life is also not able to constitute himself or to accept his own boundaries and be able to open himself to others. The more radically he understands this, the more true is the love and the reality of his life – he who does not love does not exist. To be thankful for death, to understand and accept it means to have lived a full life of love.

Keywords: death, consciousness, affirmation, life of fulfillment


1. Wenn unsere Existenz – wie das zur Zeit zweifelsohne der Fall ist – vergänglich wäre, aber nicht den Tod erleiden müßte, dann hätte nichts von dem, was uns geschieht, irgendeine relevante Bedeutung, denn in der unendlichen Fülle von zukünftigen Möglichkeiten besäße nichts wahrhaftige Wichtigkeit. Wichtigkeit heißt hier Bezug auf das Subjekt.

Diese Art der Existenz wäre entweder nicht wirklich menschlich – denn das Bewußtsein, das immer eine Art von Zusammenfassung darstellt, die die Gesamtheit der eigenen Existenz, wenngleich auch unvollständig erfaßt, bliebe ausgeschaltet – oder sie wäre eine Qual – das Bewußtsein, nie vollständig bewußt werden zu können – oder ein konstitutiver Überdruß – das Bewußtsein der Nichtigkeit aller unsere Handlungen.

2. Eine vergängliche und endlose Existenz könnte nicht das dem Bewußtsein Eigentümlichste zu Wege bringen, nämlich die Synthese der Zeit. In der Tat, wenn es kein Ende gibt, dann wäre die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft irrelevant und wir sähen keinen Anlaß, die Zeit aufzuhalten (das heißt, sie im Gedächtnis in Vergangenheit zu verwandeln), noch sie vorzubereiten und zu projizieren (das heißt, sie in Zukunft, in Streben und Abschätzen zu verwandeln).

Ohne Strukturierung der Zeit – in ihren Momenten und deren Beziehung zueinander – gibt es kein Lernen. In der endlosen Existenz würde der Mensch nicht das tun, was ihm am eigentümlichsten ist, nämlich lernen.

Folglich, wenn wir die Zeit nicht synthetisieren – das heißt, sie auffalten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und danach die drei Momente in Verbindung setzen können – sind wir auch nicht imstande, ein Bewußtsein vom Absoluten zu entwickeln. In dem Maße, in dem die Liebe zu einer Person mit der Tatsache identisch ist, daß sie absolut angenommen werden muß, könnten wir niemand wahrhaft lieben.

3. So ist aus grundsätzlicher Sicht im allgemeinen – und aus physikalischer Sicht im besonderen – , der Tod ein Zerfall. Ganz allgemein ist Sterben ein Zerfall – aber für das Bewußtsein ist der Tod, im Gegensatz dazu, das, was die Integration erlaubt, also das, was die Existenz des Bewußtseins als Bewußtsein ermöglicht.

Der Tod ist nicht das, was das Leben schenkt – wie könnte er das auch? – , aber er ist das, was es ermöglicht.

4. Die logische Erklärung ist einfach. Wenn es keine Negation gäbe – und der Tod ist eine Negation – würde alles ohne Beziehung zu ihr existieren, das heißt, es gäbe keine andere Möglichkeit.

In Wirklichkeit ist die Tatsache, daß es keine andere Möglichkeit gibt, identisch mit der, daß es überhaupt keine Möglichkeit gibt, was seinerseits identisch ist mit der Tatsache, daß es keine Macht gibt. Denn Möglichkeiten implizieren Macht, und es gibt keine Macht ohne die Möglichkeit ihrer Ausübung. Jede Macht bedeutet im eigentlichen Sinne eine transzendente Handlung, das Setzen eines Anderen oder die Stellungnahme gegenüber einem Anderen. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, gibt es auch keine Möglichkeit und keine Macht.

Wenn B. Spinoza – dem Hegel hierin folgt – leugnet, daß Gott Schöpfer sein kann und dies mit der These belegen will, daß das höchste, vollkommene Sein nichts außerhalb seiner selbst „lassen" könne, dann raubt er Gott eine Dimension der Vollkommenheit, nämlich die Macht.

