Stehen uns bald künstliche Menschen ins Haus? Neues aus der Stammzellforschung

Imago Hominis (2023); 30(3): 156-163
Paul Cullen

Einleitung

Die Befruchtung im Reagenzglas, die inzwischen zur Routine gehört, stößt an ihre Grenzen. Auch nach mehr als 40 Jahren liegt die „Baby Take Home Rate“, also der Anteil der Paare, die ein Kind mit nach Hause nehmen, insgesamt bei etwa 20%, bei Frauen über 35 Jahren auch darunter und bei Frauen über 40 Jahren (eine Hauptzielgruppe) bei kaum 5%.1 Dazu wird eine Vielzahl von Wünschen an die Reproduktionsmedizin herangetragen, von der Herstellung von Mensch/Tier-Chimären zwecks Züchtung von Organen für die Transplantation2 über das Ausselektieren unerwünschter bzw. Selektieren gewünschter genetischer Charakteristika mittels der Genchirurgie CRISPR3, bis hin zum Wunsch von Menschen in homosexuellen Beziehungen, genetische Nachkommen zu erzeugen4. Auch erwähnen muss man das militärische Interesse an solchen Technologien5 sowie den Wunsch aus manchen vermögenden Kreisen, eigene ‚Organersatzlager‘ oder gar ‚Klone‘ von sich selbst ‚herstellen‘ zu können.6

Die vorderste Front der reproduktionsmedizinischen Forschung wird heute aber durch Versuche dargestellt, Embryonen ganz ohne die Verwendung von Gameten (Spermium und Eizelle) zu erzeugen sowie durch die Bemühung, beide solcher Gameten durch genetische Umprogrammierung gewöhnlicher Körperzellen herzustellen, und zwar unabhängig vom Geschlecht der Person, von der die Körperzellen stammen. Solche Versuche haben im Juni 2023 die Medien weltweit beherrscht.7

Im Folgenden werde ich versuchen, diese Forschung zu erklären und biologisch einzuordnen. Zum Schluss werde ich mich an eine erste ethische und moralische Bewertung sowie an eine Abschätzung der weiteren Entwicklung dieser Versuche heranwagen.

Ein mediales Feuerwerk um den ‚künstlichen Embryo‘

Am 14. Juni 2023 hielt Magdalena Žernicka-Goetz, Professorin für Embryonalentwicklung und Stammzellforschung an der Universität von Cambridge in England und gleichzeitig Professorin für Biologie und Biotechnik am Institut für Technologie in Kalifornien (Caltech), bei einer Veranstaltung der Internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung ISSCR einen 25-minütigen Plenarvortrag im Ballroom des Boston Convention and Exhibition Center mit dem Titel: “Building embryo models from stem cells to understand self-organization.”8 In diesem prestigeträchtigen “Presidential Symposium”, gesponsert von der Firma Blue Rock Therapeutics aus Cambridge im Bundesstaat Massachusetts USA, wurden menschliche Embryomodelle vorgestellt, die allein aus Stammzellen (also ohne die Verwendung von Eizellen oder Spermien) hergestellt wurden. Wie die Wissenschaftsjournalistin Hanna Devlin von der britischen Zeitung Guardian bereits 50 Minuten später online zu berichten wusste, handelte es sich hierbei um einen “groundbreaking advance”, also um einen bahnbrechenden Fortschritt in der Stammzellforschung. Hierbei gehe es um „Strukturen ohne ein schlagendes Herz oder auch nur Ansätze eines Gehirns, aber mit Zellen, die sich typischerweise zum Mutterkuchen, Dottersack und Embryo entwickeln würden“9. Weitere Informationen waren zunächst nicht zu finden. Weder war der Vortrag online abrufbar noch war die dort vorgestellte Forschung publiziert.

