Kommentar zur Instruktion der Glaubenskongregation „Dignitas Personae – Über einige Fragen der Bioethik“

Imago Hominis (2009), 16: 14-21
Martin Schlag

„Nichts wirklich Überraschendes“, wäre eine erste oberflächliche Reaktion auf die Lektüre des zu kommentierenden Dokuments.1 Tatsächlich enthält es für jemand, der sich mit der Lehre der Katholischen Kirche zur Bioethik2 und der einschlägigen Literatur dazu3 befasst, kaum etwas Unerwartetes. Trotzdem gilt es einiges hervorzuheben. Ich möchte versuchen, dies in zwei Abschnitten zu tun. Im ersten mache ich allgemeine Aussagen, im zweiten Teil gehe ich auf einige spezielle in Dignitas Personae (DP) aufgeworfene Fragen ein. In der Folge lege ich keine Zusammenfassung von DP vor, sondern kommentiere nur einige Punkte, indem ich die Kenntnis des Dokuments voraussetze.

A. Gesamtwertung

1. als lehramtliches Dokument

DP bezieht sich auf das vor 20 Jahren erschienene Vorläuferdokument der Glaubenskongregation Donum Vitae (1987)4 und bestätigt dessen Lehre: Sie bleibe „unverändert gültig“ (DP 1). Ausdrücklich werden die Prinzipien wiederholt, die zum negativen moralischen Urteil über heterologe und homologe Insemination und jede Form von IVF geführt haben: das Lebensrecht des Menschen vom ersten Augenblick an; das Recht, innerhalb einer Ehe gezeugt und geboren zu werden; die Untrennbarkeit des prokreativen und des unitiven Aspekts der Geschlechtlichkeit. DP unterstreicht, dass es keine Ausnahmen hinsichtlich der Unsittlichkeit dieser Handlungsweisen gibt.

Wiederholung ist im Alltag lästig. Wenn das Lehramt sich jedoch wiederholt, hat das eine besondere Bedeutung. Durch die Wiederholung derselben Lehraussagen durch das authentische Lehramt des Papstes, zu dem DP gehört,5 steigt der Grad an Verbindlichkeit einer Lehre.6 Man kann inzwischen davon ausgehen, dass das negative moralische Urteil über In-Vitro-Fertilisation und Insemination zur beständigen Lehre der Kirche gehört.

2. als moraltheologischer Text

Die Moraltheologie steht vor einer mehrfachen Herausforderung. Beseelt von der Hl. Schrift und auf deren Grundlage,7 trinitarisch strukturiert, soll sie einen nach oben offenen, positiven Weg der frohen Christusnachfolge und der Heiligkeit erschließen8. Ein Dokument, das sich Problemen widmet, die zur Zeit der Entstehung der Bibel unbekannt waren, tut sich schwer, ein biblisches Fundament zu legen. Dennoch gibt es in DP Bibelzitate (vgl. vor allem DP 7), und man spürt die inspirierende Gegenwart der Hl. Schrift im ganzen Text9. DP zitiert außerdem andere Texte des Päpstlichen Lehramts, die sich ihrerseits wiederum auf die Bibel stützen, wie z. B. die Enzyklika Evangelium Vitae (1995), die sich, anders als DP, nicht bloß auf den Beginn des Lebens bezieht, sondern auf das Lebensrecht im Allgemeinen. Andererseits wendet sich DP „an die Gläubigen und an alle wahrheitssuchenden Menschen“ (DP 3). Der Inhalt des Schreibens steht nach kirchlichem Verständnis der reinen Vernunft-erkenntnis offen, seine Einsichten sind nicht konfessionsgebunden. Jedes der moralischen Urteile in DP ist damit prinzipiell mit der bloßen Vernunft, ohne Zuhilfenahme der Hl. Schrift erkennbar. Die Kirche spricht im Namen der Vernunft, die vom Glauben erleuchtet wird.

Der trinitarischen Struktur begegnen wir in DP 7-9. Der Mensch ist in seiner Individualität nicht nur Abbild des einen Gottes, sondern in seiner Relationalität auch Abglanz der Dreifaltigkeit.