5. Alle Macht wird ausgeübt auf eine Negation, einen Widerstand, auf eine Grenze und nur so existiert sie. In diesem Sinne bedeutet der Tod – im Unterschied zu dem, was gemeinhin gedacht wird – die Möglichkeit, daß das menschliche Sein Macht über sich selbst hat. Wenn unsere Existenz unbestimmt, unbegrenzt wäre, könnten wir sie nicht bewältigen, nicht Herr über sie sein.

6. Somit haben wir bereits zwei große Vorteile des Todes für das menschliche Wesen erkannt: er erlaubt uns, ein Bewußtsein zu haben und Herr über uns selbst zu sein. Es handelt sich um zwei Aspekte derselben Sache, aber es ist wichtig, sie in ihrer Unterschiedlichkeit zu zeigen.

7. So wie der Tod – wie bereits erwähnt – ein Zeichen dafür ist, daß nicht alles vorübergeht, so ist er auch ein Beweis dafür, daß das menschliche Wesen – im Gegensatz zu dem, was immer behauptet wird – nicht reine Endlichkeit ist, sondern eher ein Wesen, das die Endlichkeit transzendiert.

8. Im Zusammenhang mit dem bisher Gesagten ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem menschlichen Wesen und anderen Lebewesen auf dieser Welt darzulegen. Von letzteren kann man sagen, daß sie ebenso ein gewisses Bewußtsein haben – ein sinnliches Gewissen, wie die früher am meisten benutzte Bezeichnung lautete – und eine gewisse Selbstbeherrschung, eine gewisse Freiheit.

Um wahrhaft Herr über etwas zu sein, muß man es kennen und lieben. Ohne die Verwirklichung dieser beiden Beziehungen gibt es keine Aneignung im eigentlichen Sinne. Etwas nicht Bekanntes und nicht Geliebtes ist nicht mein im wahren Sinne des Wortes. Und gerade das ist der Unterschied, der das menschliche Wesen kennzeichnet.

9. Je mehr wir kennen und lieben, desto mehr machen wir uns die Wirklichkeit zu eigen. Aber wie Aristoteles in einer klassischen Formulierung behauptet: im Unendlichen, im Unbestimmten, gibt es keine mögliche Kenntnis. Eine Wirklichkeit ohne Grenzen ist nicht erkennbar, denn das, was der Geist tut, ist begreifen, festhalten und das ist nicht möglich, wenn es keinen Endpunkt, keine Grenze gibt. Man müßte hinzufügen: was keine Grenze hat, ist nicht liebenswürdig. Wir können das Unbestimmte nicht lieben.

Wie die philosophische Tradition unterstreicht, begreifen die nicht menschlichen Lebewesen dieser Erde die Grenze, aber nicht reduplikativ als Grenze, oder anders ausgedrückt, sie können sie nicht in ihrer absoluten Eigentümlichkeit wahrnehmen. Deshalb können sie sie auch nicht in absoluter Weise besitzen, sich etwas zu eigen machen. 

So geschieht es, daß sie den Tod nicht als Tod begreifen, noch ihren Tod als ihren Tod, was gleichbedeutend ist damit, daß sie auch nicht die Grenze ihres Lebens als solche erkennen und sich deshalb ihr Leben auch nicht vollständig zu eigen machen können.

10. Je absoluter der Tod ist, umso mehr Negation ist die Negation. Eine reine Negation ist aber ein „reines Nichts“, womit Epikur also Recht hatte, als er forderte, daß der Tod uns nicht bekümmern sollte, denn das Nichts sei eben nichts.

Und doch ist es so, daß der Tod als solcher das menschliche Wesen zwar nicht im geringsten bekümmert, indessen entsetzt ihn mehr als alle anderen Lebewesen die Möglichkeit nicht zu leben – er denkt stetig daran und hält sie sich vor Augen – , mit dem Ergebnis, daß die Medizin des Epikur uns doch nichts nützt. Und sie nützt nichts, weil sie uns nichts Neues lehrt, denn wir wissen alle, daß der Tod als Grenze ein reines Nichts ist. Aber Epikur unterläßt es obendrein uns zu zeigen, was wir eigentlich wissen wollten, nämlich was der Tod ist und wozu er uns nützt – das heißt, welchen Sinn er hat. Hätte er uns das gezeigt, würde er uns zu Herren über den Tod gemacht haben.

