§ 78 StGB – eine tragende Wand im Gebäude des rechtlichen Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes
Einleitung
In wenigen Lebenslagen ist der Mensch so gefordert wie am Lebensende. Besonders im Krankheitsfall sind komplexe Entscheidungen zu treffen und es stellen sich dem Betroffenen, den Angehörigen, Ärzten und Pflegern zahlreiche medizinische, ethische und existentielle Fragen. Es ist eine Situation zwischen Hoffnungen und noch viel mehr Ängsten. Dem Recht obliegt es, in dieser Grenzsituation des Menschen Leben und Selbstbestimmung durch ein tragfähiges Gebäude an Gesetzesnormen zu schützen. § 78 des Strafgesetzbuches (StGB), der die „Mitwirkung am Selbstmord“ durch Verleiten oder Hilfeleisten unter Strafe stellt, ist ein nicht unwesentlicher Teil dieses Gefüges von Regelungen.
Verfassungsrechtlich sind Leben und Selbstbestimmung in Österreich vor allem durch Art 2 Abs 1 (Recht auf Leben) und Art 8 Abs 1 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt. Der österreichische Gesetzgeber bewertet grundsätzlich das Rechtsgut Leben höher als jenes der Selbstbestimmung. Dementsprechend wird eine Verletzung des Rechtsguts Leben wesentlich höher bestraft als jene der Selbstbestimmung, also zum Beispiel der Strafrahmen für eine vorsätzliche Tötung wesentlich höher als für eine Nötigung.1 Auch ist das Rechtsgut des menschlichen Lebens „grundsätzlich unabhängig vom Willen des unmittelbaren Trägers dieses Rechtsguts geschützt…“.2
Was den Autonomieschutz am Ende des Lebens anbelangt, sind die Vereinbarungen zur Sicherstellung der Patientenrechte (Patientencharta) zwischen dem Bund und den Ländern zu nennen. Sie enthalten eine Selbstverpflichtung der Bundes- und Landesgesetzgeber, Patientenrechte, unter anderem das Recht auf Selbstbestimmung und Information zu wahren.
§ 110 StGB („Verbot der eigenmächtigen Heilbehandlung“) sichert die autonome Entscheidung des Patienten ab, eine – auch lebenserhaltende – medizinische Behandlung abzulehnen, so er diesen Willen durch eine aktuelle oder antizipierte Erklärung, etwa im Wege einer Patientenverfügung, oder auch durch einen bevollmächtigten Vertreter, wirksam äußert. Verzicht und Abbruch einer derartigen medizinischen Maßnahme sind außerdem rechtlich geboten bei hinreichend dokumentiertem mutmaßlichen Patientenwillen oder bei fehlender medizinischer Indikation (einseitiger Behandlungsabbruch).
Auch „indirekte Sterbehilfe“, also Schmerzbehandlung mit möglicher oder sogar sicherer lebensverkürzender Nebenwirkung, ist rechtmäßig.3
Um das Leben zu schützen, zieht das Gesetz in diesem Bereich Grenzlinien durch § 78 StGB, der die Fremdhilfe zur unmittelbaren Selbsttötung durch eigene Hand kriminalisiert,4 sowie durch § 77 StGB („Tötung auf Verlangen“) und durch § 75 StGB („Mord“), für Fälle der aktiven Tötung ohne Zustimmung des Opfers. Der Strafrahmen für eine „Tötung auf Verlangen“ ist gegenüber dem „Mord“ freilich deutlich herabgesetzt. Die Grenze zwischen diesen Bestimmungen ist oft fließend und die Abgrenzung schwierig.5
Weiters ist als Teil dieses Systems der Spielraum relevant, den der Gesetzgeber bei der Strafzumessung einräumt. So sind etwa im Einzelfall ordentliche oder außerordentliche Milderungsgründe zu berücksichtigen (§§ 33, 34, 41 StGB). Allenfalls können auch Entschuldigungsgründe anzuwenden sein.
Dieses kurz skizzierte Gebilde an rechtlichen Bestimmungen ist der Kontext, in dem §78 StGB steht. Wenn er in weiterer Folge näher betrachtet wird, soll nicht aus den Augen verloren werden, dass er Teil dieses ausgewogenen Gesamtgefüges ist.
