Der Einfluss wissenschaftsexterner Faktoren auf den Fortschritt der „hard sciences“ nach Thomas S. Kuhn

Imago Hominis (2008); 15(1): 11-19
Josef Quitterer

Zusammenfassung

Nach Thomas S. Kuhn spielen wissenschaftsexterne Faktoren in zwei unterschiedlichen Phasen der Wissenschaftsentwicklung eine entscheidende Rolle. Zum einen in der sogenannten „normalwissenschaftlichen“ Arbeit. Dort werden die Mitglieder einer wissenschaftlichen Disziplin durch ein starres Ausbildungsritual und durch einen kleinen Kreis „eingeweihter“ Kollegen und Kolleginnen auf bestimmte Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Arbeit (Paradigma) verpflichtet, die nicht mehr infrage gestellt werden. Zum anderen spielen wissenschaftsexterne Faktoren in der revolutionären Phase der Wissenschaftsentwicklung eine entscheidende Rolle, in welcher sich die Mitglieder einer wissenschaftlichen Disziplin zwischen zwei sich widersprechenden Theorien entscheiden müssen. Die Theorienwahl ist nach Kuhn in dieser Phase durch wissenschaftsinterne Faktoren rational unterbestimmt; dies wird erst durch wissenschaftsexterne Faktoren behoben, die zum einen die Gruppe als Ganze betreffen, zum anderen aber eher in den persönlichen Bereich fallen und von Wissenschaftler zu Wissenschaftler variieren.

Schlüsselwörter: Fortschritt, wissenschaftsextern, Paradigma, Theorienwahl, „scientific community“

Abstract

According to Thomas S. Kuhn extra-scientific factors play a role in two distinct periods of the scientific development. Fist, during the period of “normal science”: Members of a scientific discipline are committed to a certain framework of scientific practice by a rigid education and by a small group of ‘initiates’ who alone can evaluate scientific success. This paradigmatic framework is not questioned during normal science. Second, extra-scientific factors play a decisive role in the “revolutionary” period of scientific development. During this period the members of a scientific discipline have to make a choice between two competing theories. According to Kuhn, theory-choice cannot be fully determined by inner-scientific criteria. A full justification of theory-choice must take into account also extra-scientific conditions, like subjective and social factors.

Keywords: scientific progress, extra-scientific, paradigm, theory-choice, scientific community


Externe Faktoren des „normalen“ wissenschaftlichen Fortschritts

Vor 220 Jahren zeigte sich Immanuel Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft durch das Phänomen des wissenschaftlichen Fortschritts so beeindruckt, dass er dessen Ausbleiben im Bereich der Metaphysik zum Anlass einer Totalreform dieser alten philosophischen Disziplin nahm. Er stellte die erfolgreichen Erkenntniserweiterungen von Mathematik und Naturwissenschaft den beklagenswerten Versuchen der Metaphysik gegenüber, sich als allgemein anerkannte Wissenschaft zu etablieren. Ob eine bestimmte Disziplin den Status einer Wissenschaft beanspruchen kann oder nicht, zeigt sich nach Kant bereits an ihrem äußeren Erscheinungsbild. Mathematik und Naturwissenschaft erscheinen gegenüber der Metaphysik schon deshalb als Wissenschaften im eigentlichen Sinn, da ihre erfolgreiche Arbeit auch nach außen hin sichtbar ist. Denn während die Metaphysik „so bald es zum Zweck kommt, in Stecken gerät, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muss“,1 lässt sich bei den etablierten Wissenschaften ein kontinuierliches Fortschreiten beobachten: „Es scheint beinahe belachenswert, indessen dass jede andre Wissenschaft unaufhörlich fortrückt, sich in dieser [der Metaphysik], die doch die Weisheit selbst sein will,… beständig auf derselben Stelle herumzudrehen, ohne einen Schritt weiter zu kommen.“2