11. Der Tod, wie jede Grenze, ist eine Wirklichkeit – denn die Negation ist wirklich – die uns gestattet, eine Unterscheidung zu erstellen, und daher auch die Selbstkonstitution der Wesen im Unterschied zu anderen.

Für jedwedes nicht menschliche Lebewesen bedeutet geboren werden – also anfangen zu leben – in der reinen Einheit mit der Materialität der Welt zu sterben. Leben ist die Annahme eines unterscheidenden Akts der Vereinheitlichung, die am Ende mit dem Zerfall, mit der Auflösung bezahlt wird, die der Tod ist. Das ist die kosmische Gerechtigkeit, von der Anaximander sprach.

Das menschliche Wesen besitzt jedoch mehr Kraft, mehr Fähigkeiten zu begreifen und daher auch sich selbst zu konstituieren. Es kann sich seine Unterschiedlichkeit zu eigen machen. Und es ist dazu imstande – wie bereits angedeutet –,  indem es erkennt, daß der Tod zum eigenen Leben dient, und indem es den eigenen Tod liebt. Nur wer für den Tod selbst dankbar ist – wie Seneca meisterhaft andeutet – besiegt ihn. Indem ich mir mein Nichts zu eigen mache (mit anderen Worten, meinen Tod), füge ich meinem Sein zwar keinen Inhalt hinzu; das was ich jedoch hinzufüge ist die Erkenntnis – das heißt, das Bewußtsein, das heißt wiederum meine Selbstkonstitution als ein unterschiedenes Ich – daß ich nur dann Ich sein kann und wie dieses verschiedene Ich leben kann, wenn ich wahrnehme, daß ich zu meiner Unterscheidung akzeptieren muß, daß ich nicht alles bin, das heißt, daß es einen anderen gibt.

Die bewußte Annahme meines Nichts, meiner Grenze, ist identisch mit der radikalen Öffnung zum anderen. Wenn die Grenze nichts zum Inhalt hat, dann bewirkt sie die Öffnung. Sie begrenzt mich, weil sie mich außerhalb eines undifferenzierten Alles konstituiert, aber als Grenze ist ihr Inhalt nichts und daher öffnet sie mich radikal. Darum muß man, um zu lieben, sich selbst sterben… und nur dann lebt man. Bemerkt doch Hegel, lieben bedeutet sich selbst finden – selbst sein – im anderen.

Wie bereits erwähnt: je eindringlicher also der Tod besessen wird, desto wahrhafter ist die Liebe und desto wirklicher ist das eigene Leben. Wer nicht liebt, existiert nicht, führt ein rein phänomenisches und abstraktes Leben als Folge seiner Angst davor, den eigenen Tod zu erkennen und zu lieben. Es handelt sich um eine selbstbewirkte Schwäche, einen Mangel an Kraft.

12. So versteht man, warum Plato sagt, daß der Philosoph im Grunde nichts anderes tut, als sich mit dem Tod zu beschäftigen. Er sagt das gerade deshalb, weil er entdeckt hat, daß dies die einzige Weise ist, sich das Wahre und das Gute, anders ausgedrückt, das Leben, zu eigen zu machen, festzuhalten.

Nietzsche hat nicht begriffen, daß die Unsterblichkeit, von der Plato redet, schlicht den permanenten Sieg über den Tod voraussetzt. Darum vertritt der Autor des Zarathustra die Idee, daß es nur ein sterbliches, bloß phänomenisches Leben gibt. Das menschliche Wesen kann jedoch – Nietzsche weiß das und daher rührt auch seine innere Tragik – nicht bloß phänomenisch sein, sondern es kann mehr. Es braucht nicht die eigene Endlichkeit hinzunehmen und eine tragische Existenz zu leben, weil die Betrachtung dieser Möglichkeit der radikalen Endlichkeit nur zusammen mit der Erfahrung ihrer Unendlichkeit möglich ist. Das menschliche Wesen ist das Wesen, das den Tod besiegen kann, denn es wird sich bewußt, daß es seinetwegen als Mensch lebt – das heißt als unsterbliches Bewußtsein.

13. An dieser Stelle müssen wir auf Kierkegaard zu sprechen kommen, der zusammen mit Nietzsche vielleicht der Denker unserer Zeit ist, der diese Problematik am ernsthaftesten reflektiert hat.

