Altern in Würde aus der Sicht älterer Menschen

Imago Hominis (2010); 17(1): 9-15
Wolfgang Kristoferitsch

Zusammenfassung

Abgesehen von theologischen und philosophischen Konzepten zum Begriff Würde besteht die Möglichkeit, mit empirisch-phänomenologischen Untersuchungen Würde zu beschreiben, auch unter Berücksichtigung der Sicht von Betroffenen. Die vorliegende Übersicht versucht bisherige empirische Arbeiten zum Thema „Würde und Alter“ zusammenzufassen. Würde ist mehrheitlich als „Menschenwürde“ definiert. Alte, pflegebedürftige, auch leicht demente Personen beurteilen ihre Würde nach dem Grad und der Art ihrer Unabhängigkeit im Alltag. Es wird u. a. gezeigt, dass diese Personen als selbst Betroffene zur Formulierung von Leitlinien zur Ethik in der Betreuung herangezogen werden können. Nach Gallagher et al. scheinen für die Betroffenen vier Bereiche von vorrangiger Bedeutung zu sein: Fragen der Intimpflege, das Verhalten der BetreuerInnen, die Pflegekultur („Stil“ der Anstalt) und Autonomie, sowie Maßnahmen mit inhärenter Gefährdung der Würde.

Schlüsselwörter: Definitionen von Würde, Pflegebedürftigkeit, Abhängigkeit, Autonomie, Verletzung der Würde

Abstract

We reviewed empirical studies relating to dignity and older people. The aim of the review was to show a concept of dignity, that is not primarily based on theological or philosophical considerations but on the older and affected people’s view. The majority of older people defines dignity as “Menschenwürde”. For older people in need of care or with mild dementia autonomy and control of their situation is of central importance in maintaining dignity. Guidelines on ethics of the care of older people can be inductively derived from the voices of the affected. According to Gallagher et al. privacy in care, appropriate staff attitudes and behaviour, culture of care and autonomy are of great importance for the promotion of dignity.

Keywords: Concept of Dignity, Nursing, Autonomy, Violation of Dignity


Einleitung

Würde kann zunächst als ein Wesensmerkmal des Menschen gesehen werden. Aus christlicher Sicht ist dieses Wesensmerkmal gottgegeben und beruht auf dessen Gottebenbildlichkeit. Würde ist untrennbar mit dem Menschen, unabhängig von seinen Lebensumständen und Verhalten, verbunden. Mit der Aufklärung setzte die Entwicklung einer säkularen Ethik ein, die zunächst überwiegend von der Philosophie Immanuel Kants geprägt wurde. Kant leitet die Würde des Menschen aus seiner Vernunft und seiner Fähigkeit zur vernünftigen (sittlichen) Selbstbestimmung ab und sieht sie als einen „inneren“ Wert an. Beiden Denkrichtungen ist gemeinsam, dass Menschenwürde als Seinsqualität einen Eigenwert besitzt, der nicht der Zustimmung anderer bedarf. Diese Position wurde von anderen säkularen Denkrichtungen nicht in dieser Absolutheit übernommen, die teilweise die Begriffe Würde und Autonomie synonym verwenden und aus dem Verlust der Autonomie auch den Verlust der Würde ableiten. Von manchen Utilitaristen wird Würde nur noch dem Menschen als Person, der seiner selbst mächtig ist, zuerkannt und mit bestimmten Eigenschaften wie Bewusstsein und Interessensfähigkeit verknüpft.

Ein anderer Zugang besteht darin, Würde nicht als Wesensmerkmal des Menschen, sondern als Gestaltungsauftrag, der durch das Individuum und die Gesellschaft zu verwirklichen ist, zu sehen. Demzufolge lässt sich nach Wegfall der traditionellen Metaphysik die Idee der Würde nur noch auf Gesichtspunkten gründen, die ihren Ausgangspunkt bei der menschlichen Bedürftigkeit und Verletzlichkeit haben. Neben dem Gestaltungsauftrag nimmt Würde in dieser Konzeption auch eine Schutzfunktion an.1