Bereits Kant stellt externe Faktoren für dieses stetige Fortschreiten der bestehenden Wissenschaften fest. Wissenschaftlicher Fortschritt wäre nach Kant nicht denkbar, wenn unter den Vertretern der jeweiligen Disziplin keine Übereinstimmung darüber bestünde, mit welchen Methoden neue Erkenntnisse gewonnen werden können bzw. was als Erkenntniserweiterung angesehen werden darf. Kant sieht also im allgemeinen Konsens sämtlicher Anhänger einer bestimmten Disziplin eine äußere Bedingung für das sichere Fortschreiten einer Wissenschaft: „… wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei,…“3

Ziemlich genau 200 Jahre nach Kant macht der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn den naturwissenschaftlichen Fortschritt ebenfalls zum Gegenstand seiner Analysen und kommt zu einer fast gleichlautenden Situationsbeschreibung. Zwar kann nach Kuhn in den Sozialwissenschaften ebenso wie in den anderen Geisteswissenschaften oder auch in den Künsten eine schöpferische Leistung als Fortschritt bezeichnet werden,4 doch fehlt diesem Fortschreiten eine bestimmte Qualität, um z. B. wie die etablierten Naturwissenschaften ihr Fachgebiet eindeutig als Wissenschaft ausweisen zu können.5 Es handelt sich um eine externe Gegebenheit, die nicht im wissenschaftlichen Theoriensystem selbst, sondern in der Gemeinschaft der mit einem bestimmten Gegenstandsgebiet befassten Wissenschaftler zu suchen ist. Nur dann, wenn die Vertreter einer bestimmten Disziplin in Bezug auf die grundlegenden Fragestellungen ihres Fachgebiets einer Meinung sind, lässt sich eine schöpferische Leistung eindeutig als Fortschritt interpretieren. Wenn dagegen noch Grundlagendiskussionen geführt werden, ist es unmöglich, eine Erkenntniserweiterung als Fortschritt zu werten. So wird zum Beispiel der Fortschritt, den eine bestimmte philosophische Schule bei der Auslegung der kantischen Imperative erzielt, bereits durch die Existenz anderer konkurrierender Schulen in Frage gestellt, welche die Voraussetzungen nicht teilen, von denen aus dieser Fortschritt überhaupt erst als solcher bewertet werden kann: „Wenn wir, wie viele es tun, bezweifeln wollen, dass nichtwissenschaftliche Gebiete Fortschritte machen, so können wir es nicht deshalb tun, weil die einzelnen Schulen keinen aufzuweisen hätten, sondern höchstens aus dem Grund, dass es immer konkurrierende Schulen gibt, von denen jede konstant die Grundlagen der anderen in Frage stellt. Wer beispielsweise behauptet, die Philosophie habe keinen Fortschritt gemacht, will hervorheben, dass es immer noch Aristoteliker gibt, nicht aber, dass der Aristotelismus keinen Fortschritt erfuhr.“6

Gesicherte wissenschaftliche Erkenntniserweiterung kann also nur dort stattfinden, wo bestimmte Leistungen innerhalb eines Fachgebietes nicht mehr zur Disposition stehen7 und Einigkeit darüber besteht, mit welchen Methoden neue Erkenntnisse gewonnen werden können bzw. was überhaupt als Erkenntniserweiterung angesehen werden darf: „Eine wirksame Forschungsarbeit beginnt selten, bevor eine wissenschaftliche Gemeinschaft überzeugt ist, auf Fragen wie die folgenden gesicherte Antworten zu haben: Welches sind die Grundbausteine des Universums? Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein? Welche Fragen können sinnvoll über diese Bausteine gestellt und welche Methoden bei der Suche nach Lösungen angewandt werden? Zumindest bei ausgereiften Wissenschaften sind Antworten auf solche Fragen (oder vollwertiger Ersatz dafür) fest in das Ausbildungsritual eingebettet, welches die Studierenden auf ihre fachliche Tätigkeit vorbereitet und ihnen die Zulassung dafür erteilt.8

