Fallbericht: Behandlungsabbruch beim Patienten K.
Patient K., geb. 1931, kommt wegen Gewichtsverlust von 10 kg innerhalb eines Jahres, Brechreiz, Schluckbeschwerden, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Mattigkeit zur Aufnahme an die chirurgische Abteilung. Der Patient kann flüssig und breiig essen und trinken, ist 1,75 m groß, 67 kg, reduzierter Ernährungszustand.
Bei der Durchuntersuchung findet sich ein tiefsitzendes Oesophaguskarzinom, das bei 37 cm von der Zahnreihe beginnt und bis 52 cm knapp an die Cardia reicht. Die Stenose ist mit dem Gastroskop durchgängig. Weiters findet sich eine große Raumforderung im mittleren Bereich der rechten Niere (Verdacht auf Hypernephrom) und der Vd. einer soliden Lebermetastase (CT, US, i.v.P.). Die Chirurgen klären den Patienten über die Schwierigkeit der Operation und die möglichen Komplikationen auf. Dennoch beharrt der Patient auf seinem Wunsch operiert zu werden. Der Internist wird bezüglich der OP-Freigabe konsultiert. Er stellt eine schwere obstruktive Atemwegserkrankung fest (pO2 50 mm Hg, pCO2 46 mm Hg). Anamnestisch rezidivierende Pneumonien. Die OP-Freigabe wird nicht gegeben. Der Patient wird zur Behandlung der COPD auf die interne Abteilung übernommen. Trotz intensiver Therapie kann jedoch keine Besserung des pulmonalen Zustandes erreicht werden. Die Internisten informieren den Patienten über das extrem hohe Operationsrisiko. Sie sagen dem Patienten auch, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit die Operation nicht überleben wird, bzw. daß er zumindest nach der Operation mit einer Reihe von Komplikationen zu rechnen habe, so daß es ihm nachher möglicherweise noch schlechter geht als vorher. Insbesondere sei auch nicht gesichert, daß der Patient nach der Operation vom Tumor geheilt sein wird (Verdacht auf Metastasen bei Nierentumor). Als Alternative bietet man dem Patienten die Setzung eines Maschendrahtstents an, sobald ernstliche Beschwerden auftreten. Der Patient besteht jedoch auf eine Operation. Lieber würde er sterben als in einem so jämmerlichen Zustand langsam zugrunde gehen. Daraufhin wird der Patient noch künstlich ernährt, um das Operationsrisiko wenigstens von dieser Seite möglichst gering zu halten. Zwischenzeitlich tritt neuerlich eine bronchopneumonische Infiltration mit Fieber auf, die antibiotisch erfolgreich behandelt wird. Der Patient drängt weiterhin unbeirrt auf die Operation. 6 Wochen nach der Aufnahme wird der Patient schließlich unter schweren internistischen Vorbehalten zur Operation freigegeben. Die Operation verläuft problemlos. Totale Oesophagektomie, Magendurchzug. Histologie: Plattenepithel-CA des Oesophagus, Stad. IIA, pNO, MO,G2. PE des Nierentumors: chronisch entzündlicher hyalinoider fibrinogener Prozeß, für Bösartigkeit kein Anhaltspunkt. Leber und Milz frei. Der postoperative Verlauf ist zunächst relativ zufriedenstellend. Der Patient kann bereits am 2. postoperativen Tag extubiert werden. pO2 50 mm Hg, pCO2 47 mm Hg, Herz-Lungen-Röntgen unauffällig, Kreislauf stabil.
Nach 1 Woche Fieberanstieg bis 39°. Im Herz-Lungen-Röntgen Verdacht auf Aspirationspneumonie. Im Kontrastmittelröntgen Dehiszenz im Bereich der collaren Anastomose. Bestätigung durch CT. Kultur des Bronchialsekrets zunächst negativ. Dem Patienten geht es zunehmend schlechter (Rhythmusstörungen; Oligurie, Thrombopenie). Am 17. postoperativen Tag Platzbauch, RR-Abfall, Herzrhythmusstörungen, Diurese sistiert, Blutgase deutlich verschlechtert, Facialisparese – Verdacht auf Insult: Schocktherapie, bronchoskopische Absaugung – Besserung. Operation des Platzbauches – postoperativ geht es dem Patienten zunächst gut. 5 Stunden nach der Operation Nachblutung. Notoperation (subcutane Blutung). Postoperativ ist der Patient schockiert, Thrombozytenabfall auf 25.000, pO2 30 mm Hg, RR 70/50, Nierenversagen, kein Harn. Der Patient ist moribund. Fieber 39,5°, Sepsis, Verbrauchskoagulopathie, Multiorganversagen. Der diensthabende Arzt entscheidet, wegen infauster Prognose nicht mehr zu intubieren, sondern den Patienten in Ruhe sterben zu lassen. Kurz darauf kommt der Operateur und veranlaßt in Abwesenheit des diensthabenden Arztes eine Intubation und maschinelle Beatmung.