1. Auch das Leben im Endstadium hat einen rechtlichen Wert
Das Fundament dieser Normen ist die Wertung der Rechtsordnung, dass dem menschlichen Leben in jeder Situation ein rechtlicher Wert beigemessen wird. Diese Wertung wiederum beruht auf der Menschenwürde, auf der die Grundrechte basieren. „Denn“ so erläutert Schmoller sehr treffend, „die Behandlung eines Menschen als ‚wertlos‘ würde ihn auf dieselbe Stufe mit einem wertlosen Objekt, über das einfach verfügt wird, stellen. Die ‚Menschenwürde‘ verlangt, dass dem Leben eines Menschen in jeder Situation ein positiver Wert zuerkannt wird; dies gilt auch für Menschen, denen ein schweres Leiden bevorsteht, deren Leben voraussichtlich nur mehr kurz dauern wird und/oder die im jeweiligen Augenblick ihren eigenen Tod wünschen oder sogar einen Selbstmord planen.“6 Indem er der Beihilfe zum Selbstmord Einhalt gebietet, drückt § 78 StGB aus, dass auch das Leben des leidenden Menschen schützenswert ist.
Selbstschädigendes Verhalten wie etwa gesundheitsschädigender Alkohol- oder Nikotinkonsum, der bloße Drogenkonsum,7 Selbstverletzung oder eben auch Selbstmord ist prinzipiell nicht strafbar. Der Verzicht auf ein rechtliches Verbot und die Einordnung dieser Verhaltensweisen in diesem Sinne als „rechtmäßig“, bedeutet freilich nicht eine rechtliche „Gutheißung“ solcher Verhaltensweisen, sondern lediglich, dass einem solchen Verhalten – aus welchen Gründen auch immer – nicht mit rechtlichen Mitteln entgegengetreten wird.8 Was den Selbstmord betrifft, drückt die Rechtsordnung jedenfalls mehrfach aus, dass der Selbstmord quasi „als rechtmäßig toleriert“ wird, jedoch nicht „rechtlich neutral“ und möglichst zu verhindern ist.9 So impliziert etwa der vom Gesetzgeber gewählte Begriff des „Selbstmordes“ in der Überschrift des § 78 StGB per se die Rechtswidrigkeit des Verhaltens.10 Gemäß § 24 Abs 1 Z 2 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) obliegt den Sicherheitsbehörden die Ermittlung des Aufenthaltsortes eines Menschen, nach dem gesucht wird, unter anderem weil befürchtet wird, ein Abgängiger werde Selbstmord begehen. Zur gebotenen Verhinderung eines Selbstmordes kann auch die Anwendung von Zwang (Gewalt oder gefährliche Drohung) erforderlich sein, wenn z. B. der Suizident daran gehindert wird, von einer Brücke zu springen. Die Gewaltanwendung als Nötigungsmittel ist in solchen Fällen nach § 105 Abs 2 StGB nicht sittenwidrig, die Verhinderung des Selbstmordes rechtmäßig.11
In dieselbe Richtung weist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, wonach ernsthafte Selbstmordabsichten die Verhängung eines Waffenverbotes (nach §12 Waffengesetz) rechtfertigen12 bzw. entsprechende Verwahrungspflichten auslösen.13
Diese Wertung der Rechtsordnung entspricht dem Umstand, dass der Suizid grundsätzlich dem natürlichen Lebenswillen entgegengesetzt ist und deshalb vernünftigerweise von der Gesellschaft nicht ohne Weiteres unhinterfragt akzeptiert werden kann.14 Sie steht auch damit in Einklang, dass die Gesellschaft dieser vielschichtigen Problematik mit dem Instrumentarium der Suizidologie und Suizidprävention zu begegnen sucht.
2. Die Funktion des § 78 StGB
§ 78 StGB entfaltet auf mehrere Weisen eine Schutzfunktion für die Rechtsgüter von Leben und Selbstbestimmung.