Der Dogmatismus der „reifen“ Wissenschaften

Nach Kuhn zeichnet sich „reife“ wissenschaftliche Arbeit also gerade dadurch gegenüber allen anderen Formen wissenschaftlicher Betätigung aus, dass in ihnen bestimmte Voraussetzungen nicht mehr zur Disposition stehen. Kuhn spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer quasi-dogmatischen Verpflichtung, der die Mitglieder einer Forschungsgemeinschaft unterworfen sind.9 Der für den normalen wissenschaftlichen Fortschritt unabdingbare Dogmatismus der reifen Wissenschaften beruht auf der ausbildungsbedingten „Fachblindheit“ der Vertreter der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin. Es ist festzuhalten, dass die quasi-dogmatische Verpflichtung der Vertreter der Wissenschaftsdisziplin auf bestimmte Grundlagen und exemplarische Problemlösungen selbst nicht mehr innerhalb der jeweiligen Wissenschaft begründet werden kann. Vielmehr sind es wissenschaftsexterne Gründe, welche hier eine Rolle spielen. An erster Stelle ist hier die Sozialisation der jungen Wissenschaftler zu nennen. So zeichnet sich das Studium der sogenannten hard sciences vor allem dadurch gegenüber allen anderen Fachrichtungen aus, dass in ihnen bis „auf das allerletzte Stadium der Ausbildung Lehrbücher an die Stelle kreativer wissenschaftlicher Werke treten“.10 Studierende lernen die Mechanik Newtons nicht aus den Schriften des großen Physikers, sondern aus Lehrbüchern, in denen die relevanten Erkenntnisse bereits aufbereitet und vorselektiert wurden. Nach Kuhn handelt es sich bei der Ausbildung junger Physiker um eine starre und enge Schulung, die mit jener im Bereich der orthodoxen Theologie verglichen werden kann. Auch das Berufsleben der Vertreter im Bereich der harten Wissenschaften unterscheidet sich von demjenigen anderer Disziplinen durch externe Faktoren. Nach Kuhn gibt es „keine anderen Berufsgemeinschaften, in welchen die kreative Arbeit eines einzelnen so ausschließlich an andere Mitglieder der Gruppe gerichtet ist und von diesen bewertet wird. […] Gerade weil er nur für einen Kreis von Kollegen arbeitet, also für ein Publikum, das seine Werte und Überzeugungen teilt, kann der Wissenschaftler ein einziges System von Normen und Überzeugungen als gegeben annehmen.“11

Erst innerhalb derartig gesicherter Rahmenbedingungen kann jener kontinuierliche Prozess stattfinden, der heute im Allgemeinen gemeint ist, wenn von wissenschaftlichem Fortschritt die Rede ist.12 Obwohl ein solcher Konsens der Wissenschaftlergemeinschaft in Bezug auf wesentliche Voraussetzungen ihrer Forschungstätigkeit immer zugleich auch den Bereich der zulässigen Fragestellungen und Lösungsmöglichkeiten stark einengt, hat gerade diese Selbstbeschränkung jene „stetige Ausweitung des Umfangs und der Exaktheit wissenschaftlicher Kenntnisse“ zur Folge,13 durch die sich die Erkenntniserweiterung der reifen Wissenschaften gegenüber entsprechenden Phänomenen bei anderen Disziplinen als Fortschritt auszeichnet. Kuhn vergleicht dieses gesicherte Fortschreiten innerhalb feststehender Rahmenbedingungen manchmal mit der Tätigkeit des Rätsellösens.14 Wie im Rätsel sind bei der reifen wissenschaftlichen Tätigkeit die Kriterien vorgegeben, anhand derer sich beurteilen lässt, ob die Erkenntnisleistung des einzelnen Wissenschaftlers tatsächlich die Lösung für eine bestimmte Fragestellung darstellt und damit von allen Vertretern des jeweiligen Fachgebietes als Fortschritt angesehen werden kann. Die Rätselmetapher kennzeichnet so treffend die Wesensmerkmale reifer Wissenschaft, dass sie Kuhn in seiner Auseinandersetzung mit Popper als das Abgrenzungskriterium beschreibt, welches das „Wissenschafttreiben“ „am ehesten von anderen schöpferischen Tätigkeiten unterscheidet“.15