Wie Nietzsche ist er an dem Kernproblem interessiert: an der Existenz, am Leben. Und wie Nietzsche, kann er gerade deswegen der zentralen Bedeutung des Themas des Todes nicht ausweichen.

Kierkegaard stellt seine Überlegungen im Zusammenhang mit dem Christentum an, so wie es übrigens auch Nietzsche tut. Keinem von beiden entgeht die Tiefe, mit der das Christentum diese Thematik aufwirft.

14. Für Kierkegaard ist der Beginn der Erklärungen bei der in der Genesis erzählten Geschichte des Falls von Adam und Eva anzusetzen.

Der Interpretation des dänischen Denkers zufolge unterscheidet sich Adam von Gott – das heißt, er konstituiert sich selbst durch die Sünde, denn die Sünde ist die Negation Gottes und folglich kann sie als der „Tod" gegenüber der Gottheit interpretiert werden. Die Sünde, wenn man das so ausdrücken kann, erzeugt nicht den Tod, sondern sie ist der Tod. So müsse Adam, um bewußt Adam zu sein – und nicht mehr eine Art Traumwandler, sondern ein wahrhaftiger Mensch – den Tod annehmen, er müsse sündigen.

Sich von Gott unterscheiden; das kann nur ein Gott. Wenn Adam unsterblich, das heißt, ein transzendentales Bewußtsein haben wollen, wenn er also habe sein wollen wie Gott, habe er keine andere Wahl gehabt, als zu sündigen. Es war Sünde, aber es sei für ihn unmöglich gewesen, sie nicht zu begehen, denn er sei dazu berufen gewesen, Gott zu sein.

15. Meines Erachtens gibt es eine überzeugendere Erklärung als diese brillante und tiefe Betrachtung Kierkegaards.

Die Erklärung stützt sich auf das bekannte Gebot Gottes an Adam, das eigentlich ein Verbot ist. Bis zum Augenblick der Prüfung, der Versuchung, stellte das Verbot für ihn keinerlei Problem dar. Das soll heißen, daß er nicht darüber nachgedacht hatte, daß er sich nicht wirklich bewußt war, was es bedeutete. Die Versuchung weckte sein Bewußtsein des Verbots, insofern er nun betroffen war.

Das was der Teufel ihm gesagt hatte, stand wahrhaftig in Beziehung zum Guten und Bösen. Nur ein Gott kennt das Gute und das Böse („ihr werdet sein wie die Götter, wenn ihr das Gute und das Böse kennt"). Aber er betrog ihn gerade in der Beziehung, in der das Verbot mit ihm (mit Adam) als Subjekt stand. Das, was er ihm sagte, ist etwa dies: Gott läßt dich nicht Gott sein und daher, damit du das wirst, wozu du berufen bist, das heißt Gott, mußt du dich distanzieren, die Annahme des Gebots verweigern, Gott mißtrauen, (und Kierkegaard scheint zu glauben, daß der Teufel auch darin die Wahrheit sagte, das heißt, daß dies die wirkliche und einzige Alternative für Adam war.)

Der Teufel erscheint folglich als intelligent und arglistig und weckt die Arglist in Adam. Das menschliche Wesen ist ein Gott, wenn es intelligent ist, und der Teufel stellt die Intelligenz als mißtrauische Arglist dar. Die Arglist geht mit der Gründung des eigenen Ich einher, das sich im Mißtrauen gegenüber dem anderen schafft.

Das Ergebnis ist, daß das Ich, indem es sich als mißtrauendes Ich artikuliert, auch sich selbst mißtraut. Das berühmte egoistische, partikuläre Ich hat auch Angst vor sich selbst und es analysiert sich, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen.

Was wäre geschehen, wenn Adam reflexiv und bewußt das Verbot, das negative Gebot, befolgt hätte (also wenn er den Schritt getan hätte, den Kierkegaard für unmöglich hielt?) Die Antwort dürfte nicht so schwierig sein: Er hätte den Tod seines partikulären Willens als partikulären akzeptiert, er hätte also die Verabsolutierung seines partikulären Willens zurückgewiesen, indem er seine reflexive Reduplikation verhindert hätte.