Vom Ton und von der Intention her ist DP bejahend und positiv, obwohl der Inhalt sachbedingt überwiegend verbietend und negativ ist – es geht ja eben darum, Missstände aufzuzeigen. Die letzten Nummern des Dokuments unterstreichen jedoch die „axiologische Öffnung“ der sittlichen Verbote: „Die Rechtmäßigkeit jedes Verbots gründet auf der Notwendigkeit, ein echtes sittliches Gut zu schützen.“ (DP 36) „Hinter jedem ‚Nein’ erstrahlt in der Mühe des Unterscheidens zwischen Gut und Böse ein großes ‚Ja’, das die unveräußerliche Würde und den Wert jedes einzelnen unwiederholbaren Menschen anerkennt, der ins Leben gerufen worden ist.“ (DP 37; Hervorhebung im Text).

Als positiv empfindet man auch die Bejahung der Forschung als solcher (DP 3). Der Mensch hat den Auftrag, vernunftgemäß zum Wohl des Menschen in die Schöpfung einzugreifen, deshalb die Aussage, dass die „Künstlichkeit“ eines medizinischen Eingriffs allein nicht ausreicht, um eine Handlung als unsittlich erscheinen zu lassen (DP 12), und der Hinweis auf einen wirklichen Fortschritt im Verständnis und in der Anerkennung des Wertes und der Würde jeder Person.

Für einen moraltheologischen Text fallen die Begründungen in den einzelnen Kapiteln zu kurz aus. Es entspricht dem lehramtlichen Charakter von DP, dass ausführliche Begründungen und weitere Unterscheidungen dem theologischen Studium überlassen werden.

3. Die Personenwürde als Titel

Es ist gewiss kein Zufall, dass DP am 12. Dezember 2008 im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 2008) verlautbart wurde. Mit Absicht wurde auch der Titel des Dokuments der Glaubenskongregation gewählt: Personenwürde, Menschenwürde. Vor 60 Jahren waren Mensch-Tier Hybride, Klonen, die Existenz hunderttausender tiefgefrorener Menschen im Embryonalstadium, Embryonenexperimente, etc. Horrorvisionen, die als Verletzung der Menschenwürde auf allgemeine Ablehnung stießen. Inzwischen sind sie Realität geworden. Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde sind umstritten.10 Umso dringender braucht es eine Klärung, wodurch die unveräußerliche Würde des Menschen verletzt wird. Es fällt auf, dass Benedikt XVI. und auch DP dem Begriff der Menschenwürde nicht die hermeneutische Funktion der Menschenrechtsbegründung zuweisen. Man spricht ja von der Menschenwürde auch als der „materialen Grundnorm“ des Rechts, aus der sich die einzelnen Menschenrechte ableiteten. Benedikt XVI., den DP zitiert,11 zieht für die Begründung der Menschenrechte, so wie es z. B. auch noch bei der Entstehung des Deutschen Grundgesetzes und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte üblich war, nicht die Menschenwürde, sondern das Naturrecht heran. In seiner Ansprache am 10. Dezember 2008 aus Anlass des 60. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederholte Papst Benedikt XVI. schon frühere, ähnliche Gedanken: Die Menschenwürde sei nur dann wirklich gesichert, wenn alle Grundrechte des Menschen anerkannt, geschützt und gefördert werden. Die Kirche habe stets betont, dass die Grundrechte des Menschen eine universale Reichweite hätten, weil sie der menschlichen Natur selbst eingeschrieben seien, obwohl die einzelnen Rechte sicherlich je nach Kultur und Umständen unterschiedlich gewichtet werden. Das Naturrecht sei dem Gewissen des Menschen vom Schöpfer eingeschrieben und daher ein gemeinsamer Nenner aller Menschen und aller Völker; es stelle einen universalen Orientierungspunkt dar, den alle Menschen kennen und auf Grund dessen sich alle Völker verständigen können.12 In DP erscheint die Menschenwürde als allgemeines Instrumentalisierungsverbot, das sich als erstes Prinzip der Gerechtigkeit aus der Anerkennung des Anderen als Menschen ergibt. „Personsein“ und „Würdehaben“ fallen in eins.