In erster Linie fordert er die Rechtsunterworfenen auf, sich nicht mit dem Suizidwillen, sondern mit der betroffenen Person, dem Suizidwilligen, zu solidarisieren.15 Der Suizidwille eines Menschen ist nie grundlos, sondern hat sein Motiv bzw. seine Ursache regelmäßig in einer Krankheit, Schmerz, Angst, fehlendem Lebenssinn, Frustration, etc. Nicht mehr leben zu wollen heißt folglich genauer gesagt immer, so nicht mehr leben zu wollen. Das Problem bzw. „unwürdig“ ist dann jedoch nicht das Leben des Betroffenen, sondern allenfalls seine Situation. Aus psychiatrischer Perspektive betrachtet, bewerten die Assistenten eines Suizidenten, „wenn sie tätig werden, dessen Leben als nicht mehr lebenswert, anderenfalls würden sie ihm beim Versuch helfen, es erträglich zu gestalten. Damit verlassen sie die Position des ‚anderen‘, stimmen dem Suizidalen nicht nur im Fühlen und Denken, sondern im Handeln zu und entziehen ihm die Erfahrung des zugewandten und doch nicht identischen Gegenübers.“16 In diesem Sinne verbietet § 78 StGB es der Gesellschaft bzw. dem Suizidwilligen nahestehenden Personen, eine Haltung einzunehmen, die dem Suizidwilligen jede Hoffnung auf Besserung seiner Situation nimmt und durch Taten ausdrückt, dass sein Leben wertlos ist. Er erinnert daran, dass es – trotz zumeist sehr achtenswerter Beweggründe - „ein Zeichen falschverstandener Selbstbestimmung und fehlender mitmenschlicher Solidarität“ ist, wenn Assistenten eines Suizidenten mit dem Verweis auf die scheinbar freie Entscheidung eines autonomen Individuums mögliche Hilfe vorenthalten.17
Weiters zieht § 78 StGB eine „red line“, um „der Gefahr für das individuelle Lebensinteresse des jeweiligen Opfers“ zu begegnen.18 Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Defizite der medizinischen Versorgung und in der Pflege oder negative Erscheinungsformen medizinischer Überversorgung geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und dadurch Selbsttötungsentschlüsse zu fördern. Ohne „den Entschluss zur Selbsttötung einem unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder Freiheit und Reflexion“19 zu unterstellen, steht doch auch außer Zweifel, dass sich die Frage nach der tatsächlichen Willensfreiheit des Betroffenen zum Zeitpunkt eines Selbstmords nie eindeutig beantworten lässt. Zu Vieles bleibt unbewusst oder unausgesprochen. Hinzu kommen die vielfältigen Erscheinungsformen suizidalen Verhaltens, die sich schwer verallgemeinern lassen. Zu groß ist die Gefahr, dass eine eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit unerkannt und ein im Suizidwillen ausgedrückter Hilferuf unerkannt bleibt.20
Drittens schützt § 78 StGB die Autonomie des Einzelnen vor sozialem Druck und tritt gesellschaftlichen Einwirkungen entgegen, die als Pressionen wirken und Suizidwillige gegenüber Suizidhilfeangeboten in eine Rechtfertigungslage bringen könnten.21 So stellte etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht (dtBVerfG) fest, dass eine „gesellschaftliche Normalisierung“ der Suizidhilfe – nicht zuletzt angesichts steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssystemen – die Gefahr birgt, dass Personen durch ihr gesellschaftliches und familiäres Umfeld in eine autonomiegefährdende Situation gebracht werden könnten, sich gegen ihren Willen mit der Frage der Selbsttötung auseinandersetzen zu müssen, und mit Verweis auf Nützlichkeiten unter Erwartungsdruck geraten. Gerade ältere und kranke Menschen könnten sich durch in der Gesellschaft etablierte Angebote zur vorzeitigen Lebensbeendigung veranlasst sehen, solche Angebote unter Zurückstellung der persönlichen, am eigenen Selbstbild orientierten Vorstellungen anzunehmen.22 So dient dieses strafrechtliche Verbot samt entsprechenden Sanktionen der Sicherung und Beförderung des Vertrauens zwischen Hilfsbedürftigen und Hilfeleistenden.23
3. Die Strafnorm des § 78 StGB als verfassungskonformes Instrument