Dieses Fehlen an Hintergrundinformation hat jedoch die Wirkung der Meldung keinesfalls geschmälert, sondern eher gesteigert. Diese ging in Windeseile um die Welt und führte zu einer atemlosen Sofort-Debatte, wie mit den neuen „synthetischen Menschen“ umzugehen sei. Denn der Gruppe um Žernicka-Goetz war im Jahr 2022 gelungen, aus Maus-Stammzellen embryonenähnliche Gebilde mit einem Verdauungsstrakt, einem Gehirn und einem schlagenden Herzen zu entwickeln, die mit einem Lebensalter von 8,5 Tagen bereits fast die Hälfte der Maus-Schwangerschafts-Zeit von 19 Tagen hinter sich gebracht hatten.10

Kurz nach der Meldung im Guardian über die Arbeit von Frau Žernicka-Goetz hat ihr Hauptkonkurrent, die Gruppe um Jacob Hanna am Weizmann-Institut in Rehovot (Israel), ähnliche Befunde in einer 56-seitigen Arbeit nebst 27 Seiten voll Abbildungen auf den Preprint-Server bioRχiv (ausgeprochen „Bio-Archiv“) hochgeladen.11 Am nächsten Tag folgte dann die Veröffentlichung der Arbeit von Žernicka-Goetz in einer ähnlichen Länge von 51 Seiten auf derselben Plattform.12 Dass man Manuskripte in dieser Länge und Komplexität quasi über Nacht anfertigen und dann veröffentlichen kann, etwa um Führerschaft in einem bestimmten Feld zu demonstrieren, ist ausgeschlossen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Hochladen dieser Manuskripte, sowie der Artikel im Guardian und der Vortrag von Frau Žernicka-Goetz selbst, Teile einer abgestimmten Veröffentlichungsstrategie waren, um maximale Aufmerksamkeit für die entsprechenden Ergebnisse zu erzielen.

Die Embryomodelle von Magdalena Žernicka-Goetz und Jacob Hanna

Bei der Befruchtung im Reagenzglas beim Menschen wird der Embryo nach drei bis fünf Tagen in die Gebärmutter der Frau eingesetzt, die das Kind austragen soll.

Zu diesem Zeitpunkt bildet der Embryo eine hohle kugelförmige Struktur, die als Blastozyste bezeichnet wird. Eine Blastozyste ist ein bis zwei Zehntelmillimeter im Durchmesser und enthält zwischen zwei und dreihundert Zellen. Die äußere Schicht der Blastozyste, der sogenannte Trophoektoderm, wird später den Mutterkuchen bilden. Innerhalb der Blastozyste befindet sich eine innere Zellmasse, aus der sich später das Kind entwickeln wird. Etwa zwei Tage nach der Einnistung teilt sich die innere Zellmasse in zwei Schichten, eine äußere mit dem Namen Epiblast und eine innere mit dem Namen Hypoblast. Aus dem Epiblast geht später der eigentliche Embryo und später das Kind hervor, während das Hypoblast zum sogenannten Dottersack wird.

Ein großes Problem für die Erforschung von menschlichen Embryonen stellte bisher die Tatsache dar, dass es aus technischen und ethischen Gründen schwierig ist, die Schritte rund um die Einnistung zu untersuchen.13 Aber Embryonen, die nicht implantiert werden, entwickeln sich nach etwa dem zehnten Tag nicht weiter, sondern versterben.

Ein großes Ziel stellt daher die Entwicklung von Embryomodellen in der Petrischale dar, die sich so verhalten, als ob sie in der Gebärmutter eingenistet wären und die Entwicklungsschritte durchmachen, die auf die Blastozystenphase folgen. Ein Hauptmerkmal dieser Phase ist die Bildung von Hypoblast und Epiblast sowie die Ausdifferenzierung weiterer Komponenten des Embryos – wie etwa das Amnion (auch Schafshaut genannt), das später das Kind umhüllen wird – und zukünftige Keimzellen.