4. Mut zur Alternative

Eine eher marginale Aufforderung, die im Text gar nicht besonders hervorgehoben wird, scheint doch eine wichtige allgemeine Aussage zu sein. In DP 13 werden Alternativen zur künstlichen Fortpflanzung angeregt: die Entwicklung der Mikrochirurgie zur Behandlung von Unfruchtbarkeit; die Förderung von Adoptionen; die Verhinderung der Entstehung von Sterilität; das Angebot von Methoden der Fortpflanzungsmedizin, die den Zeugungsakt der Eheleute nicht ersetzen, sondern ihm beistehen. Es ist eine Tatsache, dass große Forschungsmittel aufgebracht werden, um die IVF und verwandte Methoden anzuwenden und zu verbessern, dass hingegen viel zu wenig getan wird, um die Ursachen von Sterilität zu therapieren bzw. (ethisch einwandfreie) Alternativen zur IVF anzubieten. Ehepaare, die ungewollt kinderlos sind und Hilfe suchen, werden viel zu schnell an die IVF-Klinik verwiesen, ohne genügend über mögliche andere Therapien aufgeklärt zu werden. Diese werden meist als unwirksam abgetan.

DP 12 ruft den Grundsatz in Erinnerung, dass ein reproduktionsmedizinischer Eingriff den ehelichen Akt nicht ersetzen darf. Zulässig sind hingegen Techniken, die sich als Hilfe für den ehelichen Akt und seine Fruchtbarkeit erweisen. DP 13 geht nur auf die Möglichkeiten vor dem Geschlechtsakt ein. Offen bleiben also mögliche Hilfestellungen nach dessen Vollzug. Es herrscht unter Moraltheologen Übereinstimmung, dass eine sogenannte „uneigentliche“ homologe Insemination eine solche zulässige Hilfestellung darstellt. Eine „uneigentliche“ homologe Insemination liegt dann vor, wenn der ärztliche Eingriff die Einheit zwischen unitivem und prokreativem Aspekt nicht trennt, sondern dem ehelichen Akt zur Fruchtbarkeit verhilft. Eine solche Methode kann hauptsächlich bei Unfruchtbarkeit des Mannes zum Einsatz kommen. Der eheliche Akt wird normal zwischen den Ehegatten vollzogen, der Same wird jedoch entweder mittels Kondoms zurückbehalten oder aus der Vagina abgesaugt, dann „kapazitiert“ und mittels Insemination, die sofort nach der Kapazitierung (möglichst innerhalb weniger Stunden) erfolgt, wieder eingeführt. Diese Methode kann auch mit einer hormonellen Stimulation der Eierstöcke verbunden werden. Sie hat gute Erfolgsraten von 12,6 bis 21,7 Prozent.13

B. Einzelfragen

1. Das Personsein des Menschen im Embryonalstadium

Die Instruktion Donum Vitae (1987) hat nicht definiert, dass der Mensch im Embryonalstadium Person ist, um sich nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festzulegen. Dennoch hat sie betont, dass es ein inneres Band zwischen der ontologischen Dimension und der Würde des Menschen gibt: „Sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?“, fragt Donum Vitae.14 DP fügt dem hinzu: „Während seines ganzen Lebens, vor und nach seiner Geburt, kann nämlich in der Beschaffenheit des Menschen weder eine Änderung des Wesens noch eine Gradualität des moralischen Wertes behauptet werden: Er ist ganz Mensch und ganz als solcher zu achten. Der menschliche Embryo hat also von Anfang an die Würde, die der Person eigen ist.“ (DP 5). Worin besteht denn nun überhaupt das „Personsein“ des Menschen? Fügt das „Personsein“ dem „Menschsein“ etwas hinzu? Ist es qualitativ etwas anderes? Diese Fragen sind zu verneinen. Das „Personsein“ ist nicht mehr als das „Menschsein“. Es ist nicht etwas, das dem Menschsein „aufgesetzt“ oder von außen von irgendjemand zu irgendeinem Zeitpunkt hinzugefügt würde. Personsein ist die soziale Dimension des Menschseins. Es fügt dem Menschsein als solches nichts hinzu, sondern ist der Ausdruck der Relationalität des Menschen, die Widerspiegelung der Tatsache, dass der Mensch ein ursprüngliches Heimatrecht in der Gemeinschaft der Mitmenschen hat. R. Spaemann formuliert es so: „Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben. Das Einnehmen dieses Platzes beruht nicht auf einer Zuweisung durch andere, die bereits vor uns da waren. Jeder Mensch nimmt diesen Platz als geborenes Mitglied kraft eigenen Rechtes ein. Aber er wird nicht empirisch an diesem Platz vorgefunden, sondern dieser Raum wird überhaupt nur wahrgenommen in der Weise der Anerkennung.“15 Zu sagen, der Mensch als Embryo habe von Anfang an die Würde, die der Person eigen ist, ist gleichbedeutend mit der Aussage, der Embryo sei eine Person, denn Personsein bedeutet eben Würde zu haben.16