Unter den Würdekonzepten der letzten Zeit haben die Überlegungen von Nordenfelt eine größere Bedeutung erlangt.2 Nordenfelt hat vier Dimensionen von Würde konzipiert: zunächst die für alle Menschen gleich geltende und allen Menschen inhärente unveränderbare „Menschenwürde“ (die in seinen auf Englisch publizierten Arbeiten auch mit diesem deutschen Begriff bezeichnet werden), weiters drei Dimensionen von Würde, die veränderlich sein können: die Würde des Verdienstes als Folge von Rang und Verdiensten, die Würde der moralischen Gestalt als Ergebnis der moralischen Leistungen eines Menschen und die Würde der Identität, die an die Integrität des Körpers gebunden ist und auch vom Selbstbild und der Anerkennung einer Person abhängt.3 Andere Kategorisierungen, die nicht wesentlich von diesem Konzept abweichen, sprechen von „Menschenwürde“ und „sozialer Würde“4, „intrinsischer“ und „extrinsischer“ Würde5 oder von „absoluter“ und „relationaler“ Würde.6

Der Begriff Würde ist wegen seiner Unschärfe je nach ideologischer Sicht unterschiedlich gebraucht oder auch missbraucht worden. Dies war vor allem in den Grenzbereichen menschlichen Lebens, dem Lebensanfang und Lebensende, der Fall. Es überrascht daher nicht, dass Menschenwürde sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Euthanasie als Argument für ihren jeweiligen Standpunkt verwendet wurde. Die Unschärfe, mit der der Begriff Würde in medizinethischen Diskussionen eingesetzt wird, seine „inflationäre“ Verwendung und sein Missbrauch als Transportmittel eigener Wünsche oder gesellschaftlicher Trends, haben bereits dazu geführt, dass dieser Begriff von manchen Medizinethikern gemieden und als „nutzloses Konzept“ gänzlich abgelehnt und durch „Respekt vor der Autonomie des Menschen“ ersetzt wurde.7 Dies ist auch nicht Ziel führend, da Respekt letztlich als Mittel zur Erhaltung von Würde dient.8

Im Folgenden soll zunächst versucht werden, Würde nicht auf religiösen oder philosophischen Überlegungen basierend, sondern mit Hilfe der Literatur über empirisch gewonnene Daten zu beschreiben; also aus der Sichtweise der Betroffenen, nämlich älterer Menschen, die sich in Krankenhäusern und Betreuungsinstitutionen befinden, und älterer Menschen mit Demenz.

Würde aus dem Blickwinkel der Betroffenen

Die folgende Übersicht basiert auf Resultaten empirischer Untersuchungen aus der medizinischen Literatur. Die Arbeiten wurden aus einer „Medline“-Suche nach in den letzten zehn Jahren erschienen Publikationen unter Verwendung der Stichwörter „older age and dignity, elderly and dignity, dementia and dignity, Alzheimer and dignity“ ausgewählt sowie aus in diesen Arbeiten zitierter Literatur. Die vorliegende Übersicht erfüllt nicht die Ansprüche eines „systematischen Reviews“. Die Interviewtechniken waren wie zu erwarten nicht einheitlich, und die Auswertung erfolgte nach unterschiedlichen Methoden. Häufig wurde als wissenschaftliche Methode die gegenstandsverankerte Theoriebildung (Grounded Theory) verwendet.

a) Der „Dignity in Care“-Bericht

Als Folge einer Häufung von Medienberichten über Diskriminierung älterer Menschen, Pflegedefizite und Würdelosigkeit in Spitälern und Pflegeinstitutionen in Großbritannien wurde 2006 vom britischen Gesundheitsministerium eine Befragung von 400 Personen zu ihren Vorstellungen und Erfahrungen von Würde in Pflegesituationen durchgeführt.9 Unter den Befragten befanden sich Patienten, Angehörige von Patienten und Personen aus dem Bereich von Medizin und Pflege. Genauere demographische Angaben zu den Befragten wurden nicht veröffentlicht. Trotzdem lässt die Befragung auf die Meinung eines Bevölkerungsquerschnittes zu Würde und würdevollem Umgang mit Patienten schließen. Der Bericht hebt zehn Hauptproblemkreise hervor, die mit einzelnen Stichwörtern und wenigen Patientenaussagen charakterisiert werden:

  1. Klarstellung, was Würde bedeutet
  2. Beschwerdemöglichkeiten
  3. Behandlung als individuelle Personen
  4. Intimsphäre
  5. Hilfe bei Nahrungsaufnahme
  6. Zugang zu Sanitärräumen
  7. Gesprächskultur und Tonfall
  8. Bewahrung eines angemessenen Äußeren
  9. Beschäftigung und Sinnfindung
  10. Rechtsbeistand

Eine Klarstellung, was Würde bedeutet, war den Initiatoren der Befragung auf Grund der Vielfalt der Antworten nicht möglich gewesen. Zu einer Definition des Begriffes Würde wurde daher nicht weiter Stellung genommen. Die zahlreichen Antworten ergaben allerdings wichtige Informationen, mit deren Hilfe eine Hebung der Standards von würdevoller Pflege älterer Menschen in Angriff genommen wurde. Ähnliche oder idente Problemkreise werden sich auch in den im Folgenden beschriebenen empirischen Untersuchungen regelmäßig wiederfinden.

b) Würde aus der Sicht älterer Menschen

Woolhead und Mitarbeiter haben die Vorstellungen, was Würde sei, anhand von Interviews von 72 älteren Menschen untersucht.10 Der überwiegende Anteil (84%) der Betroffenen hat zu Hause oder bei Angehörigen gelebt. Die Ergebnisse spiegeln daher die allgemeine Sichtweise älterer Menschen und nicht die einer speziellen Gruppe (Patienten im Krankenhaus oder Pflegeheim, Patienten mit Demenz etc.) wider. Die Daten zeigen, dass für ältere Menschen die Bewahrung von Würde ein Anliegen von besonderer Bedeutung darstellt. Aus den Interviews geht hervor, dass Würde in drei Kategorien konzeptualisiert wurde: 1. Würde in Zusammenhang mit Identität (Selbstachtung, Selbstwert, Rechtschaffenheit, Vertrauen). 2. Würde in Bezug auf Menschenrechte (Gleichheit, Anspruch auf Menschenrechte) und 3. Würde als Autonomie (Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Wahlfreiheit). Die Würde wird nach Ansicht der Befragten durch den Verlust der Privatsphäre, durch schlechte Kommunikation und durch eine generelle Nichtbeachtung der Bedürfnisse verletzt. Es bestand eine große Sorge, durch den Verlust der Autonomie den Angehörigen oder der Gesellschaft zur Last zu fallen. Beispiele, in denen Würde bedroht waren, wurden weit häufiger genannt als solche, in denen Würde unterstützt und gefördert wurde.

Ähnliche Ergebnisse ließen sich aus Interviews mit 12 älteren schwedischen Ehepaaren ableiten, die nach ihren Vorstellungen zur eigenen Altersbetreuung befragt wurden.11 Auch hier waren die Bewahrung der Eigenständigkeit und der Wunsch nach einer würdevollen Behandlung und Pflege das Hauptanliegen. Immer wieder klang die Befürchtung durch, bei Pflegebedürftigkeit nicht mehr als eigenständige Person gesehen zu werden, verlassen zu werden und als „Niemand“ ohne sinnvolle Beziehungen zu enden.

Jacelon und Mitarbeiter haben aus ihren auf Interviews alter Menschen und einer Literaturübersicht gestützten Untersuchung den Begriff Würde folgendermaßen definiert: Würde ist ein dem Menschen inhärentes Charakteristikum, es kann subjektiv als Attribut des Selbst wahrgenommen werden, und es manifestiert sich in einem Verhalten, das Respekt vor sich selbst und vor den anderen zeigt.12

c) Würde aus der Sicht älterer Menschen in Krankenhaus- oder Langzeitbetreuung

In Interviews von 22 englischen Patienten mit einem Alter von 73 und 83 Jahren, die zu Hause, kurz nach ihrer Entlassung aus einer Spitalsbehandlung, erfolgt sind, wurde die Bewahrung der Unabhängigkeit als eine der wichtigsten Faktoren zur Aufrechterhaltung von Würde angesehen.13 Als weitere Faktoren wurden genannt: Schutz der Intimsphäre, Sauberkeit, Respekt vor dem alten Menschen, einfühlsame und ausreichende Kommunikation. Bei mehreren Untersuchten wurde auch Angst vor einem Verlust von Selbstständigkeit und Autonomie im Falle einer Demenz geäußert.