Die von Kuhn genannte quasi-dogmatische Verpflichtung der Mitglieder einer Forschungsgemeinschaft auf die Grundlagen der eigenen Disziplin ermöglicht also dasjenige, was Kuhn „normale wissenschaftliche Arbeit" nennt. Wissenschaftlicher Fortschritt besteht in dieser Phase der Wissenschaftsentwicklung darin, dass zu den vorgegebenen „Rätseln“ die passenden Antworten gefunden werden. Ein Wissenschaftler, der sich mit genau definierten „Rätseln“ beschäftigt, erzielt mit jeder richtigen Lösung einen eindeutig nachweisbaren Fortschritt für sein Fachgebiet. Es handelt sich dabei um sogenannte „erwartete Entdeckungen“. Dies sind neue Erkenntnisse, die deshalb bereits zum Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens von der Wissenschaftlergemeinschaft als Entdeckungen und Errungenschaften wissenschaftlicher Arbeit anerkannt werden, da sie ausgehend von den Voraussetzungen der eigenen reifen Wissenschaft zu erwarten waren und somit eine Bestätigung für die bisherige Forschungspraxis darstellen. Zu dieser Art von Entdeckungen gehören nach Kuhn u. a. „die Entdeckung des Neutrinos, der Radiowellen und der Elemente, die Lücken im periodischen System ausfüllten. Die Existenz aller dieser Gegenstände war vor ihrer Entdeckung theoretisch vorausgesagt worden, und ihre Entdecker wussten daher von Anfang an, wonach sie suchen mussten. Dieses Wissen… lieferte ihnen die Maßstäbe dafür, wann das Ziel erreicht war.16

Paradigmengebundene Forschungsarbeit

Dasjenige, worauf sich die Mitglieder einer Wissenschaftlergemeinschaft gemeinsam verpflichten, wird von Kuhn in seinen frühen Schriften als „Paradigma“ bezeichnet. Ein Paradigma wird im alltäglichen Wissenschaftsbetrieb nie als solches thematisiert. Vielmehr stellt es eine unbegründete, implizite Voraussetzung dar, die jeder einzelnen expliziten Anwendung des betreffenden Theoriensystems zugrunde liegt. Im Normalfall wird es von den Vertretern ein und desselben Fachgebietes nicht in Frage gestellt. Das Paradigma stellt in den normalen Phasen reifer wissenschaftlicher Tätigkeit sozusagen ein nicht mehr weiter hinterfragtes Apriori der Forschungsarbeit dar. Das Paradigma konstituiert sich durch als selbstverständlich geltende Annahmen in Bezug auf die zu beschreibende Wirklichkeit. Die paradigmatischen Elemente eines wissenschaftlichen Theoriensystems unterstehen selbst nicht wie die einzelnen Anwendungen der Theorie, die experimentell überprüft werden können, den diversen Methoden der Verifizierung bzw. Falsifizierung. Der Hauptgrund für diese Stabilität des Paradigmas bzw. der paradigmatischen Elemente eines bestimmten wissenschaftlichen Theoriensystems ist nach Kuhn in der Tatsache zu sehen, dass die Sinnesdaten, die zur Überprüfung bestimmter paradigmatischer Bestandteile herangezogen werden könnten, bereits durch das Paradigma selbst theoretisch ‚verseucht‘ sind. Die Sinnesdaten bilden keine theoretisch neutrale Basis, von der aus das den theoretischen Aussagen zugrunde liegende Paradigma auf seine Wahrheit oder Falschheit hin überprüft werden könnte. Sie sind bereits mit der theoretischen Last desselben Paradigmas versehen, zu dessen Überprüfung sie herangezogen werden – sie sind theoriebeladen.17