Daraufhin Konsilium: Chirurgen, Internisten, Anaesthesisten. Aus der Sicht des Internisten ist eine weitere Therapie sinnlos. Wegen des Multiorganversagens, der Dehiszenz der Anastomose sowie der schweren COPD ist die Prognose infaust. Außerdem bestünden bei dem Patienten Zeichen eines cerebralen Insultes mit Vd. auf intrakranielle Blutung. Andererseits sind Chirurgen und Anaesthesisten der Auffassung, daß man den Patienten weiter behandeln sollte. Das bedeutet: künstliche Beatmung, Schocktherapie, Katecholamine, Blutkonserven, Blutplasma, Humanalbumin. Intensive Betreuung des Patienten von 2 Schwestern und 1 Arzt rund um die Uhr. In den folgenden Tagen leichte Besserung, Nierenfunktion kommt wieder in Gang. Er bekommt insgesamt ca. 25 Blutkonserven, 40 Albumininfusionen und 15 Oktaplas-Infusionen. Der Patient wird aber vollständig hemiplegisch. Es werden in den folgenden 3 Wochen ca. 30 Lungenröntgen angefertigt, laufende Laborkontrollen mehrmals täglich, parenterale Ernährung, regelmäßig Bronchial-Lavagen, intensives Kreislaufmonitoring, usw. Trotzdem treten immer wieder anurische Phasen, Blutdruckabfälle auf, Thrombopenie, pO2 trotz O2-Beatmung nie über 50 mm Hg.
Der Patient ist letztlich tief bewußtlos, nicht mehr aufweckbar, es treten immer wieder schwere kardiale Rhythmusstörungen auf (Torsade de point), Elektrolytentgleisungen, galliges Sekret aus dem Laschendrain der Dehiszenz. Im Cor/Pulmo Röntgen keine Besserung der pneumonischen Infiltrate, zuletzt im Bronchialsekret massenhaft Pseudomonas. Die antibiotische Therapie wird daraufhin umgestellt, dennoch fiebert der Patient weiter. Es entwickelt sich eine exzessive Hypernatriämie, für die keine Erklärung zu finden ist (cerebral bedingt?). Schließlich treten Schleimhautblutungen aus dem Mund auf.
Am 20. Tag nach der Notoperation ist der Patient tief bewußtlos, reagiert nicht mehr auf Schmerzreize; pCO2 unter SIMV-Beatmung um 60 mm Hg, Fieber.
Auf der Allgemeinstation bekommt ein 70-jähriger Patient einen Schlaganfall mit Hemiparese. Die Internisten wollen den Patienten dringend auf die Intensivstation verlegen. Dort sind jedoch alle Betten mit schweren Fällen belegt. Es wird vorgeschlagen, den moribunden Patienten K. zu extubieren und auf der Normalstation in Ruhe sterben zu lassen. Dies wird von den Chirurgen und Anaesthesisten abgelehnt mit dem Argument, man würde durch die Extubation den Patienten K. umbringen. Die Internisten wehren sich gegen diese Behauptung mit dem Argument, daß die Intubation schon primär nicht indiziert gewesen sei. Auf jeden Fall habe der Patient nach 3-wöchiger Extrembehandlung keinerlei Besserung erfahren und die Prognose sei nach wie vor infaust. Weiters habe der Patient selbst mehrmals und ausdrücklich betont, daß er unter intensivmedizinischen Bedingungen keinesfalls weiterleben möchte. Er sei nun schwer hirngeschädigt, halbseitig gelähmt und würde im Falle eines Überlebens kaum mehr zu Bewußtsein kommen und keinesfalls mehr normal essen können (Dehiszenz der Anastomose). Auf der anderen Seite stehe der Schlaganfall-Patient, der dringend eine adaequate Therapie benötigt und gute Chancen für eine Rehabilitation hätte.
Dennoch können sich die Chirurgen und Anaesthesisten nicht entschließen, die Beatmungsmaschine abzuschalten. So wird ein anderer chrirugischer Patient von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt und der Patient mit dem Schlaganfall auf der Intensivstation übernommen.
Zwei Tage später stirbt der Patient K. an einem cardiopulmonalen Versagen. Bei der Obduktion steht eine massive intracerebrale Blutung im Vordergrund. Weiters eine diffuse beidseitige Pneumonie.