Selbstständigkeit und Autonomie als Bestandteil der Würde sowie Verlust von Würde durch Nichtbeachtung, durch Probleme in der Konversation und durch Fehlen der Intimsphäre ziehen sich wie ein roter Faden auch durch frühere, auf Interviews basierende Untersuchungen an älteren Menschen.14 Erschreckend sind Hinweise, dass ältere Menschen aus Furcht vor Vergeltungsmassnahmen von Beschwerden Abstand nehmen.15 Eine in mehreren europäischen Staaten durchgeführte Untersuchung an 392 älteren Heimbewohnern und an 424 Pflegepersonen hat aufgezeigt, wie sehr der Kommunikationsstil Würde gefährden, aber auch zur Würde beitragen kann.16 Eine angemessene Anrede, Zuhören, Anbieten von Wahlmöglichkeiten, eine respektvolle Sprache, die Höflichkeit und Privatsphäre berücksichtigt, vermittelten älteren Menschen Selbstwert und Würde. Obwohl sich die Pflegepersonen des Wertes einer guten Kommunikationspraxis bewusst waren, wurde diese doch häufig nicht angewendet. Zeit- und Personalmangel, überbordende Bürokratie und mangelnde Aufmerksamkeit wurden als Hinderungsgrund angegeben.

Auch aus dem deutschen Sprachraum liegen Daten vor. So wurde der Stellenwert von Würde an 20 Bewohnern von 15 Pflegeheimen im Raum Dortmund und München analysiert, wobei die Vorstellungen zu einem würdevollen Lebensende den Schwerpunkt der Interviews darstellten.17 Die Befragten benötigten in einer vierstelligen Skala einen Pflegeaufwand von 0 bis 3 (4 = höchster Pflegeaufwand) und hatten keine Demenz. Aus den Interviews hatte die Autorin Antworten unterschieden, die sich auf eine „intrapersonale“, also in der Person selbst ruhenden Würde von einer solchen, die sich auf eine „relationale“, sich aus sozialen Bezügen ergebenden Würde ableiten. Die intrapersonale Würde wurde von den Bewohnern häufig als von Gott verliehen angesehen, entsprach also einem christlichen Würdebegriff. Eine auf eine säkulare Ethik aufbauende Interpretation konnte aus den Interviews nicht abgeleitet werden. Dies werde sich nach Ansicht der Autorin in der kommenden Generation älterer Menschen ändern. Die relationale Würde basierte überwiegend auf sozialen Netzwerken, die bei Heiminsassen oft nicht mehr vorhanden sind. Krankheiten, die mit einem Angewiesensein auf Pflege einhergehen, wurden für die größte Bedrohung der Würde gehalten. Diese Ansicht basierte auf der Vorstellung, dass die Pflege, die nach Verlust der Selbstständigkeit notwendig werde, mangelhaft sei. Daraus leitete sich die Vorstellung ab, dass ein würdevoller Tod ein „zeitgerechter“ Tod sei, der noch vor Verlust von Selbstständigkeit und Autonomie erhofft wird und auch ein bewusstes „Abschiednehmen unter nahestehenden Personen“ gewährleistet. Der Wunsch den Zeitpunkt des Todes aktiv zu beeinflussen wurde allerdings nicht geäußert. „Anderen nicht zur Last fallen“ war ein Wunsch, der vieles in sich vereinte. Einzelaspekte wie „Würde bis zuletzt bewahren“, „aktiv bleiben bis zuletzt“, „den eigenen Willen respektieren und Sterben zulassen“, „schmerzfrei bleiben“ waren darin inkludiert.

d) Würde aus der Sicht von Menschen mit Demenz

In der medizinischen Literatur finden sich kaum Arbeiten über Würde aus der Sicht von Patienten mit Demenz. Dies ist verständlich, da Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht im Stande sind, sich zu diesem Thema zu äußern. Doch besitzt vieles, das von älteren, nicht dementen Menschen in Betreuungsinstitutionen zur Würde geäußert wurde, auch für ältere Menschen mit Demenz Gültigkeit, da sie aus eigenem Erleben mit den Problemen der an Demenz erkrankter Mitbewohner vertraut waren. Eine der wenigen Untersuchungen, die auf Interviews von Patienten mit früher Alzeimer-Demenz basiert, hatte zum Ziel, aufzuzeigen, wie Erkrankte und deren Angehörige Entscheidungen, die aus ethischer Sicht belastend waren, beschreiben.18 Sowohl die Anerkennung der Würde als ein mit dem Menschsein verbundenes Wesensmerkmal wie auch die Aufrechterhaltung von Identität und Autonomie sind von Patienten und Angehörigen bevorzugt thematisiert worden.