2. Pränatale Adoption

Um wenigstens einige der zigtausend kryokonservierten Menschen im Embryonalstadium eine Überlebenschance einzuräumen, wurde von einigen Autoren die Möglichkeit einer „pränatalen Adoption“ vorgeschlagen.17 Ihrer Meinung nach handelt es sich dabei nicht um eine heterologe Technik, um einem unfruchtbaren Paar mit Kinderwunsch zu einem Kind zu verhelfen, sondern um die Rettung eines Kindes, das ohne Übertragung auf eine aufnahmebereite Mutter dem sicheren Tod ausgeliefert wäre. Andere Autoren anerkennen zwar die lobenswerten Motive einer solchen Vorgehensweise, halten sie aber für ethisch problematisch. DP behandelt diese Frage im Zusammenhang mit dem ausnahmslosen Verbot der Kryokonservierung von Menschen im Embryonalstadium. Es lehnt auch die „Speicherung“ von tiefgefrorenen Embryonen für spätere heterologe Übertragungen, Leihmutterschaften und erst recht für Experimente ab. Zur pränatalen Adoption formuliert DP: „… lobenswert in seiner Absicht, menschliches Leben zu achten und zu schützen, enthält jedoch verschiedene Probleme, die den oben aufgezählten (d. h. den heterologen Methoden und der Leihmutterschaft Anm. des Verfassers) nicht unähnlich sind.“ (DP 19) Diese Formulierung ist etwas unklar. Wird damit die pränatale Adoption vom Handlungsobjekt her den in sich und daher ausnahmslos schlechten Handlungen zugeordnet? Oder wird lediglich von ihr abgeraten als einer „problematischen“ Maßnahme? Anders formuliert: Kann Eltern, die vielleicht schon andere Kinder haben und einzig vom Wunsch geleitet sind, das große Unrecht irgendwie wieder gutzumachen, das an den kryokonservierten Menschen im Embryonalstadium begangen wird, der Vorwurf gemacht werden, sie hätten ihrerseits ein grobes Unrecht getan, wenn sich die Mutter mit Zustimmung ihres Ehemannes einen solchen Embryo einpflanzen lässt? Unter der Voraussetzung, dass die persönliche Ablehnung der IVF durch die Eheleute bekannt ist, liegt m. E. im geschilderten Fall nicht das Handlungsobjekt „Leihmutterschaft“ oder „heterologe IVF“ vor. Die Handlung ist hingegen objektiv der Versuch einer Lebensrettung. Was ein Handlungsobjekt ist, ist ja nicht „physisch“ im Sinn eines äußeren Ablaufs zu verstehen, sondern vom handelnden Subjekt her: Es ist der vom Vorsatz erfasste Sachverhalt, insofern er von der praktischen Vernunft als Gut und damit als handlungsleitend erkannt wird. In diesem Fall ist das Handlungsobjekt einzig und allein die Rettung des schon vorhandenen und lebenden Embryos, unabhängig von dessen Zustandekommen, an dem die Eheleute nicht beteiligt sind. Trotzdem kommen Umstände hinzu, die diese Handlungsweise in ihrer Gesamtheit nicht als ratsam erscheinen lassen: die aufgetauten Menschen im Embryonalstadium würden von den implantierenden Ärzten unweigerlich (der gängigen Methode folgend) einer Präimplantationsdiagnostik und damit einer Selektion unterzogen werden; die Rettungsmaßnahme unterstützt das IVF- und Kryokonservierungssystem, indem die Eltern ja die Einrichtungen und Ärzte in Anspruch nehmen müssen, die das Unrecht geschaffen haben; die meisten Ehepaare würden sich wohl von einer solchen Handlungsweise aus psychischen, physischen, finanziellen, etc. Gründen überfordert fühlen. Aus diesen Gründen scheint die pränatale Adoption kein allgemein gangbarer Weg zu sein, obwohl nicht in sich schlecht. Jedenfalls – und das hält DP fest – wird auch hier deutlich, dass die IVF und die Entstehung der hunderttausenden „überzähligen Embryonen“ eine „faktisch irreparable Situation der Ungerechtigkeit“ (DP 19) schaffen.