Sowohl der Gruppe um Žernicka-Goetz als auch jener um Jacob Hanna ist nach den Pre-Prints14 zu urteilen dieses Ziel nun anscheinend gelungen, wenn auch auf unterschiedlichen technischen Wegen. Um ihre Embryomodelle zu generieren, haben Žernicka-Goetz und Kollegen drei verschiedenen Zelltypen gemischt. Bei den ersten beiden Zelltypen handelte es sich um sogenannte pluripotente Zelllinien, die man mittels Genmanipulation hergestellt hat. Der dritte Zelltyp bestand dagegen aus Stammzellen, die aus ‚gespendeten‘ menschlichen Embryonen gewonnen wurden. Hanna und Kollegen haben einen anderen Weg gewählt. Sie haben auf existierende embryonale Stammzelllinien zurückgegriffen, die mittels ausgeklügelter Versuche durch Aktivierung bestimmter Gene in den Zellen in die drei Hauptrichtungen Trophoblast, Epiblast und Hypoblast gesteuert wurden. Diese drei Zelllinien wurden dann zusammengeführt, um das Embryomodell zu bilden. Im Gegensatz zum Modell von Žernicka-Goetz mussten Hanna und Kollegen ihren Stammzellen keine externen Gene zufügen, sondern nur einige in den Zellen bereits vorhandene Gene zur Expression bringen.

Mit diesen Versuchen sind Margareta Žernicka-Goetz und Jacob Hanna zweifellos in der Erforschung der Entwicklung des menschlichen Embryos einen großen Schritt weiter gekommen. Nun können sie, wie Žernicka-Goetz betont, “cross-talk”, also die Kommunikation zwischen den Zellen des Embryos, besser untersuchen. Der menschliche Embryo ist ein selbstorganisierendes System. Daher muss man davon ausgehen, dass sich bei günstigen Ausgangsbedingungen in der Folge Organe wie etwa das Herz oder das Gehirn ‚von alleine‘, also ohne weitere Manipulation von außen, ausbilden.

Eine solche sogenannte Organogenese ist bei Mausembryonen wie oben ausgeführt außerhalb der Gebärmutter bereits erreicht worden ist.15 Im Jahr 2023 ist es zudem einer chinesischen Gruppe aus Beijing und Shanghai gelungen, erstmalig Embryonen aus Stammzellen von Javaner-Affen zu generieren und in die Gebärmutter von acht Affen zu implantieren.16 Bei drei der acht Affen konnten hormonelle Zeichen einer frühen Schwangerschaft nachgewiesen werden, doch starben dann alle Affenembryonen bald ab und wurden vermutlich vom Mutterkuchen absorbiert. In der Petrischale entwickelten sich einige der Affen-Embryonen bis zum 18. Tag weiter.

Herstellung von Gameten aus gewöhnlichen Körperzellen

Bei der Herstellung von Embryomodellen wird stets gefragt, ob solche Gebilde auch Keimzellen enthalten. Denn hieraus ließen sich wiederum Embryonen durch eine Befruchtung in der Petrischale generieren. Eine weitere Art, Embryonen ohne die Gewinnung von natürlichen Eizellen oder Spermien zu generieren, besteht darin, solche Gameten (Spermien und Eizelle) durch die Umprogrammierung gewöhnlicher Körperzellen herzustellen. Mit diesem Prozedere, das als ‚In-vitro-Gametogenese‘ bezeichnet wird, beschäftigen sich nicht nur Forschungseinrichtungen, sondern auch Biotech-Startups mit Namen wie “Conception”17.

Alle Versuche dieser Art wie auch jene bei der Herstellung von Embryomodellen gehen auf die Arbeit von John B. Gurdon an der Universität
Cambridge im Vereinigten Königreich und Shinya Yamanaka an der Universität Kyoto in Japan zurück. Für ihre Entdeckung, dass reife Körperzellen zu pluripotenten Stammzellen durch Aktivierung bestimmter Gene mittels Transkriptionsfaktoren umprogrammiert werden können, haben Gurdon und Yamanaka im Jahr 2012 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie gewonnen.18 Aus solchen ‚induzierten pluripotenten Stammzellen‘ (oft ‚iPS‘ genannt) lassen sich mittels weiterer Manipulationen der Genexpression andere Zelllinien herstellen, wie oben bereits bei den Embryonen beschrieben oder auch bei der Entwicklung von Keimzellen.