Was den Bereich der Wissenschaften angeht, so sind es nach Kuhn nun gerade die jeweils vorherrschenden paradigmatischen Grundstrukturen, durch die das jeweilige Sinnesdatum seine theoretische Ladung erhält. Jedes wissenschaftliche Theoriensystem (bzw. jedes Paradigma) verfügt auf diese Weise gewissermaßen über seine eigenen Sinnesdaten; es gibt aus diesem Grunde auch keine Falsifikation eines bestimmten theoretischen Systems mittels der Sinnesdaten: „Paradigmata können durch normale Wissenschaft überhaupt nicht korrigiert werden. Vielmehr führt die normale Wissenschaft… letztlich nur zum Erkennen von Anomalien und zu Krisen. Und diese werden nicht durch Überlegung und Interpretation, sondern durch ein relativ plötzliches und ungegliedertes Ereignis gleich einem Gestaltwandel beendet. … Kein üblicher Sinn des Ausdrucks ‚Interpretation’ passt zu diesen Eingebungsblitzen, durch die ein neues Paradigma geboren wird. Wenn solche Intuitionen auch von der Erfahrung abhängen – sowohl der anomalen wie der kongruenten –, die dank dem alten Paradigma erworben wurde, sind sie doch nicht logisch oder Punkt um Punkt mit besonderen Bestandteilen dieser Erfahrung verbunden, wie es bei einer Interpretation der Fall wäre. Sie raffen vielmehr ganze Komplexe dieser Erfahrung zusammen und verwandeln sie in das ganz unterschiedliche Bündel von Erfahrungen, das dann Punkt um Punkt mit dem neuen Paradigma und nicht mehr mit dem alten in Beziehung gesetzt wird.“18

So genannte Anomalien – Erkenntnisse, welche zunächst mit dem gerade vorherrschenden Paradigma unvereinbar erscheinen – werden entweder der Unfähigkeit des damit befassten Wissenschaftlers angelastet oder bis auf weiteres zurückgestellt, in der Hoffnung, später eine angemessene Erklärung für sie zu finden.19 Bevor aufgrund der unerwartet aufgetretenen Neuheit die eigenen Grundlagen in Frage gestellt werden, wird zunächst an der Fähigkeit des Wissenschaftlers gezweifelt, dessen Forschungsarbeit zum Auftreten des anomalen Ereignisses geführt hat. Da der betreffende Wissenschaftler nicht in der Lage ist, die erwartete Antwort zu einem bestimmten Forschungsproblem zu finden, sondern statt dessen auf ein unerwartetes Ergebnis stößt, ist er in den Augen der Wissenschaftlergemeinschaft bei seinem Versuch, eine Lösung für das Problem zu finden, gescheitert: „Die Unfähigkeit, eine Lösung zu finden, diskreditiert nur den Wissenschaftler und nicht die Theorie. Hier trifft… das Sprichwort zu: ‚Das ist ein schlechter Zimmermann, der seinem Werkzeug die Schuld gibt.’20 Andere Anomalien, für deren Entstehung nicht so ohne weiteres der Kunstfehler eines Wissenschaftlers verantwortlich gemacht werden kann, werden einfach zurückgestellt in der Hoffnung, im Laufe späterer Forschung für sie eine angemessene Erklärung innerhalb der bestehenden theoretischen Rahmenbedingungen zu finden: „Berichte über erfolgreiche Forschungen besagen gewöhnlich, dass alle Abweichungen außer den auffälligsten und zentralsten im Rahmen der bestehenden Theorie beseitigt werden könnten, wenn man nur Zeit hätte, sich mit ihnen zu beschäftigen.21 In beiden Fällen wird die Auflösung anomaler Phänomene innerhalb des bestehenden Paradigmas erwartet. Somit gibt es zu keinem Zeitpunkt der Theorienentwicklung empirische Evidenz, die aus wissenschaftsinternen Gründen zur Aufgabe eines bestimmten Paradigmas zwingt.