3. Kryokonservierung von Eizellen

DP 20 verbietet auch die Kryokonservierung von Eizellen: „die Kryokonservierung von Eizellen im Zusammenhang mit dem Prozess der künstlichen Befruchtung (muss) als moralisch unannehmbar betrachtet werden.“ Damit wird nicht gesagt, dass die Kryokonservierung von Eizellen als solche eine ausnahmslos unsittliche Handlung sei. Der Grund hierfür wäre nicht ersichtlich. Eine unbefruchtete Eizelle stellt kein neues menschliches Leben dar, sondern ist eine Keimzelle der Mutter. Sie ist zwar auf Grund ihrer Fruchtbarkeit anders als somatische Zellen, aber dennoch wäre es an sich denkbar und ethisch möglich, sie einzufrieren. Die Aussage von DP ist m. E. so zu verstehen, dass diese Kryokonservierung Teil der IVF und als solche unsittlich ist.

4. Embryonenreduktion

Eine Folge der hormonellen Stimulation bei der Insemination und des multiplen Transfers bei der IVF ist das häufigere Auftreten von Mehrlingsschwangerschaften. Eine Reaktion darauf ist der selektive Embryo- bzw. Fetozid. Dass es sich hier um die Tötung eines Menschen als Mittel zur Rettung eines anderen handelt, bedarf eigentlich keiner weiteren Begründung. Es könnte eingewandt werden, dass auch in diesem Fall, das Objekt der Handlung nicht die Tötung der überzähligen Menschen im Mutterleib ist, sondern die Lebensrettung derjenigen Kinder, die ohne „Reduktion“ der Mehrlingsschwangerschaft sterben würden. Das heißt: Es geht im Extremfall um die Alternative „entweder sterben alle Kinder oder aber es überleben einige, wenn die Tötung der anderen in Kauf genommen wird“. Dieses Argument greift jedoch nicht, denn diese konkrete „Notsituation“ ist ihrerseits von einem handelnden Menschen geschaffen worden. Ich kann die Tötung eines Menschen nicht rechtfertigen oder entschuldigen, wenn ich selbst Schuld bin, dass es zu einer Notsituation kommt (Notwehr, Notstand). Auch hier wird deutlich, dass die IVF als solche zu ausweglosen Unrechtssituationen führen kann und daher zu unterlassen ist.

5. Neuerungen gegenüber Donum Vitae

DP fügt den schon von Donum Vitae (1987) als unsittlich bezeichneten Handlungen weitere hinzu, die in den vergangenen 20 Jahren entstanden bzw. virulent geworden sind.

a) Präimplantationsdiagnostik

Anders als die Diagnose des schon eingenisteten Fötus, die nicht als solche zwingend zu einer Abtreibung führt und daher von Donum Vitae nicht als ausnahmslos unsittlich qualifiziert wurde, ist die Präimplantationsdiagnostik eine qualitative, eugenische Selektion und als solche in sich schlecht.

b) Interzeption und Kontragestion

Schon die Enzyklika Evangelium Vitae (1995) hatte den Begriff der Abtreibung über den traditionellen Begriff des „Schwangerschaftsabbruchs“ hinaus auf alle Formen der vorsätzlichen und direkten Tötung eines menschlichen Geschöpfs in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz definiert.18 DP exemplifiziert dies ausdrücklich: Sowohl die Verhinderung der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter etwa durch die Spirale (Interzeption) als auch die Abtreibung mit chemischen Mitteln (Kontragestion) stellen eine Abtreibung im moralischen Sinn dar.

c) Gentechnologie

DP unterscheidet – wie allgemein üblich – zwischen somatischer Gentechnologie und der Keimbahntherapie. Während gentechnologische Eingriffe in Körperzellen mit streng therapeutischer Zielsetzung prinzipiell sittlich erlaubt sind, ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt sittlich nicht erlaubt, Keimbahntherapie zu betreiben, da das Risiko der Übertragung von Schäden auf die Nachkommenschaft zu groß sei. Außerdem müsste eine solche Keimbahntherapie, um sittlich vertretbar zu sein, ohne Zuhilfenahme der IVF erfolgen. In diesem Kapitel gelingt DP jenes Maß an Unterscheidung, die wir bei der Kryokonservierung von Eizellen vermisst haben.