Verfassungsrechtlich steht die Strafbestimmung im bereits erwähnten Spannungsverhältnis zwischen dem in Art 2 EMRK garantierten Recht auf Leben und dem Grundrecht auf Privat- und Familienleben in Art 8 EMRK.24 Einerseits beinhaltet das Recht auf Selbstbestimmung des Art 8 EMRK auch, Aktivitäten nachzugehen, die schädlich oder gefährlich für den Berechtigten sind. Andererseits erwachsen dem Staat aus Art 1 EMRK Schutzpflichten für das Leben des Einzelnen. Einerseits gewährt Art 8 EMRK Selbstbestimmung auch am Ende des Lebens, andererseits kann das Recht auf Leben des Art 2 EMRK ohne Entstellung des Wortsinns nicht im Sinne eines negativen Aspekts interpretiert werden und gewährleistet kein Recht zu sterben, weder durch Dritte noch mit Unterstützung der Behörden.25 Es gibt also kein Recht des Einzelnen, das den Staat oder Dritte verpflichten könnte, Handlungen zu setzen, die den eigenen Tod ermöglichen würden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Entscheidung Koch gg. Deutschland betont, dass es keine Prioritätsregelung zwischen den beiden Grundrechten gibt.26 Das Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und der Pflicht des Staates, das hohe Rechtsgut Leben zu schützen, aufzulösen, ist grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers. Dieser kann sich dabei frei entscheiden, welche Instrumente er in der jeweils gegebenen Situation zur Verwirklichung seiner Zielsetzungen für geeignet erachtet und anwendet. Verwehrt ist ihm hierbei nur die Überschreitung der von Verfassungs wegen gezogenen Schranken, beispielsweise zur Zielerreichung völlig ungeeignete Mittel zu wählen.27 Grundsätzlich stellt die Regelung des § 78 StGB als Strafnorm ein geeignetes Instrument des Rechtsgüterschutzes dar, weil das strafbewehrte Verbot gefahrträchtiger Handlungsweisen den erstrebten Rechtsgüterschutz zumindest fördern kann.
Der Rechtsprechung des EGMR zufolge, verstößt ein Verbot der Suizidbeihilfe an sich nicht gegen die EMRK und ist dieser Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung, den es darstellt, im Sinne von Art 8 Abs 2 EMRK nicht unverhältnismäßig; es dient vielmehr dem Schutz des Lebens insbesondere derjenigen – oft verwundbaren – Personen, die nicht in der Lage sind, freie und unbeeinflusste Entscheidungen über ihren Tod zu treffen.28 Nach der Rechtsansicht des EGMR obliegt es in erster Linie den Mitgliedsstaaten, das Risiko und die Wahrscheinlichkeit von Missbräuchen im Fall einer Lockerung des Verbotes der Beihilfe zum Selbstmord oder der Zulassung von Ausnahmen zu beurteilen, wobei nach Auffassung des EGMR solche Risiken – ungeachtet der Argumente hinsichtlich der Möglichkeit von Schutzvorkehrungen und Schutzverfahren – eindeutig bestehen.29 Bei den Mitgliedsstaaten bestehe bezüglich des Rechts eines Individuums auf Treffen einer Wahl, wann und wie es sein Leben beenden will, kein gemeinsamer Konsens. Die große Mehrheit der Konventionsstaaten scheint aber dem Schutz des Lebens einer Person mehr Gewicht als deren Recht einzuräumen, es freiwillig zu beenden. In diesem Bereich sei der staatliche Ermessensspielraum daher als erheblich einzustufen.30 Infolgedessen hat es der EGMR im Fall Pretty gg. das Vereinigte Königreich auch als gerechtfertigt angesehen, dass das Gesetz nicht zwischen Personen, die körperlich in der Lage sind, Selbstmord zu begehen, und jenen, die dies nicht können, unterscheidet. Die Grenze zwischen diesen Kategorien sei nämlich oft sehr schmal und eine gesetzliche Ausnahme für diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich das Leben zu nehmen, würde den von diesem Gesetz angestrebten Schutz des Lebens aushöhlen.31
In Anbetracht der Schwere der in Rede stehenden Handlungen ist auch ein generelles, ausnahmsloses Verbot, nicht unverhältnismäßig. Ausnahmen oder die Duldung einer rechtswidrigen Praxis in Form nachträglicher Strafbefreiung würden dem Extremfall seine Extremstellung nehmen und ihm den Charakter einer Pseudonormalität verleihen, gegen die gewichtige sozial-ethische Gründe bestehen.32 Es darf auch nicht außer Betracht bleiben, dass eine Rechtsordnung aus prinzipiellen Erwägungen ein Leitbild mit absolutem Geltungsanspruch durchhalten kann, selbst wenn Umstände des Einzelfalles eine Abweichung aus höheren Gerechtigkeitsgründen zu gebieten scheinen.33
Freilich muss nach den Grundsätzen des EGMR die nationale Rechtslage die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ermöglichen, etwa durch ein flexibles Strafmaß oder die Möglichkeit des Verzichts auf eine Anklageerhebung.34 Die österreichische Rechtsordnung enthält – wenn auch nicht unbegrenzte – Möglichkeiten dieser Art, echten Härtefällen zu begegnen (etwa durch eine Strafmilderung sowie gegebenenfalls durch die Berücksichtigung von Entschuldigungsgründen).
