Editorial
Vor fünfzig Jahren, am 10.12.1948, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Dieser nicht zuletzt unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Erdbebens fast einstimmig von den damaligen Mitgliedsstaaten der UNO approbierten ersten internationalen Anerkennung eines Menschenrechtskatalogs gingen während zweier Jahrhunderte lebhafte Auseinandersetzungen in akademischen und praktisch-politischen Kreisen zu diesem Thema voraus.
Man sollte nicht übersehen, daß aus historischer Sicht diese Erklärung wahrscheinlich als ein ganz wichtiger Meilenstein, nicht nur des Jahrhunderts, sondern des Jahrtausends bewertet wird. Wir neigen dazu, vergangene Errungenschaften als so selbstverständlich zu betrachten, daß uns ihre wahre Bedeutung entgeht. Daß wir uns tagsüber und meistens auch während der Nacht auf unseren Straßen aufhalten können, ohne zu riskieren, gewalttätig angegriffen zu werden, ist für uns in Mitteleuropa ebenso selbstverständlich wie die Erwartung, daß wir jeden Tag in der Früh unseren Pkw dort finden werden, wo wir ihn am Vortag geparkt haben oder, daß uns alle medizinischen Fortschritte zur Verfügung stehen werden, falls unser Gesundheitszustand sie benötigt oder, daß wir unsere Vertreter bei der gesetzgebenden Versammlung ungehindert wählen können usw. So selbstverständlich waren diese Rechte bei uns in der Vergangenheit nicht, und vielerorts gelten sie immer noch nicht. Wir brauchen uns nicht auf Reisen in die Ferne zu begeben, sondern es genügt, einen Blick in die Zeitungen zu werfen, um festzustellen, daß nicht weit entfernt von unseren Domizilien, z.B. in Bosnien oder im Kosovo, solche Rechte keine Anerkennung finden.
Wesentlich an dem Konzept der Menschenrechte ist, daß es sich um Rechte handelt, die dem Menschen nicht erst durch staatliche Gewährung verliehen werden, sondern daß er sie von Natur aus besitzt. Wie es in der Präambel der Deklaration von 1948 heißt: „Wurzel dieser Rechte ist die Menschenwürde.“ Es handelt sich also um Rechte, die allen Menschen zuerkannt und von allen Menschen anerkannt werden sollen. Sie sind angeboren, unveräußerlich und unantastbar und erheben daher einen universalen Geltungsanspruch. Sie sind die Grundlage der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens in der Welt. Sie haben den Charakter von Prinzipien, d.h. hinter sie kann nicht mehr weiter zurückgegangen werden. Problematisch in einer pluralistischen, multikulturellen, säkularen, globalisierten Gesellschaft ist allerdings die Begründung bzw. sind die Begründungen der einzelnen Rechte und die Herstellung eines tragbaren Konsenses. Insofern muß die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ mit ihren 30 Artikeln als großartiger Fortschritt der Menschlichkeit in dieser Gesellschaft bezeichnet werden. Das Dokument enthält ein Bekenntnis zu den verschiedenen Rechten, die üblicherweise in drei Gruppen gegliedert werden, nämlich die Freiheits- oder Abwehrrechte (Lebensrecht, Eigentumsrecht, religiöse Freiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung usw.), die politischen Teilnahmerechte (z.B. Wahlrecht) und die sozialen Teilhaberechte (z.B. Recht auf wirtschaftliche und kulturelle Betätigung).