d) Klonen

Schon die Instruktion Donum Vitae hatte Klonen kurz erwähnt und verurteilt. In der Zwischenzeit hat es bekannte Anlässe gegeben, die eine Befassung mit Klonen nahe legen. DP lehnt Klonen als „biologische Sklaverei“ (DP 29) ab. Klonen ist vom Handlungsobjekt her nicht Fortpflanzung, sondern genetische Kopie. Fortpflanzung bedeutet immer auch Annahme eines Anderen, dessen Gene und Eigenschaften vorerst unbekannt bleiben. Der Nachfahre ist ein Künftiger. Beim Klonen wird hingegen ein Mensch nicht angenommen, sondern es wird ein bestimmter Gensatz hergestellt. Das neue Leben des Klons ist nicht überraschendes Geschenk, sondern Produkt, und stellt daher eine Verletzung der Würde des erzeugten Menschen dar.

e) Stammzelltherapie

Dass Menschen im Embryonalstadium nicht getötet werden dürfen, um embryonale Stammzellen für Forschungszwecke zu gewinnen, ist aus den oben bereits genannten Begründungen klar ersichtlich. Hingegen empfiehlt DP die Forschung mit adulten Stammzellen (DP 32). Auch die Forschung an und mit Stammzellen, die aus dem Nabelschnurblut und aus Geweben von Föten gewonnen wurden, die eines natürlichen Todes gestorben sind, sind gemäß DP 32 zulässig.

Fraglich ist die Zulässigkeit der Verwendung von embryonalen Stammzelllinien, die in ihrem Ursprung auf unerlaubte Weise – das heißt durch Tötung von Menschen im Embryonalstadium – gewonnen wurden, durch Forschungsteams, die nichts mit der Tötung zu tun hatten, sondern das „biologische Material“ im Handel oder durch Zuweisung durch andere Forscherteams oder staatliche Stellen erhalten. Handelt es sich hier um eine unerlaubte Mitwirkung? Die Mitwirkung an einer schlechten Handlung ist jedenfalls immer dann unerlaubt, wenn der Mitwirkende die schlechte Handlung innerlich bejaht und unterstützt (formelle Mitwirkung). Dies steht aber nicht zur Debatte: Es geht um die Frage der materiellen Mitwirkung durch Forscher, die die Tötung des Menschen im Embryonalstadium ablehnen. Eine bloß materielle Mitwirkung ist dann zulässig, wenn die mitwirkende Handlung selbst nicht in sich schlecht ist, die Intention des Mitwirkenden gut und es einen verhältnismäßig schwerwiegenden Grund für die Mitwirkung gibt. Ohne diese Begründungsschritte im Einzelnen durchzugehen, schließt DP in den Punkten 32, 34-35 eine Verwendung von Stammzelllinien aus getöteten Embryonen aus: Es sei eine unerlaubte Mitwirkung am Bösen und rufe Ärgernis hervor. Das Kriterium der völligen Unabhängigkeit zwischen den die embryonalen Stammzelllinien durch Tötung von Embryonen herstellenden Forschungsteams und den an und mit diesen Stammzelllinien forschenden Teams genüge nicht (DP 35). Dieses Kriterium der Unabhängigkeit „genügt nicht, um eine Widersprüchlichkeit im Verhalten jener zu beseitigen, die zwar das von anderen begangene Unrecht nicht gutheißen, aber zugleich für die eigene Arbeit das „biologische Material“ annehmen, das andere durch dieses Unrecht hergestellt haben. Wenn das, was unerlaubt ist, durch Gesetze abgestützt wird, die das gesundheitliche und wissenschaftliche System regeln, muss man sich von den ungerechten Aspekten dieses Systems distanzieren, um nicht den Eindruck einer gewissen Toleranz oder stillschweigenden Akzeptanz von schwer ungerechten Handlungen zu geben. Diese würde nämlich dazu beitragen, die Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar die Zustimmung zu verstärken, mit der einige medizinische und politische Kreise diese Handlungen betrachten.“ (DP 35)19