So hat die Gruppe um Qi Zhou aus dem Staatlichen Stammzelllabor in Beijing 2016 behauptet, aus embryonalen Stammzellen der Maus Spermienzellen (‚Spermatiden‘) produziert zu haben. Mittels intrazytoplasmatischer Injektion sei es gelungen, diese Eizellen zu befruchten und sie danach in die Gebärmutter einer Maus zu implantieren, was schließllich zur Geburt von normalen Mäusen geführt habe.19 Diese Befunde wurden von anderen Forschern in Frage gestellt20, doch haben Toshihiro Kobayashi und Kollegen aus Tokyo 2022 ähnliches für Ratten berichtet.21 In 2021 ist es der Gruppe um Katsuhiko Hayashi von der Universität von Kyushu in Japan gelungen, funktionierende Eizellen aus Hautzellen der Maus zu generieren.22 Dieser Gruppe ist es dann 2023 weiters gelungen, aus Zellen einer männlichen Maus mit einem X- und einem Y-Geschlechtschromosom, Eizellen mit einem weiblichen XX-Chromosomensatz zu generieren: Durch gezielte Manipulation wurde das Y-Chromosom entfernt und das X-Chromosom der Zelle dupliziert.23

Bisher existieren keine Berichte über eine erfolgreiche In-Vitro-Gametogenese beim Menschen, doch ist dies wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Obwohl derzeit wesentlich teurer als die Befruchtung im Reagenzglas, ist es möglich, dass die Herstellung von Keimzellen aus Körperzellen einen wesentlich größeren Einfluss auf die Industrie der Reproduktionsmedizin haben wird als die Herstellung von Embryomodellen wie jene von Jacob Hanna und Margareta Žernicka-Goetz. Es fällt auf, dass die In-vitro-Gametogenese von Ländern forciert wird, die sich mit einem ‚demographischen Winter‘ konfrontiert sehen24 wie China (1,1 Kinder pro Frau25), Japan (1,3 Kinder pro Frau26) oder Singapur (1,05 Kinder pro Frau27). Allerdings scheint dies eine sehr teure, ineffiziente und risikobehaftete Methode zu sein, um die allgemeine Fruchtbarkeit zu erhöhen. Viel wahrscheinlicher ist die potenzielle Verwendung dieser Technik durch homosexuelle, transsexuelle oder lesbische Paare, die sich ein Kind wünschen, das von ihnen vollständig genetisch abstammt (d. h. ohne Verwendung von Spenderspermien oder -eizellen). Weiters könnte die Technik angewendet werden, um Frauen nach der Menopause (ob krankheits- oder altersbedingt) die Möglichkeit genetischer Nachkommen zu eröffnen. Auch wäre die Massenherstellung von Ei- und Spermienzellen von Menschen mit ‚wünschenswerten‘ Charakteristika wie hohe Leistungsfähigkeit in Sport, Kunst oder Wissenschaft oder mit bestimmtem Aussehen denkbar. Solche Anläufe der ‚Boutique-Eugenik‘ hat es bereits bei der Spermienspende gegeben.28 Auch eine massenhafte Generierung von Embryonen wäre in der Folge denkbar, die dann einer durch künstliche Intelligenz gesteuerte genetische Selektion unterzogen werden könnten, um das ‚ideale‘ Kind zu selektieren.29

Ethische Implikationen der neuen reproduktiven Technologien

a) Embryomodelle

Beginnen wir mit der Frage, was menschliche Embryomodelle nicht sind. Erstens sind sie nicht im herkömmlichen Sinne ‚synthetisch‘, denn man hat sie nicht de novo wie aus der Maschine geschaffen, sondern aus anderen bereits lebenden Elementen zusammengestellt.30 Zweitens sind sie keine Embryonen, sondern Modelle des frühen Embryos, die keine Fähigkeit besitzen, sich zu einem Fetus weiterzuentwickeln.