Wissenschaftsexterne Faktoren in wissenschaftlichen „Revolutionen“

Die paradigmengebundene Forschungsarbeit führt nun dazu, dass wissenschaftsexterne Faktoren noch in einer zweiten Phase der Wissenschaftsentwicklung eine entscheidende Rolle spielen – nämlich während des Übergangs von einer älteren wissenschaftlichen Theorie zu einer neueren. Dieser Übergang wird von Kuhn als „wissenschaftliche Revolution“ bezeichnet. Kuhns These der wissenschaftlichen Revolutionen steht in direktem Gegensatz zu einer rein wissenschaftsimmanenten Rekonstruktion des naturwissenschaftlichen Fortschritts, die sich vor allem in den einschlägigen Lehrbüchern der Naturwissenschaften (v. a. der Physik) finden. In den meisten naturwissenschaftlichen Lehrbüchern wird die Abfolge von sich zum Teil gegenseitig widersprechenden Theoriensystemen auf eine unterschiedliche Interpretation gleichbleibender, theoretisch neutraler Sinnesdaten zurückgeführt. An der Basis jeder Theorie stehen demzufolge intersubjektiv zugängliche empirische Daten, und jede Theorie kann aufgrund ihrer mehr oder weniger großen Fähigkeit, dieses Datenmaterial in einen umfassenden Erklärungszusammenhang zu integrieren, im Vergleich zu anderen theoretischen Systemen als höher- oder minderwertig eingestuft werden.22 In dieser Sichtweise ist also ein Vergleich der Leistungsfähigkeit verschiedener, sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte ablösender, Begründungs- und Erklärungssysteme prinzipiell möglich. Der Übergang von einem wissenschaftlichen System zum anderen kann demzufolge rein wissenschaftsimmanent als Fortschritt gewertet werden.

Kuhn wendet sich in seiner These von den wissenschaftlichen Revolutionen gegen den Versuch, die geschichtliche Abfolge von miteinander unvereinbaren wissenschaftlichen Theoriensystemen im Sinne der traditionellen Sichtweise auf eine unterschiedliche Interpretation gleichbleibender, theoretisch neutraler Sinnesdaten zurückzuführen: „Was während einer wissenschaftlichen Revolution geschieht, kann nicht vollständig auf eine neue Interpretation einzelner und stabiler Daten zurückgeführt werden. Zunächst einmal sind die Daten nicht eindeutig stabil. […] Der Wissenschaftler, der sich ein neues Paradigma zueigen macht, ist weniger ein Interpret, als dass er einem gleicht, der Umkehrlinsen trägt. Er steht derselben Konstellation von Objekten gegenüber wie vorher, und obwohl er das weiß, findet er sie doch in vielen ihrer Einzelheiten durch und durch umgewandelt.“23 Es gibt keinen festen Punkt – keine feststehende empirische Basis bzw. kein neutrales Bewertungssystem –, von dem aus die Höher- oder Minderwertigkeit eines bestimmten theoretischen Systems festgestellt werden könnte. Von jedem wissenschaftlichen Paradigma kann auch angesichts zahlreicher anomaler Sachverhalte eine vollständige Erklärung des zu untersuchenden Phänomenbereichs erwartet werden. Deshalb können auch aus einem Vergleich verschiedener zur Wahl stehender Theoriensysteme keine eindeutigen Kriterien gewonnen werden, um daraus eine Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen paradigmatischen Systems als zwingend notwendig abzuleiten. Solchermaßen miteinander unvereinbare theoretische Systeme werden von Kuhn als inkommensurabel bezeichnet: „First, comparisons of successive theories with each other and with the world are never sufficient to dictate theory choice. During the period when actual choices are made, two people fully committed to the values and methods of science, and sharing also what both concede to be data, may nevertheless legitimately differ in their choice of theory. Second, successive theories are incommensurable (which is not the same as incomparable) in the sense that the referents of some of the terms which occur in both are a function of the theory within which those terms appear. There is no neutral language into which both of the theories as well as the relevant data may be translated for purposes of comparison.“24