Dieses Ergebnis von DP ist ethisch durchaus diskutabel, weil es das Ergebnis einer Abwägung ist. Es besteht nämlich kein allgemeiner Grundsatz, dass man nie und unter keinerlei Umständen Vorteile aus einer schlechten Handlung ziehen dürfe. Wenn z. B. eine reiche Tante ermordet wird, darf der am Verbrechen unschuldige Neffe dennoch erben und sich auf sein Erbe freuen, wenn auch die Ursache des Erbfalles ein Verbrechen war. Anders hingegen verhält es sich z. B. bei der Herstellung von Falschgeld: Nicht nur der Fälscher begeht eine Straftat, auch der unschuldige Konsument darf im Geschäftsleben dieses Falschgeld nicht wissentlich benützen, denn auch die Weitergabe und die vorsätzliche Irreführung anderer ist eine in sich schlechte Handlung. Der vorliegende Fall der Stammzelllinien liegt zwischen diesen beiden Beispielen. Gehen wir die einzelnen Begründungsschritte für eine unerlaubte Mitwirkung durch. Die Forschung an Stammzelllinien ist keine in sich schlechte Handlung, denn es werden keine Menschen getötet, sondern es werden aus bereits getöteten Menschen abgeleitete Zellen verwendet. Die Motivation der Forscher ist, solange nichts Gegenteiliges festgestellt wird, als gut vorauszusetzen. Wenn die Handlung dennoch von DP als unzulässig bezeichnet wird, dann – so müssen wir schließen – weil sie unverhältnismäßig ist. Das heißt, es liegen schwerwiegende Gründe vor, die wichtiger sind als das zu erlangende positive Ergebnis. In diesem Fall – so sieht es jedenfalls die Glaubenskongregation – würde durch die Verwendung von aus Stammzelllinien stammendem biologischem Material ein Forschungssystem stillschweigend gutgeheißen, das die vorsätzliche Tötung von Menschen im Embryonalstadium in Kauf nimmt. Das wiederum erregt „Ärgernis“ (DP 32) im moraltheologischen Sinn, d. h. es verleitet andere zum Bösen, was zu unterlassen ist. Mehr noch, Ärzte und Forscher haben die Pflicht, sich schwerem Unrecht zu widersetzen, indem sie aus Gewissensgründen Einspruch erheben. Das Verhältnismäßigkeitsargument ist flexibel, offen für künftige Entwicklungen und ermöglicht eine Abwägung der in der jeweiligen Entscheidungssituation betroffenen Güter. Dies bedeutet zunächst, dass die Aussage von DP 34-35 keine definitive Lehraussage darstellt: Sie ist eine einsichtige und ethisch zutreffende Wertung in der gegenwärtigen Situation. Es kann aber auch jetzt schon gewichtige Umstände geben, in denen die Verwendung des genannten „biologischen Materials“ „sittlich angemessen und gerechtfertigt“ sein kann (so ausdrücklich DP 35).

Die Flexibilität des Verhältnismäßigkeitsarguments erklärt auch, warum DP 35 im vierten Absatz von „abgestuften Verantwortlichkeiten“ spricht. Eltern könnten z. B. bei Gefahr für die Gesundheit der Kinder aus unerlaubten Stammzelllinien gewonnene Impfstoffe für ihre Kinder verwenden, wenn sie zugleich dagegen öffentlich Widerstand leisten und auf eine alternative Herstellungsweise drängen. Das setzt natürlich voraus, dass diese Impfstoffe notwendig sind und es keine Alternative der Herstellung gibt. Hier nimmt die Glaubenskongregation also selbst eine Abwägung vor, die zum gegenteiligen Ergebnis als die allgemeine Ablehnung führt. Dies wurde notwendig, weil in den USA Eltern diese Impfstoffe mit schwerwiegenden Folgen für die Kinder verweigert hatten.

Andererseits darf aber aus dieser Flexibilität das Argument nicht umgekehrt werden nach dem Motto: Wer die Vorteile haben will, soll sich auch die „Hände schmutzig machen“. Es sei „scheinheilig“, in einigen wenigen Fällen die positiven Ergebnisse zu akzeptieren, deren Ursachen aber abzulehnen. Das ist ein ethisch unhaltbares Argument, denn es ist niemals erlaubt, das Böse als Mittel zum guten Zweck zu wollen. Sehr wohl aber ist es erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich gemäß den Regeln der „cooperatio ad malum“, um eines Gutes willen ein Übel zu erdulden.

Schluss

Nach all dem Gesagten scheint doch deutlich geworden zu sein, dass DP ein Dokument ist, das sich nicht an die Stelle der Moraltheologie gesetzt hat, sondern ein lehramtliches Dokument geblieben ist. Mit anderen Worten, es bedarf der Begründung und Kommentierung durch die Wissenschaft. Hoffentlich ist es gelungen, in den vorangegangenen Absätzen einen Beitrag dazu zu leisten.