Der durch den EGMR vorgegebenen Linie entspricht auch die bisherige Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH), vor allem in seinem Erkenntnis vom 08.03.2016 zu E1477/2015. Darin führt er aus, dass dem Gesetzgeber bei der Bewertung des Unrechtsgehaltes einer Tat und damit auch bei der Festlegung der Strafdrohung ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zukomme. § 78 StGB sei unter Bedachtnahme auf Art 11 Abs 2 EMRK nicht verfassungswidrig, da der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten habe, wenn er das generelle Verbot der Beihilfe zum Selbstmord als zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer als notwendig erachte. Der Gesetzgeber könne jedoch diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum auch mit anderem Ergebnis nutzen.
An dieser Rechtslage hat sich seither nichts Wesentliches geändert. All dies lässt die Einschätzung zu, dass § 78 StGB in der derzeitigen Fassung EMRK – und somit verfassungskonform, „die Strafrechtslage in dem angesprochenen Themenbereich grundsätzlich ausgewogen ist und kein grundsätzlicher Handlungsbedarf besteht.“35
4. Ausblick
Angesichts aktueller Reformüberlegungen36 sei angemerkt, dass eine Reform gegebenenfalls vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers wäre. § 78 StGB steht im Kontext grundlegender Wertentscheidungen bezüglich der Würde und des Lebens des Menschen und der Identität der Gesellschaft. Gestaltungen in diesem Zusammenhang sind in der gewaltenteiligen Kompetenzordnung der österreichischen Verfassung dem formellen Gesetzgeber, dem Parlament, überantwortet, das mit dem entsprechenden demokratischen Mandat ausgestattet ist.
Angemessener Respekt vor der österreichischen Verfassung bedeutet daher, den rechtspolitischen Wertungs- und Gestaltungsspielraum, den sie dem Gesetzgeber einräumt, zu wahren. Dies wird auch der VfGH bei seiner Entscheidung über das Verbot der aktiven Sterbehilfe in den kommenden Wochen37 vor Augen haben. Ihm kommt es zu, quasi als „negativer Gesetzgeber“38 punktuell einzugreifen, etwa im Fall einer Verletzung der Verfassung. Dabei sind Umsicht und Zurückhaltung gefragt, wenn es um komplexe Gesamtlagen geht, um den Gesetzgeber nicht zu überspielen oder zu einem reaktiven Handeln zu zwingen.