Die Unmöglichkeit, die Höher- oder Minderwertigkeit eines bestimmten Theoriensystems eindeutig zu begründen, zwingt dazu, die Rationalität des revolutionären bzw. paradigmaübergreifenden wissenschaftlichen Fortschritts auf einer anderen Ebene zu suchen oder den Versuch einer rationalen Erklärung dieses Phänomens überhaupt aufzugeben. Paul Feyerabend zieht aus dem geschilderten Verhältnis der Inkommensurabilität die radikalere Konsequenz: Es gibt keine rationale Begründung des wissenschaftlichen Fortschritts. Verschiedene theoretische Systeme sind absolut gleichwertig - jede noch so absurd scheinende Theorie kann zu neuen Erkenntnissen führen; die Feststellung Feyerabends lautet: „anything goes“.25 Demgegenüber bringt Kuhn wissenschaftsexterne Faktoren ins Spiel, welche die rational unterbestimmte Theorienwahl weiter determinieren. So spielen bei der Theorienwahl außerwissenschaftliche Überzeugungen des Wissenschaftlers eine Rolle, wie persönliche Vorlieben (z. B. ästhetische Gesichtspunkte), philosophische Annahmen, und sogar religiöse Überzeugungen. Auch psychologische Gesichtspunkte spielen eine Rolle; so wird ein risikofreudiger Wissenschaftler eher geneigt sein, eine neue Theorie anzunehmen, als ein ängstlicher. Zudem sind biologische Gegebenheiten zu berücksichtigen: Es sind in der Regel eher jüngere Wissenschaftler, die mit der neuen Theorie arbeiten, während ältere Kollegen länger dem überkommenen Paradigma verhaftet bleiben.26 Ganz entscheidend wird die Theorienwahl letztlich vom Gruppenverhalten mitbestimmt. Aufgrund der oben geschilderten Angewiesenheit des einzelnen Forschers auf die Anerkennung durch einen relativ engen Kreis von Kollegen und Kolleginnen, spielen Gruppenzwänge eine wesentliche Rolle. Im Prozess der Anerkennung einer neuen Theorie muss zunächst ein großes Maß an Überzeugungsarbeit durch jene geleistet werden, welche bereits mit der neuen Theorie arbeiten. Kuhn spricht in diesem Zusammenhang auch von „Überredung“. Da es keinen gemeinsamen wissenschaftsinternen Maßstab gibt, von dem aus die Überlegenheit einer bestimmten Theorie T2 gegenüber einer anderen T1 einwandfrei bewiesen werden könnte, wird sich diese Überzeugungsarbeit notwendigerweise auch des wissenschaftsexternen Alltagswortschatzes bedienen, welcher den Anhängern beider Theorien unabhängig von ihren jeweiligen Paradigmen zur Verfügung steht.27

Dies bedeutet freilich nicht, dass die Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers für oder gegen eine neue Theorie nach Kuhn ausschließlich aufgrund von wissenschaftsexternen Faktoren erfolgt. Für die Theorienwahl sind vielmehr ganz wesentlich auch wissenschaftsinterne Kriterien ausschlaggebend, wie Genauigkeit, Konsistenz, größerer Anwendungsbereich, Einfachheit und Erklärungskraft.28 Jedoch sind diese wissenschaftsimmanenten Kriterien nicht hinreichend, um eine Theorienwahl zu erzwingen. Aufgrund der oben geschilderten paradigmengeleiteten wissenschaftlichen Arbeit besteht für den einzelnen Wissenschaftler immer die Möglichkeit, auch angesichts einer neuen Theorie, die nach wissenschaftsimmanenten Kriterien der älteren Theorie überlegen ist, am überkommenen Theoriensystem festzuhalten. Diese Unterbestimmtheit der Theorienwahl durch wissenschaftsinterne Faktoren wird nach Kuhn erst durch wissenschaftsexterne Faktoren behoben, die zum einen die Gruppe als Ganze betreffen, zum anderen aber eher in den persönlichen Bereich fallen und von Wissenschaftler zu Wissenschaftler variieren.

Anmerkung

Einige Teile des Beitrags entstammen Quitterer J., Kant und die These vom Paradigmenwechsel, Peter Lang, Frankfurt/Main (1996)