Allerdings stellen sie schon einen signifikanten weiteren Schritt in Richtung eines austragungsfähigen Embryos dar. Wie wir gesehen haben, war es bei Mäusen bereits möglich, Embryonen mit Herz und Gehirn zu generieren, die etwa die Hälfte der Gestationszeit hinter sich hatten. Wir müssen also davon ausgehen, dass dies auch bei Menschen in nicht allzu ferner Zeit gelingen wird, vor allem in Anbetracht der fast unbegrenzten finanziellen Mittel, die für diese Forschung zur Verfügung gestellt werden.

Gesetzt den Fall, es gelingt irgendwann, auf diese Art und Weise einen austragungsfähigen menschliches Embryo zu entwickeln: Wie wäre dieser Embryo moralisch zu beurteilen? Käme einem solchen Embryo Menschenwürde zu?31 Handelt es sich also, um mit dem Philosophen Robert Spaemann (1927-2018) zu sprechen, bei solchen Embryonen um Personen? Spaemann schreibt: „Was ein Mensch von seinem Wesen her ist, zeigt sich an einem normalen erwachsenen Menschen. An ihm sehen wir, dass der Mensch jemand, dass er wesentlich Person ist. So gibt es keinen Grund, nicht auch diejenigen als Personen zu betrachten und mit ihnen als Personen umzugehen, die die gleiche Natur aber in einer noch unentwickelten oder einer defekten Form besitzen.“32 Von dieser Definition ausgehend kann kein Zweifel bestehen, dass ein solcher austragungsfähiger Embryo als Person mit Menschenwürde zu betrachten wäre.

Wie ist aber dann ein Embryomodell, das sich nicht zu einem austragungsfähigen Embryo entwickeln kann, zu beurteilen? Hat es die gleiche Natur, aber in einer noch unterentwickelten oder defekten Form? Einerseits kann man sagen: Ja, es hat die gleiche Natur: es gehört eindeutig zur Spezies Homo sapiens, hat einen vollen Chromosomensatz, alle Keimblätter sind vorhanden, und es scheint zumindest theoretisch entwicklungsfähig. Andererseits kann man einwenden: Nein, es hat nicht die gleiche Natur, denn der Weg in Richtung Bildung eines austragungsfähigen Embryos ist immanent gesperrt. Es fehlen an den Modellen wesentliche Anlagen, damit eine solche Entwicklung auch unter optimalen Bedingungen möglich wäre. Diese Frage zu beantworten übersteigt die philosophischen, zellbiologischen und embryologischen Kompetenzen des Autors. Doch kann sie nicht einfach ignoriert werden, denn sie berührt den Kern dessen, was Menschenwürde und Menschsein ausmachen.33

b) In-vitro-Gametogenese

Die In-vitro-Gametogenese stellt ethische Fragen auf zwei Ebenen: Was ist der moralische Status von Embryonen und später von Kindern, die auf diese Art und Weise gezeugt werden? Wie sind solche Praktiken ethisch zu bewerten?

Die erste Frage ist leicht beantwortet: Auf diese Art und Weise gezeugte Menschen sind Personen mit Menschenwürde wie jeder andere Mensch auch. Die zweite Frage hat weniger mit der Technologie zur Umprogrammierung von Zellen zu tun als mit der Reproduktionsindustrie insgesamt. Hier sehen wir seit Jahren eine Entwicklung, die immer mehr eine Verzweckung des Menschen zur Befriedigung der Wünsche Dritter vorsieht. Das erinnert stark an die Sklaverei, deren Wesen nicht darin besteht, dass man schlecht behandelt wird, sondern darin, dass man als Eigentum eines Anderen diesem vollkommen ausgeliefert ist bis hin zu Entscheidungen über Leben und Tod. Nach Immanuel Kant (1724-1804) darf der Mensch aber seinem Wesen nach nie Mittel zum Zweck werden, da er stets „Zweck an sich selbst“ ist.34

Fazit und Ausblick

Um die Frage im Titel zu beantworten: In nächster Zeit stehen uns keine ‚künstliche Menschen‘ ins Haus. Sowieso kann und wird es keine solchen geben, denn jene Menschen, die aus diesen neuartigen Reproduktionstechniken hervorgehen werden, werden nicht ‚künstlich‘ sein, sondern natürlichen Ursprungs wie alle anderen Menschen auch. Allerdings sind diese Technologien mit unbekannten medizinischen und psychologischen Risiken für solche Menschen behaftet, die sich erst im Laufe der Zeit zeigen werden.