Wenn auch nicht direkt auf Interviews basierend, waren Alzheimer-Patienten bei der Erstellung von „Leitlinien zur Ethik der Betreuung von Menschen mit Alzheimer’scher Erkrankung“ wesentlich beteiligt.19 Diese Leitlinien wurden von einem multiprofessionellen Team, bestehend aus Patienten mit milder Demenz, deren Angehörigen, Personen aus dem Pflegebereich, Ärzten, Ethikern und Juristen, erstellt. Die Basis zu diesen Leitlinien lag aber zuallererst in einer aufmerksamen Beobachtung und Berücksichtigung der Meinungen von Patienten und Angehörigen. Daraus wurden induktiv allgemeine Leitlinien erarbeitet. Aus diesen Leitlinien kann daher ebenfalls, wenn auch nur indirekt, auf die Sicht der Patienten zu Aspekten der Würde rückgeschlossen werden.

Diskussion

Im Folgenden wird der Begriff „Menschenwürde“ im Sinne Nordenfelt’s als ein für alle Menschen gleich geltendes und allen Menschen inhärentes unveränderbares Wesensmerkmal gebraucht werden,20 während andere Dimensionen von Würde verkürzt als Würde der Identität bezeichnet werden.

Ein Großteil der in medizinischen Fachjournalen publizierten empirischen Untersuchungen zur Würde im Alter stammt aus dem angloamerikanischen und skandinavischen Raum. Möglicherweise treffen nicht alle daraus gezogenen Analysen auch für unser Land zu. Dies wird eine ausführliche empirische Untersuchung über „Würde und Autonomie im Kontext geriatrischer Krankenpflege“, die in Österreich derzeit in Ausarbeitung steht, klären.21

Versucht man aus empirischen Untersuchungen die Fülle der Meinungen Betroffener zusammenzufassen, so steht zunächst einmal die Sorge um die Aufrechterhaltung der Würde im Vordergrund. Es ist der Verlust von Identität und Autonomie unter den Bedingungen von Betreuungsinstitutionen, der zunächst als Bedrohung der Würde gesehen wird. Die Studien zeigen, wie dies auch Gallagher und Mitarbeiter analysiert haben, vier Bereiche, die für die Betroffenen allergrößte Bedeutung besitzen.22

  1. Umfeld der Pflege (Verletzungen der Intimsphäre, mangelhafte Waschräume und Toiletten, Zimmer ohne Geschlechtertrennung, Vernachlässigung der Einrichtung).
  2. Verhalten und Einstellung der Betreuungspersonen (Intoleranz, Ungeduld, Bevormundung, Mangel an Respekt).
  3. Pflegekultur (Werte und „Stil“ der Abteilung, Beachtung der Patientenautonomie und Menschenwürde, Berücksichtigung kultureller Unterschiede).
  4. Spezifische Pflegeaktivitäten, die Würde gefährden können (Ernähren, Ankleiden, Baden, Toilettengang, etc.).