Natürlich zweifeln manche an dem Konzept der Menschenrechte und der Wirksamkeit der Deklarationen, vor allem wenn sie die Doppelzüngigkeit von nicht gerade wenigen Ländern, nicht nur in der dritten oder vierten Welt ins Treffen führen. Nach außen hin bekennen sich diese uneingeschränkt zu den Menschenrechten, die sie innerstaatlich verletzen. Außerdem ist es einfach eine Tatsache, daß noch nie so viele Menschen gewalttätig getötet wurden wie in diesem Jahrhundert. Neulich schätzte die „Neue Züricher Zeitung“ diese Zahl die mit ca. 170 Mio (Abtreibungen und Euthanasie nicht eingerechnet!), d.h. wahrscheinlich mehr als in den 20 Jahrhunderten davor. Andere wiederum meinen, daß – solange die Begründung der Menschenrechte eine offene Frage ist – man mißtrauisch sein muß, denn sie sind und bleiben das Ergebnis eines Konsenses und daher die juristische Kehrseite einer minimalistischen Moral. Tatsächlich läßt sich in der säkularisierten Gesellschaft ein Konsens über gewisse Rechte bilden, die von allen anerkannt werden und anerkannt werden sollen, aber die Begründung dieser Rechte läßt sich nicht aufzwingen; daher bilden die jeweiligen Rechtskataloge den gemeinsamen moralischen Nenner der Gesellschaft, die sie proklamiert. Dieser Mindeststandard universeller Geltung ist aber gerade in der säkularen Gesellschaft besonders wichtig.
Weder der erste noch der zweite Einwand dürften die epochale Bedeutung des Ereignisses vom 10.12.1948 in Frage stellen. In der säkularen Gesellschaft führt kein Weg an dem Konzept der Menschenrechte vorbei und deshalb ist die erste internationale Deklaration, der weitere gefolgt sind, ein Meilenstein. In ihr sind vor allem die Artikel 3 („Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“) und 25 ((1) „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände“. (2) „Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Hilfe und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche und uneheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz“) relevant.
Man muß aber sehen, daß man sich erst am Beginn eines langwierigen Prozesses befindet. Einerseits schreitet die Durchsetzung zumindest mancher Menschenrechte sehr, sehr langsam voran und andererseits scheint der Prozess ernsthaft durch willkürliche Einschränkungen der allgemeinen Geltung der Rechte bedroht. Dies zeigen z.B. die theoretischen und praktisch-politischen, zum Teil schon realisierten Versuche, menschliche Individuen – Ungeborene, Behinderte und alte Menschen – aus dem Geltungsbereich der Menschenrechte auszuschließen. Und dies, obwohl der Artikel 6 der Erklärung, zu der sich alle Länder bekennen, besagt: „Jeder Mensch hat überall Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson“. Wenn der Trend zur Spaltung der Menschen in zwei Gruppen, jene, denen ein Lebensrecht zuerkannt wird, und jene, für die das nicht gilt, nicht gestoppt wird, wird die Menschheit die große Chance einer großartigen zivilisatorischen Wende verpassen und das, was sich als Meilenstein abzeichnet, wird leider zum bedauerlichen Stolperstein werden.
Die Bioethik beschäftigt sich seit ihrer Etablierung als Wissenschaft mit diesem Thema. In dieser Nummer von Imago Hominis wollen wir auch dazu einen Beitrag leisten: Neben einem allgemeinen Aufsatz über die Menschenrechtskonvention von Nadja El Beheiri, wollen wir die Aufmerksamkeit auf die Menschenrechte Behinderter lenken. Rainer Beckmann erläutert die Hintergründe und die Praxis der embryopathischen Indikation in unserem Nachbarland Deutschland, Ruth Reimann kommentiert die Rechtsprechung zum „Kind als Schadensfall“. Im interessanten Diskussionsbeitrag kommt ein Kollege aus den Vereinigten Staaten zu Wort. Stanley Herr ist Professor an der juridischen Fakultät von Maryland und Präsident der renommierten American Association on Mental Retardation. In seinem beruflichen Engagement befaßt sich Herr, abgesehen von den Menschen mit geistiger Behinderung bzw. Lernbehinderung auch mit anderen Gruppen der Gesellschaft, wie etwa den Obdachlosen. Seine Bemühungen zielen darauf ab, eine Verbesserung der Integration in die Gesellschaft zu erwirken, ohne die Meinungen und Bedürfnisse der Betroffenen aus den Augen zu verlieren.
Die Herausgeber