Die beiden hier vorgestellten Technologien, die Erzeugung von Embryomodellen und vielleicht irgendwann von austragungsfähigen Embryonen sowie von Eizellen und Spermien aus umprogrammierten gewöhnlichen Körperzellen sind beim Menschen noch in einem frühen Stadium, bei Mäusen und Ratten jedoch deutlich weiter fortgeschritten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit zum ‚Erfolg‘ im Sinne eines ersten ausgetragenen Kindes führen werden. Wenn ich eine Prognose wagen müsste, so würde ich eher von Jahren als von Dekaden ausgehen.

Parallel zur Forschung auf dem Gebiet der reproduktiven Technologie schreitet auch die Entwicklung der künstlichen Gebärmutter mit großen Schritten voran. In diesem Fall ist der Begriff ‚künstlich‘ richtig gewählt, denn es handelt sich hierbei nicht um eine biologische Lösung, etwa in einem Tier, sondern um eine Brutkasten-ähnliche Maschine, die den Fetus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. So wird es irgendwann vielleicht möglich sein, einen menschlichen Embryo aus umprogrammierten Körperzellen in der Petrischale zu generieren und nach einer gewissen Zeit in einer künstlichen Gebärmutter auszutragen. In einem solchen Konstrukt wäre die Reproduktion vollständig nicht nur vom Sexualakt, sondern auch von der Sexualität als solche abgekoppelt. Dass die aus einer solchen Kette hervorgehenden Kinder unbeschadet bleiben würden, ist zweifelhaft. Doch die Verlockungen aus wirtschaftlicher, machttechnischer und egoistischer Sicht liegen auf der Hand. Wie so oft werden die Hauptleidtragenden auch in einem solchen Szenario diejenigen sein, die sich am wenigsten wehren können, nämlich die Kinder selbst.