Referenzen

  1. Kant I., Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (1902 ff.) Bd. III, S. 22
  2. Kant I., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (1902 ff.) Bd. IV, S. 256
  3. Kant I., Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (1902 ff.) Bd. III, S. 22
  4. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main. (1970), S. 173 f.
  5. Kuhn T. S., Bemerkungen zu meinen Kritikern, in: Lakatos I., Musgrave A., Kritik und Erkenntnisfortschritt, Vieweg, Braunschweig (1974), S. 223-269
  6. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S 174 f.
  7. Vgl. dazu u. a. Kuhn T. S., The Function of Dogma in Scientific Research, in: Crombie A. C., Historical Studies in the Intellectual, Social and Technical Conditions for Scientific Discovery and Technical Invention, from Antiquity to the Present, London (1963), S. 347-369: „... what Newton had done need not be done again, Lagrange was not tempted to fundamental reinterpretations of nature. Instead, he could take up where the men who shared his Newtonian paradigm had left off, striving both for neater formulations of that paradigm and for an articulation that would bring it into closer and closer agreement with observations of nature. That sort of work is undertaken only by those who feel that the model they have chosen is entirely secure. There is nothing quite like it in the arts, and the parallels in the social sciences are at best partial.“
  8. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main. (1970), S. 19
  9. Vom „Dogmatismus einer reifen Wissenschaft“ bzw. vom „wissenschaftlichen Dogmatismus“ spricht Kuhn in Kuhn T. S., The Function of Dogma in Scientific Research, in: Crombie A. C., Historical Studies in the Intellectual, Social and Technical Conditions for Scientific Discovery and Technical Invention, from Antiquity to the Present, London (1963), S. 347-369.
  10. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 177
  11. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 175
  12. Vgl. Kuhn T S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Krüger L. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main (1988), S. 325/Anm. 3 und ebd., S. 315 f.: „… aus der Geschichte geht recht klar hervor, dass man zwar Naturwissenschaft – ebenso wie Philosophie, Kunst oder Politikwissenschaft – ohne stabilen Konsens treiben kann, dass aber dieses flexiblere Tun nicht zu jenem raschen und folgenreichen wissenschaftlichen Fortschritt führt, den wir aus den letzten Jahrhunderten gewohnt sind.“
  13. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 65
  14. Vgl. Kuhn T. S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Krüger L. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main (1988), S. 317 f., Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), Kap. IV und v. a. ebd., S. 177 f.: „In ihrem normalen Zustand ist also eine wissenschaftliche Gemeinschaft ein immens wirksames Instrument für die Lösung der Probleme und Rätsel, die ihr Paradigma definiert. Außerdem muss das Ergebnis der Lösung dieser Probleme zwangsläufig Fortschritt bedeuten.“
  15. Kuhn T. S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Krüger L. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main (1988), S. 360
  16. Kuhn T. S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Krüger L. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main (1988), S. 240 f.
  17. Kuhn folgt in diesem Punkt der Argumentation N. R. Hansons. Danach ist unter der theoretischen Ladung des sinnlich Gegebenen ein theoretischer Gehalt der Empfindungen gemeint, welcher als integraler Bestandteil zum Ganzen einer bestimmten Wissenssituation gehört und von daher seine einheitliche Struktur empfängt; vgl. dazu Hanson N. R., Patterns of Discovery, Cambridge University Press: Cambridge/Mass. (1958), S. 20; vgl. dazu auch ebd., S. 25: “… the concept of seeing embraces the concepts of visual sensation and of knowledge … There is a ‚linguistic’ factor in seeing…“
  18. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a. M. (1970), S. 134f; vgl. dazu auch Hanson N. R., Patterns of Discovery, Cambridge/Mass. (1958), S. 25: „... Yet the system is true in such a way that the idea of evidence which would falsify its laws often cannot be formed.“
  19. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 90 f. u. S. 158
  20. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 93
  21. Kuhn T. S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Krüger L. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main (1988), S. 320
  22. Die in den Lehrbüchern der Physik implizit vertretene klassische Sichtweise der Theoriendynamik wird systematisch zusammengefasst in: Nagel E., The Structure of Science. Problems in the Logic of Scientific Explanation, Harcourt Brace, New York (1961), Kap. 5-7
  23. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 133 f.
  24. Kuhn T. S., Metaphor in Science, in: Ortony A., Metaphor and Thought, Cambridge University Press, Cambridge (1979), S. 409-419, S. 416
  25. Feyerabend P., Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Suhrkamp: Frankfurt/Main (1986), Kap. 1
  26. Hoyningen-Huene P., Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, Vieweg, Braunschweig (1989), S. 151 f.
  27. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1970), S. 211 f.
  28. Hoyningen-Huene P., Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, Vieweg, Braunschweig (1989), S. 149 f.

Anschrift des Autors:

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