Am Schluss sei nochmals hervorgehoben, dass es DP um das große „Ja“ geht, das die unveräußerliche Würde eines jeden einzelnen Menschen in allen Phasen seines Lebens in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit anerkennt. Schon Platon hat im achten Buch seiner Politeia in psychologisch scharfsinniger Weise nachgewiesen, dass aus der relativistisch verstandenen Demokratie die ärgste aller Unfreiheiten entsteht, die Tyrannis. In unserer Zeit erleben wir das deutlich an der Entrechtung des ungeborenen Menschen. Ein „laissez-faire“ Liberalismus, der gesellschaftliche Toleranz um den Preis des ethischen Relativismus erlangen will, steht in der akuten Gefahr der Selbstaufhebung. Denn mit allen anderen Werten werden letztlich auch Freiheit und Demokratie, Gleichheit und Würde aller Menschen verhandelbar.

Referenzen

  1. Zu finden unter http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20081208_dignitas-personae_ge.html; in der Folge als DP zitiert.
  2. Vgl. z. B. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre vom 22. 02. 1987 Donum Vitae über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung; Enzyklika von Johannes Paul II. vom 25. 03. 1995 Evangelium Vitae über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens; Katechismus der Katholischen Kirche 2270 ff. und passim; Päpstlicher Rat Iustitia et Pax, Kompendium der Soziallehre, RZ 233, 472 ff., u. a.
  3. Vgl. aus der unüberschaubaren Literatur nur Rodriguez Luño A., Scelti in Cristo per essere santi, Band III, Morale speciale, edusc, Roma (2008), S. 177-281 (er nimmt DP gewissermaßen vorweg); Vial Correa J., Sgreccia E. (Hrsg.), Etica della ricerca biomedica. Per una visione cristiana (Atti della IX Assemblea generale della Pontificia Accademia per la Vita, 24-26 febbraio 2003), Libreria Editrice Vaticana, Vatikan (2004)
  4. http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19870222_respect-for%20human-life_ge.html
  5. Vgl. den Hinweis am Ende von DP, Papst Benedikt XVI. habe die Instruktion gutgeheißen und ihre Veröffentlichung angeordnet.
  6. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 25
  7. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Optatam Totius 16
  8. Vgl. z. B. Melina L., Noriega J. (Hrsg.), Camminare nella luce. Prospettive della teologia morale a partire da Veritatis Splendor, Lateran University Press, Roma (2004); darin besonders Ratzinger J., Il rinnovamento della teologia morale: prospettive del Vaticano II e di Veritatis Splendor, S. 35-45
  9. Ganz im Sinn des Dokuments der Päpstlichen Bibelkommission, Bibel und Moral. Die biblischen Wurzeln des christlichen Handelns, Libreria Editrice Vaticana, Vatikan (2008). In diesem Dokument werden Methoden und Kriterien entwickelt, um auch komplizierte Fragen der Gegenwart aus der Hl. Schrift heraus zu beantworten.
  10. Man bedenke z. B., dass der Schweizer Euthanasieverein „Dignitas“ dasselbe Wort für sich in Anspruch nimmt. Für einen Einblick in die aktuelle Diskussion siehe Requena Meana P., Dignidad y autonomía en la bioética norteamericana, Cuadernos de Bioética (2008); 255 ff.
  11. Vgl. DP, Fußnote 7: Die Menschenrechte haben ihre Grundlage im Naturgesetz, das in das Herz des Menschen eingeschrieben und in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist.
  12. Vgl. Concerto promosso dal Pontificio Consiglio della Giustizia e della Pace, nel 60° anniversario della Dichiarazione universale dei Diritti dell‘uomo, Parole del Santo Padre Benedetto XVI, http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2008/december/documents/hf_ben-xvi_spe_20081210_concerto_it.html
  13. Vgl. Rodriguez Luño A., siehe Ref. 3, S. 226 ff. mit weiterführender Literatur und Quellenangaben
  14. Vgl. Rodriguez Luño A., siehe Ref. 3, Teil I, S. 1
  15. Vgl. Spaemann R., Personen – Versuch über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Klett-Cotta, Stuttgart (1996), S. 193
  16. Vgl. dazu weiterführend Schlag M., Das moralische Gesetz in Evangelium Vitae, Peter Lang, Frankfurt/Main (2000), S. 173 ff.
  17. Vgl. die Übersicht bei Rodriguez Luño A., siehe Ref. 3, S. 240, Fußnoten 162 und 163
  18. Vgl. Evangelium Vitae 58
  19. Im Ergebnis gleich lautend schon Rodriguez Luño A., siehe Ref. 3, S. 240

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