Referenzen

  1. Penn Medicine, IVF by the Numbers, 14.3.2018, www.pennmedicine.org/updates/blogs/fertility-blog/2018/march/ivf-by-the-numbers.
  2. Siehe z. B. ein Post vom 19. März 2017 auf der Webseite der Harvard-Universität von Dunlap G., The End of the Waitlist: How chimeras could solve the organ transplant problem, sitn.hms.harvard.edu/flash/2017/end-waitlist-chimeras-solve-organ-transplant-problem/.
  3. Siehe für eine Diskussion zur Verwendung der CRISPR-Technologie beim Menschen zum Beispiel: Schaefer G.O., Did He Jiankui ‘Make People Better’? Documentary spurs a new look at the case of the first gene-edited babies, The Conversation, 20.12.2022, theconversation.com/did-he-jiankui-make-people-better-documentary-spurs-a-new-look-at-the-case-of-the-first-gene-edited-babies-196714.
  4. Diese Diskussion wird bereits seit Jahren in den Medien geführt, z. B. hier: Compton J., Could same-sex couples soon conceive a child with both their DNA? NBC News Digital, 12.1.2018, www.nbcnews.com/feature/nbc-out/could-same-sex-couples-soon-conceive-child-both-their-dna-n836876.
  5. Greene M., Master Z., Ethical Issues of Using CRISPR Technologies for Research on Military Enhancement, Bioethical Inquiry (2018); 15: 327-335. doi.org/10.1007/s11673-018-9865-6.
  6. Solche Ideen werden seit der Geburt des Klonschafs „Dolly“ Anfang des 21. Jahrhunderts breit diskutiert, z. B. hier: Human Cloning for Transplants, CBS News, 31.1.2002, www.cbsnews.com/news/human-cloning-for-transplants/. Diese Konzepte werden oft in der ‚Unterhaltungskultur‘, etwa im Film, umfassender und reflektierter behandelt als in den Hauptmedien. Siehe in diesem Zusammenhang den Film „Die Insel“ aus dem Jahr 2005, de.wikipedia.org/wiki/Die_Insel_(2005).
  7. Z. B. Goodman B., Scientists report creation of first human synthetic model embryos, CNN 15.6.2023, edition.cnn.com/2023/06/14/health/human-model-embryo/index.html; Devlin H., Synthetic human embryos created in groundbreaking advance, Guardian Online, 14.6.2023, www.theguardian.com/science/2023/jun/14/synthetic-human-embryos-created-in-groundbreaking-advance.
  8. ISSCR Annual Meeting 2023, 14.-17. Juni 2023, Boston, isscr.junolive.co/AM23/live/mainstage/am23_plenaryi.
  9. Devlin H., Synthetic human embryos created in groundbreaking advance, The Guardian, 14.6.2023, www.theguardian.com/science/2023/jun/14/synthetic-human-embryos-created-in-groundbreaking-advance: “The structures do not have a beating heart or the beginnings of a brain, but include cells that would typically go on to form the placenta, yolk sac and the embryo itself.”
  10. Amadei G., Handford C. E., Qiu C., De Jonghe J., Greenfeld H., Tran M., Martin B. K., Chen D. Y., Aguilera-Castrejon A., Hanna J. H., Elowitz M. B., Hollfelder F., Shendure J., Glover D. M., Zernicka-Goetz M., Embryo model completes gastrulation to neurulation and organogenesis, Nature (2022); 610: 143-153, doi.org/10.1038/s41586-022-05246-3.
  11. Oldak B., Wildschutz E., Bondarenko V., Aguilera-Castrejon A., Zhao C., Tarazi S., Comar M.-Y., Ashouokhi S., Lokshtanov D., Roncato F., Viukov S., Ariel E., Rose M., Livnat N., Shani T., Joubran C., Cohen R., Addadi Y., Kedmi M., Keren-Shaul H., Petropoulos S., Lanner F., Novershtern N., Hanna J.H., Transgene-Free Ex Utero Derivation of A Human Post-Implantation Embryo Model Solely from Genetically Unmodified Naïve PSCs, bioRxiv 2023.06.14.544922, doi.org/10.1101/2023.06.14.544922
  12. Weatherbee B. A. T., Gantner C. W., Daza R. M., Hamazaki N., Iwamoto-Stohl L. K., Shendure J., Zernicka-Goetz M., Transgene directed induction of a stem cell-derived human embryo model, bioRxiv 2023.06.15.545082; doi.org/10.1101/2023.06.15.545082.
  13. Dass die Befruchtung im Reagenzglas insgesamt moralisch hochproblematisch ist, steht außer Frage. Dieser Artikel versucht aber die Perspektive der Embryonenforscher wiederzugeben.
  14. Bei Pre-Prints handelt es sich um Forschungsmanuskripte, die noch nicht im sog. ‚Peer-Review‘-Prozess begutachtet worden sind. Bis zur Begutachtung sind solche Ergebnisse als vorläufig anzusehen.