Ein Rechtsvergleich39 zeigt, dass die europäischen Staaten bezüglich der vorliegenden Problematik verschiedene Wege gegangen sind, wobei in den meisten Staaten genauso wie in Österreich die Mitwirkung am Selbstmord und die „Tötung auf Verlangen“ als Straftat ausgestaltet sind. Lockerungen im Bereich des Verbots von aktiver Sterbehilfe bzw. der Fremdhilfe zur Selbsttötung hatten dabei häufig problematische Auswirkungen zur Folge. Dies trotz gesetzlich festgeschriebener Aufklärungs-, Beratungs- und Wartepflichten oder anderer prozedualer Sicherungsmechanismen. So musste das dtBVerfG etwa feststellen, „dass die bis zum Inkrafttreten von § 217 dStGB bestehende Praxis geschäftsmäßiger Suizidhilfe in Deutschland nicht geeignet war, die Willens- und damit die Selbstbestimmungsfreiheit in jedem Fall zu wahren.“40 Weiters sei die Anzahl assistierter Suizide in der Schweiz,41 in den Niederlanden42 und in Belgien43 stetig angestiegen.44 In den Niederlanden werde in Alters- und Pflegeheimen inzwischen offen Sterbehilfe angeboten, weswegen sich ältere Menschen in grenznahen Regionen schon dazu veranlasst gesehen hätten, nach Deutschland in entsprechende Einrichtungen auszuweichen. In der Gesundheitspolitik von Oregon greife bereits ein Wirtschaftlichkeitsgebot, das bei terminalen Erkrankungen die Kostenübernahme für bestimmte medizinische Therapien ausschließe, demgegenüber aber die Erstattung der Ausgaben für einen assistierten Suizid vorsehe.45 Angesichts derartiger Entwicklungen verbieten sich simplifizierte Darstellungen und es zeigt sich, dass eine einfache Lösung und die Möglichkeit einer raschen Reform Illusionen sind.
Im österreichischen System des rechtlichen Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes kommt § 78 StGB auch deshalb eine tragende Funktion zu, da es sich um eine generelle, ausnahmslose Regelung handelt. Jede Änderung wäre ein massiver Eingriff, der auch Änderungen anderer Normen zu dieser Problematik nach sich ziehen würde, jede Ausnahme wäre eine willkürliche Grenzziehung, die in einem derart sensiblen Bereich Grauzonen schaffen würde.
Der Unterschied etwa zwischen § 77 („Tötung auf Verlangen“) und § 78 StGB verschwimmt besonders beim Unterlassen des Täters und beim Unterlassen der möglichen Abwehr durch das Opfer.46 Die Zuordnung in diesen Fällen ist daher auch häufig streitig. Wenn jemand z. B. das tödliche Gift in den Mund eines Patienten einflößt und dieser es – obwohl er es ausspucken könnte – schluckt, hängt es von detaillierten Abgrenzungen ab, ob das Einflößen als eine Fremdtötung oder aber das Schlucken als eine Selbsttötung eingestuft wird.47 Eine isolierte Änderung des § 78 StGB ohne am Rest des Gefüges zu rütteln ist daher nicht möglich.
Manche der bisherigen Änderungsvorschläge bezüglich Ausnahmeregelungen würden zahlreiche neue Probleme aufwerfen. So wird etwa eine Neufassung des § 78 StGB vorgeschlagen, die einerseits an der strafbaren Verleitung zum Selbstmord festhalten, andererseits die Hilfeleistung beim Suizid durch Angehörige oder persönlich nahestehende Personen aus der Strafbarkeit herausnehmen will, allenfalls zusätzlich gebunden an Beweggründe, die auch einem mit den rechtlich geschützten Werten (§ 10) verbundenen Menschen verständlich sein müssen.48 Tritt man dem näher, so stellt sich die Frage nach einer Diskriminierung jener Personen, die keine Angehörigen oder persönlich nahestehenden Personen haben sowie vor allem nach der Nachweisbarkeit der Beweggründe. Weiters wäre dadurch auch keine der unter Punkt 2. aufgezeigten Problematiken gelöst.
Stellt man für eine Ausnahmeregelung auf eine „unheilbare, zum Tod führende Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung“49 ab, um eine Tötung oder eine Mitwirkung am Selbstmord nicht schon in Fällen von Insolvenz, Liebeskummer oder Schicksalsschlägen zu erlauben, wird die Willkürlichkeit der Grenzziehung noch deutlicher: Jede Festlegung von Wochen oder Monaten an Lebenserwartung für eine Ausnahme von der Strafbarkeit kann nur willkürlich sein. Zudem ist problematisch, so weitreichende Entscheidungen an bloße Wahrscheinlichkeiten zu knüpfen, zumal derartige Prognosen mit deutlichen Unsicherheiten behaftet sind. Sodann wäre nicht einsichtig, warum gerade in Krankheitsfällen die Autonomie des Einzelnen so aufgewertet würde, dass sie den Lebensschutz überwiegt, in anderen Fällen des Wunsches, sein Leben zu beenden, hingegen nicht. Warum also gerade die Autonomie des Kranken mehr geschützt werden sollte als sonst die Autonomie des Gesunden, was einen Wunsch auf Lebensbeendigung betrifft, wäre wohl nicht leicht zu begründen.50
Insgesamt zeigt sich, dass das Gebäude an derzeit geltenden rechtlichen Bestimmungen durchaus geeignet ist, die Rechtsgüter Leben und Selbstbestimmung zu schützen. Darin finden sich weniger tragende Bestimmungen wie beispielsweise einzelne Details im Bereich der Patientenverfügung betreffend. § 78 StGB hingegen, der die Mitwirkung am Selbstmord durch Verleiten oder Hilfeleisten unter Strafe stellt, ist von fundamentaler Bedeutung.