Jeder dieser vier Bereiche wird von den Betroffenen zunächst als Bedrohung der Würde der Identität gesehen, die häufig mit dem Verlust der Autonomie einhergeht. („… and you can’t look after yourself, all your private things. You can’t go on your own, I just pray it never happens to me, I just could not tolerate it.”23; “…und das ist für mich ein Grauen, dass ich unter Umständen von morgens bis abends und von abends bis morgens im Bett liegen muss und darauf angewiesen bin, dass jeder Handgriff, der zu meiner Betreuung und Pflege notwendig ist, von einem fremden Menschen gemacht werden muss. Dass ich das alles nicht mehr alleine kann, das ist für mich ein Schrecken. Und ich sage ganz ehrlich, ... wenn ich bete, bete ich auch darum, dass mir das erspart bleibt.”24; „Ja, ja, das ist schlimm, gell. Wenn du den Verstand nicht mehr hast, dann ist man bald nichts mehr wert, gell.“25). Alle vier Bereiche besitzen auch Aspekte der dem Menschen inhärenten „Menschenwürde“. Wenn wir die Benutzer einer Einrichtung als Personen ernst nehmen, werden wir ihre „Menschenwürde“ achten und uns bemühen, die Räumlichkeiten in gutem Zustand zu halten, während Zimmer ohne Geschlechtertrennung eine Verletzung der Identität darstellen. Alte Menschen mit ihren Vornamen oder Kosewörtern anzureden, kann je nach Blickwinkel eine Verletzung der „Menschenwürde“ und eine Verletzung der Würde der Identität sein etc. Von den Betroffenen selbst wurden die Aspekte der allen in gleicher Weise inhärenten „Menschenwürde“ seltener verbalisiert („Dignity is about respect not just ensuring physical dignity. It is about listening patients and valuing them“26; „All people have dignity because they are individuals and a special creation. It is unique to people.”27; „… dass der Mensch trotz seines Alters beachtet wird. Dass man ihn schätzt. Dass man ihn nicht, weil er alt ist, in die Ecke stellt, weil er nicht mehr kann oder weil es nicht mehr geht. … Die Würde, die ist eines der höchsten Güter, die der Mensch hat, möchte ich sagen.“28 Ob die Einstellung „Menschenwürde“ auf einer religiösen oder auf einer säkularen Sicht ruht, geht nur aus wenigen Aussagen der Betroffenen hervor. In den Daten einer Untersuchung aus Deutschland basiert „Menschenwürde“ allerdings mehrheitlich auf dem theologisch begründeten Argument der Gottebenbildlichkeit, wonach jedem Menschen Würde zukommt.29 Daher können Menschen diese Würde auch nicht verlieren, wie im folgenden Zitat hervorgehoben wird: „Als Christ ist meine Würde in Jesus begründet. Die kann mir niemand nehmen, diese Würde, auch wenn er noch so, wenn er noch so bös is’, kann mir keiner nehmen, nich’?“30 Diese Einstellung verleiht der „Menschenwürde “ eine Unantastbarkeit im Gegensatz zur verletzbaren und verlierbaren Würde der Identität. Sie bietet dem Betroffenen somit in allen Situationen eine Schutzzone, aus der heraus er allen Verletzungen der Menschenrechte widerstehen kann. Diese Sicht ist in ihrer Absolutheit nur durch einen theologischen Deutungshorizont verstehbar.

Analysen von Berichten Betroffener ermöglichen eine auf Empirie basierende und induktive Entwicklung des Konzeptes Würde. Anders als bei einem theoretischen und deduktiven Zugang steht das aufmerksame Anhören von Berichten Betroffener am Beginn der Konzeptentwicklung. Die Ergebnisse des induktiv empirisch gefundenen Würdekonzeptes lassen sich gut in theoretische Konzepte von Würde integrieren. Sie besitzen aber gegenüber theoretischen Konzepten den Vorteil, die tatsächlichen ethischen Probleme, denen der Betroffene täglich ausgesetzt ist, schärfer in den Blick zu bekommen. Vor allem sind sie ein brauchbares Instrument, Missachtung und Verletzungen von Würde aufzuzeigen und bewusst zu machen. Empirische Analysen bieten somit auch einen geeigneten Ausgangspunkt zur Beseitigung würdelosen Verhaltens.31 Letztendlich kommen aber in den empirisch angelegten Untersuchungen jene zu Wort, die bisher kaum gehört wurden und die keine eigene Stimme hatten. Auch dies ist ein Wechsel vom Objekt zum Subjekt und zu Wiedererlangung von Würde.

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Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Kristoferitsch
Vorstand der Neurologischen Abteilung mit Department für Akutgeriatrie
Sozialmedizinisches Zentrum Ost, Donauspital
Langobardenstraße 122, A-1220 Wien
Wolfgang.Kristoferitsch(at)wienkav.at

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