  15. Auch die Gruppe um Jacob Hanna hat ähnliche Maus Embryomodelle im Jahr 2022 vorgestellt: Tarazi S., Aguilera-Castrejon A., Joubran C., Ghanem N., Ashouokhi S., Roncato F., Wildschutz E., Haddad M., Oldak B., Gomez-Cesar E., Livnat N., Viukov S., Lokshtanov D., Naveh-Tassa S., Rose M., Hanna S., Raanan C., Brenner O., Kedmi M., Keren-Shaul H., Lapidot T., Maza I., Novershtern N., Hanna J. H., Post-gastrulation synthetic embryos generated ex utero from mouse naive ESCs, Cell (2022); 185(18): 3290-3306.e25, doi.org/10.1016/j.cell.2022.07.028.
  16. Li J., Zhu Q., Cao J., Liu Y., Lu Y., Sun Y., Li Q., Huang Y., Shang S., Bian X., Li C., Zhang L., Wang Y., Nie Y., Fu J., Li W., Mazid M. A., Jiang Y., Jia W., Wang X., Sun Y., Esteban M. A., Sun Q., Zhou F., Liu Z., Cynomolgus monkey embryo model captures gastrulation and early pregnancy, Cell Stem Cell (2023); 30(4): 362-377.e7. doi.org/10.1016/j.stem.2023.03.009, PMID: 37028403.
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  20. Cyranoski D., Researchers claim to have made artificial mouse sperm in a dish, Nature (2016), doi.org/10.1038/nature.2016.19453.
  21. Oikawa M., Kobayashi H., Sanbo M., Mizuno N., Iwatsuki K., Takashima T., Yamauchi K., Yoshida F., Yamamoto T., Shinohara T., Nakauchi H., Kurimoto K., Hirabayashi M., Kobayashi T., Functional primordial germ cell-like cells from pluripotent stem cells in rats, Science (2022); 376(6589): 176-179, doi.org/10.1126/science.abl4412.
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  24. Bis Ende des 21. Jahrhunderts werden sich die Bevölkerungen Chinas und Japans in etwa halbiert haben. Siehe Vollset S. E., Goren E., Yuan C. W., Cao J., Smith A. E., Hsiao T., Bisignano C., Azhar G. S., Castro E., Chalek J., Dolgert A. J., Frank T., Fukutaki K., Hay S. I., Lozano R., Mokdad A. H., Nandakumar V., Pierce M., Pletcher M., Robalik T., Steuben K. M., Wunrow H. Y., Zlavog B. S., Murray C. J. L., Fertility, mortality, migration, and population scenarios for 195 countries and territories from 2017 to 2100: a forecasting analysis for the Global Burden of Disease Study, Lancet (2020); 396: 1285-1306, doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30677-2.
  25. Fuxian Y., China is dying out, Project Syndicate, 14.2.2023, www.project-syndicate.org/commentary/china-low-fertility-rate-population-decline-by-yi-fuxian-2023-02.
  26. Database.earth, Total Fertility Rate by Country in 2023, database.earth/population/fertility-rate/2023.
  27. Ng A., Singapore‘s total fertility rate drops to historic low of 1.05, CNA, 24.3.2023, www.channelnewsasia.com/singapore/singapore-total-fertility-rate-population-births-ageing-parents-children-3301846.
  28. The Sperm Bank for Nobel Prize Winners, Mental Floss, 9.10.2013, www.mentalfloss.com/article/12753/sperm-bank-nobel-prize-winners.
  29. Siehe etwa Schnabel J., Harnessing AI technology for IVF embryo selection, Cornell Chronicle, 21.12.2022, news.cornell.edu/stories/2022/12/harnessing-ai-technology-ivf-embryo-selection.
  30. Das Wort Synthese stammt aus dem Griechischen syntithenai ‚zusammenstellen, kombinieren‘, von syn- ‚zusammen‘ + tithenai ‚stellen, platzieren‘. Die Embryonenmodelle sind insofern „synthetisiert“, als dass sie aus verschiedenen Zelllinien zusammengestellt worden sind, aber diese Zelllinien würden nicht de novo kreiert.
  31. In der Debatte um diese Frage ist immer wieder von der „vollen Menschenwürde“ die Rede, als ob es Grade in der Menschenwürde gäbe. Das Konzept der Menschenwürde zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie unteilbar ist.
  32. Spaemann R., „Sind alle Menschen Personen? Über die philosophische Rechtfertigung der Lebensvernichtung“, in: Ders., Grenzen: zur ethischen Dimension des Handelns, Klett-Cotta, Stuttgart (2001), S. 420.
  33. Vgl. dazu Spatzenegger M., Synthetische Mausembryonen: Modelle als Herausforderung der Sachlichkeit, Imago Hominis (2023); 30(2): 129-139.
  34. Immanuel Kant’s Zweckformel lautet wie folgt: „Handele so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ in: Valentiner T. (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart (2004), S. 79.

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Prof. Dr. med. Paul Cullen
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