Das österreichische System stellt klarerweise nicht die einzige Möglichkeit dar, diesen Themenbereich zu regeln. Dementsprechend billigt auch der EGMR die verschiedenen Lösungen der europäischen Gesetzgeber. Die österreichische Strafrechtslage ist jedoch verfassungskonform und durchaus ausgewogen51 und bewährt. Um dieses Gebäude des Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes nicht zum Einsturz zu bringen, bedürfte jede maßgebliche Änderung eines äußerst behutsamen Vorgehens, auf der Basis eines angemessenen und umfassenden Diskurses und mit Blick auf den gesamten Bereich der „Würde am Ende des Lebens“. Leben und Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen sind zu kostbar, um in diesem Bereich Grauzonen oder willkürliche Abgrenzungen zuzulassen.
Referenzen
- Vgl. Schmoller K., Lebensschutz bis zum Ende? Strafrechtliche Reflexionen zur internationalen Euthanasiediskussion, ÖJZ (2000), S. 361 ff.
- Regierungsvorlage zum StGB 1975, 30 der Beilagen XIII. GP, S. 196.
- Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff.: „Häufig wird dabei der Unterschied zur aktiven ‚direkten‘ Euthanasie im Motiv (bzw in der Zielvorstellung) des Täters gesehen: Dieses sei auf Schmerzbehandlung, nicht auf Lebensverkürzung gerichtet.“
- Birklbauer A., § 78 StGB. Mitwirkung am Selbstmord, in: Höpfel F., Ratz E., Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch (WK)², Rz 1.
- Stellvertretend für zahlreiche Literatur: Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 85 f.
- Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff. mwN.
- Wobei dieser regelmäßig mit Erwerb und Besitz verbunden ist, die gemäß § 27 SMG sehrwohl strafbar sind.
- vgl. Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 363.
- Ausführlich dazu siehe beispielsweise Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff. und Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 10 und Rz 13.
- Lengauer S., Selbstmord oder Fremdtötung: Unrecht, Abgrenzung und StRÄG 2015, JSt (2016), S. 109; vgl. Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 13.
- Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 62 mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
- Erkenntnisse des VwGH vom 2. März 2016, Ra 2016/03/0011; vom 24. Juli 2012, 2012/03/0071; vom 27. Februar 2013, 2012/03/0123; vom 22. Mai 2013, 2013/03/0025 und vom 21. Oktober 2011, 2010/03/0148.
- Erkenntnisse vom 22. Juni 1976, Zl. 1055, 1056/76: In diesen Erkenntnissen stellte der VwGH fest, dass der Bewilligungsinhaber jedenfalls nach der Drohung der Ehefrau mit Selbstmord entsprechende Vorkehrungen hätte treffen müssen, um die Waffe sicher dem Zugriff seiner Ehefrau zu entziehen.
- Bzw. als „sozialethisch verwerflich“ gesehen wird; so etwa: Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 13.
- Anderer Ansicht zum Wesen der Solidarität in derartigen Situationen: Velten in Sbg Kommentar zum StGB, Vorbemerkung zu den §§ 77 bis 78, Rz 18.
- Teising M., Lindner R., Niemand stirbt für sich allein, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.2019 (online).
- Vgl. ebd.
- Velten P., §§ 77 bis 78, in: Hinterhofer H., Rosbaud C., Triffterer O., Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch (2019), Rz 16.
- dtBVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, Rn 279.
