Editorial
Eine Mehrklassenmedizin, sagen die einen, hat es immer schon gegeben. Die Frage sei nur, auf welchem Niveau die zweite Klasse ist und wieweit eine Mehrklassenmedizin ethisch vertretbar ist. Andere hingegen, insbesondere Ärztevertreter, stellen die Existenz einer Mehrklassenmedizin in Abrede. Die Debatte darüber, dass sich in Österreich in der Patientenversorgung zunehmend missbräuchliche Praktiken etablieren, die weder mit der Gesetzgebung noch mit den Prinzipien der Sozialethik zu vereinbaren sind, hält jedenfalls an.
Die Existenz einer Mehrklassenmedizin ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen: Es gibt Patienten mit normaler Sozialversicherung und solche, die sich einen Wahlarzt leisten können bzw. andere, die zusatzversichert sind. Wieviel Diversität ist in der medizinischen Versorgung ethisch gerechtfertigt? Ab wann muss man von struktureller oder faktischer Benachteiligung von Patienten sprechen?
Als Problemfelder im Kontext einer Mehrklassenmedizin wird der zunehmende Ärztemangel genannt, ein unterschiedlicher Zugang zu Gesundheitsleistungen, Ungerechtigkeiten zwischen den sozialen Klassen, Benachteiligung von psychisch Erkrankten, das Privatversicherungssystem, das Krankenkassenbesoldungssystem, ökonomische Interessen usw. Diese und andere Aspekte haben zu einer Unterversorgung in Kassenordinationen und allgemeinen Krankenhäusern geführt, die naturgemäß eine Privilegierung von privat zahlenden Patienten nach sich zieht. Ambulanzen und Kassenordinationen sind zunehmend überlastet, und es bleibt oft nur der Weg in eine Privatordination, um lange Wartezeiten zu vermeiden.
Um das Problem möglicher Ungerechtigkeiten in den Blick zu bekommen, ist es allerdings notwendig, grundsätzlichere Fragen zu stellen: Was soll unter Mehrklassenmedizin (Definition) verstanden werden, wie weit ist sie unvermeidlich und – falls ja – nach welchen Leitprinzipien soll sie erfolgen?
Wolfgang Mazal (Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Universität Wien) zeigt auf, dass es bereits im geltenden Recht eine Vielzahl quantitativer und qualitativer Differenzierungen in der Erbringung von Gesundheitsleistungen gibt. Er analysiert das geltende Recht zur Mehrklassenmedizin und zeigt die Voraussetzungen für eine künftige Entwicklung auf, bei deren Einhaltung eine Mehrklassenmedizin befürwortet werden kann. Verhindert werden muss, dass geringeres Einkommen zu einer schlechteren Versorgung führt.
Wie gut ist unser Gesundheitssystem – unabhängig von potentiell missbräuchlichem Verhalten – aufgestellt und welche Faktoren behindern, dass alle Menschen nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem haben – Stichwort: Bildung, Armut usw.?
Grundsätzlich besteht bei den meisten Autoren dieser Ausgabe von Imago Hominis mit dem Schwerpunkt „Mehrklassenmedizin“ Übereinkunft darin, dass in dringend notwendigen Fällen keine echte Benachteiligung in der medizinischen Betreuung von bestimmten Bevölkerungsgruppen in Österreich besteht. Trotzdem fällt auf, dass auch bei uns erhebliche Ungleichheiten im Gesundheitszustand zwischen und innerhalb der sozialen Klassen festzustellen sind, worauf Walter Pöltner (vormals Sektionschef in der Sektion II im Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) und Georg Ziniel (vormals Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH) in ihrem gemeinsamen Beitrag hinweisen. Denn: Unbeschadet der historischen Verdienste erfülle die soziale Krankenversicherung den sozial ausgleichenden Anspruch nur unzureichend. Es bestehe die Gefahr, dass gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten durch überschießende Rationierung bei fachärztlichen Verträgen verschärft werden, so ihr Befund.
Welche Leitprinzipien werden für die Gestaltung eines Gesundheitssystems gesellschaftlich festgelegt? Dieser Frage geht der Mediziner Gottfried Endel (Dachverband der Sozialversicherungsträger) nach. Je nachdem, ob das Gesundheitssystem als Teil des Wirtschaftssystems eines Landes verstanden wird oder als soziales Gemeingut, wird Mehrklassenmedizin unterschiedlich bewertet. Wilhelm Donner (Dachverband der Sozialversicherungsträger) und der Ethiker Enrique Prat (IMABE) analysieren, ob die Phänomene der Mehrklassenmedizin, die in Österreich zu beobachten sind, ethisch vertreten werden können. Sie ziehen dabei die Prinzipien der Sozialethik heran und untersuchen, ob die gesetzlichen Regelungen diesen Prinzipien Genüge tun. Beide Beiträge beschäftigen sich auch mit dem Missbrauch unseres Sozialsystems.
Der Kostenersatz der Krankenkassen für hochwertige Heilbehelfe oder Spezialbehandlungen ist weitgehend jedem Bürger in unserem Lande zugänglich. Benachteiligt sind allerdings immer noch die Therapien bei psychischen Erkrankungen. Lange Wartezeiten seien gerade in diesem Bereich erschwerend. Wer sich die Kosten der Psychotherapie selbst finanzieren kann, wird schneller gesund, analysiert Peter Stippl (Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie). Es braucht mehr kassenfinanzierte Psychotherapieplätze sowie die Abschaffung der Kontingentierung.
Mit dem Phänomen des Ärztemangels und dessen Ursachen beschäftigt sich Herwig Lindner (Präsident der Steirischen Ärztekammer), wobei er auch das Phänomen der internationalen Fluktuation von Ärzten und Pflegekräften aus den wirtschaftlich schwächeren Ländern in reichere Staaten anspricht.
Letztlich werden in allen Beiträgen auch die positiven Aspekte der Gesundheitsversorgung in Österreich im internationalen Vergleich herausgestrichen, die auf der Basis gesellschaftlicher Solidarität als soziales Gemeingut verstanden wird.
Zu Redaktionsschluss lag noch kein Urteil des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes zur Frage des geltenden Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) sowie der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB) vor. Die Strafrichterin Maria Schörghuber (Wien) begründet in ihrem Beitrag, warum diese Verbote eine tragende Wand im Gebäude des rechtlichen Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes darstellen und daher beibehalten werden sollten.