Indem er den eigenen Tod bewußt gewollt hätte zu Gunsten des Lebens des anderen (denn das Leben des anderen ist der Wille des anderen, in diesem Falle der Wille Gottes), hätte er seinen eigenen Tod überwunden, er wäre Herr seiner selbst geworden, er hätte sich also selbst konstituiert, nicht gegen Gott, sondern gerade in der Annahme Gottes. Das Gottvertrauen hätte ihn als ein auch in sich selbst vertrauendes Ich konstituiert. In der Liebe gibt es keine Furcht. Wenn er das Gebot reflexiv befolgt hätte, hätte er praktisch das Wissen um das Gute erworben und dementsprechend, notwendig und konnotativ, das Wissen um das Böse, das er hätte tun können. Im Gegensatz dazu hat er jedoch durch die Sünde praktisch das Wissen um das Böse erworben und konnotativ das Wissen um das Gute, das er hätte tun können. Daher rührt auch seine Scham, weil er das Gute unterlassen hatte. Er wurde sich bewußt, daß das, was er als partikuläres Wesen – getrennt von Gott – besaß, nichts war: er war nackt.

Wenn ein mißtrauendes und partikuläres Wesen – wie Adam nach dem Sündenfall – eine endlose Existenz besäße, wäre er zu der ungeheuerlichsten Folter verurteilt, nämlich zu der, niemals er selbst sein zu können. Vielleicht sagt die Bibel deswegen, daß er, Adam, nachdem er von der Frucht des Baumes des Guten und des Bösen genossen hatte – das heißt nachdem er einmal zur Ebene des Bewußtseins, zur göttlichen Ebene, emporgestiegen war – sie aber frevelhaft genossen hatte, aus dem Paradies vertrieben werden mußte, damit er nicht auch vom Baum des Lebens äße und unsterblich würde. Was damit gesagt werden soll, ist einfach folgendes: Gott möchte dem Menschen eine ewige Folter ersparen.

Und er verhindert sie dadurch, daß er ihn viel mehr als sonst in die Pflicht nimmt. Wenn es anfangs für Adam, um Gott zu sein, genügt hätte – eine relativ einfache Sache – reflexiv das göttliche Gebot anzunehmen, so „zwingt“ ihn Gott jetzt, Gott zu werden, indem er ihn vor eine noch klarere Negation stellt, nämlich vor die Unvermeidbarkeit des Todes. Den Tod also als ein neuerliches Geschenk, eine neuerliche Lektion der Gottheit zu betrachten, damit wir zu Göttern werden, ist die geeigneteste Methode, um ihn zu verstehen.

16. Für den Tod dankbar sein, ihn annehmen und begreifen bedeutet ihn zu besiegen, das heißt, ihn in das eigene Sein zu integrieren. Eine Negation, die jemand aktiv in sein Sein integriert, kann ihn nicht desintegrieren. Das was sie bewirkt, ist seine Reifung, um seine Vervollkommnung voranzutreiben.

Wenn es folglich jemanden gibt, der imstande ist, dies vollständig zu verwirklichen, dann wird er der repäsentative menschliche Held par excellence sein, derjenige, dem es gelungen ist, den Menschen zu dem Wesen zu machen, das zum Sein berufen ist. Er wird derjenige sein, der beweist, in welchem Maße das Leben Liebe ist und Liebe erfülltes Leben, und daß das erfüllte Leben nur in der Negation seiner selbst als bloß partikuläres Wesen besteht, um sich so der Annahme des anderen zu öffnen. Das Leben überwindet nicht irgendwann den Tod, sondern im liebenden Willen und im wahrhaften Wissen ist es ein permanenter Sieg über den Tod.

Nietzsche begriff nicht, daß beim Herausstellen der Beziehung zwischen Liebe und Tod sowohl Plato als auch das Christentum von nichts anderem redeten als vom Leben.

17. Darum ist von einer Analyse der Bedeutung des Todes für den Menschen her die Behauptung, daß Jesus Christus am Kreuz die Liebe, das heißt das erfüllte Leben in diese Welt gebracht hat, vollkommen kohärent. Man sagt, das Kreuz sei das Absurde und Unbegreifliche. Es müßte eher als die reine Logik betrachtet werden.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Rafael Alvira
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E-31009 Pamplona

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Anthropologie und Bioethik
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