- dtBVerfG, ebd, Rn 245: „Nach Einschätzung der sachkundigen Dritten bilden psychische Erkrankungen eine erhebliche Gefahr für eine freie Suizidentscheidung. Ihren Ausführungen zufolge liegen nach weltweit durchgeführten empirischen Untersuchungen in rund 90% der tödlichen Suizidhandlungen psychische Störungen, insbesondere in Form einer Depression (in etwa 40 bis 60% der Fälle), vor. Depressionen, die häufig – selbst für Ärzte – schwer zu erkennen sind, führen bei etwa 20 bis 25% der Suizidenten zu einer eingeschränkten Einwilligungsfähigkeit (…). Vor allem unter betagten und schwer erkrankten Menschen ist der Anteil depressiver Suizidenten groß.“
- Vgl. dtBVerfG, siehe Ref. 19, Rn 223.
- Vgl. dtBVerfG siehe Ref. 19, Rn 249 und Rn 259; in den Rn 258 f. referiert das dtBVerfG in diesem Zusammenhang zahlreiche Belege für die Tatsache, dass ein wichtiges Motiv für einen assistierten Suizid der Wunsch ist, Angehörigen oder Dritten nicht zur Last zu fallen.
- Pöltner G., Grundkurs Medizin-Ethik, Wien (2006), 2. Aufl., S. 281.
- Vgl. Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 12.
- RIS-Justiz RS0125083, EGMR, Pretty gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw2346/02, hudoc.echr.coe.int/fre (letzter Zugriff am 4.11.2020); Steiner E., Ausschussbericht NR 491 der Beilagen XXV. GP, Anlage A1, S. 8.
- Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 26; Koch gg Deutschland BswNr 497/09 v 19.7.2012.
- Vgl. VfGH Erkenntnis vom 3.10.1989, G227/88; G2/89 mwN. Verwehrt ist dem Gesetzgeber „die Verletzung des aus dem Gleichheitssatz erfließenden Sachlichkeitsgebots“
- Vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Appl. No. 2346/02, Rz 74, abrufbar auf der Webseite des EGMR unter hudoc.echr.coe.int/fre.
- Ebd.
- RIS-Justiz RS0128276.
- RIS-Justiz RS0125087, EGMR, Pretty gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw2346/02.
- Vgl. Pöltner G., siehe Ref.23, S. 281.
- Udo di Fabio, Rechtsgutachten vom November 2017 zur „Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen“, S. 41 bezüglich der Rechtslage in Deutschland; weiters: „So akzeptiert unsere Rechtsordnung nicht das Argument der ‚Rettungsfolter‘, auch wenn nur unter Einsatz des verbotenen Instruments einem unschuldigen Opfer mit seinem Würdeanspruch und seinem Lebensrecht geholfen werden kann.“
- Vgl. RIS-Justiz RS0125087, EGMR, Pretty gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw 2346/02.
- Schmoller K., Ausschussbericht NR 491 der Beilagen XXV. GP, Anlage A4, S. 67; vgl. Steiner E., siehe Ref. 25, S. 6 ff.
- Etwa vgl. Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 25, sowie Rz 28-33; Velten P., siehe Ref. 18, Rz 18 f.
- Verlautbarung des VfGH vom 31.7.2020, www.vfgh.gv.at/medien/Nach_Juni_Juli_Beratungen.de.php.
- Öhlinger T., Verfassungsrecht, Wien (20056), Rn 1002.
- Velten P., siehe Ref. 18, Rz 18 f.; Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 16 ff.
- Vgl. dtBVerfG, siehe Ref. 19, Rn 249.
- Ebd., Rn 252.
- Ebd., Rn 253.
- Ebd., Rn 254: Hier hat sich die Zahl der gemeldeten Fälle von Sterbe- und Suizidhilfe im Zeitraum von 2002/2003 bis 2015 nahezu verachtfacht.
- Ebd., Rn 255.
- Ebd., Rn 257.
- Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 86.
- Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff.
- Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 30; Lengauer S., siehe Ref. 10, S. 110.
- Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 31.
- Vgl. Schmoller K., siehe Ref. 35, S. 67.
- Ebd.
Mag. iur. Maria Schörghuber
Richterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien
maschoerghuber(at)hotmail.com