Elf Monate nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (26.2.2020), mit dem das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (Paragraf 217 Strafgesetzbuch) gekippt wurde, ist Deutschland noch weit von einer gesetzlichen Neuregelung entfernt. In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof der Regierung 12 Monate Zeit gegeben, um die Beihilfe zum Suizid bis Ende 2021 gesetzlich zu regeln. In Deutschland gibt es keine derartige Frist, erwartet wird eine Einigung bis Ende 2021.
Diskutiert wird unter den Vorschlägen ein neues „legislatives Schutzkonzept“, das insbesondere die Freiwilligkeit, Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Selbsttötungswunsches bei einer Suizidbeihilfe sicherstellen soll. Wie diese aber bestimmt werden sollen, ist höchst umstritten.
So hat sich das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) Deutschland in einer eigenen Stellungnahme klar dagegen ausgesprochen, dass Psychiater in einem „Begutachtungsverfahren“ feststellen sollen, ob jemand mit Suizidwunsch diese Kriterien erfüllt. Ein Begutachtungsverfahren, das „dem Ziel gilt, die Gabe eines tödlichen Medikaments zu ermöglichen oder zu verweigern“, sei nämlich keine Unterstützung für Menschen mit Suizidgedanken. Das NaSPro ist ein Netzwerk von mehr als 90 Institutionen, Organisationen und Verbänden zur Suizidprävention.
NaSPro begründet seine Position aus der Suizidforschung: So sei „Suizidalität individuell kein über die Zeit beständiges Phänomen“. Akute suizidale Phasen können mehrfach in einem Zeitraum von Jahren auftreten und auch wieder abklingen. Ein Begutachtungssetting könne aber dieser „Phänomenologie suizidaler Krisen“ nicht gerecht werden. Von allen Personen, die einen „harten“ Suizidversuch überlebt haben, würden mindestens zu 70% keinen weiteren Suizidversuch unternehmen und wieder Lebensmut fassen. „Sie nehmen von einem Suizidwunsch Abstand. Dieses Phänomen ist auch nach versuchten assistierten Suiziden dokumentiert, allerdings nur selten“, heißt es in der Stellungnahme: Bei einem Tod an der Hand von Dritten gibt es in der Regel kein Zurück.
Aus Sicht der NaSPro sei auch nicht geklärt, inwieweit die „Freiverantwortlichkeit“ einer noch nicht durchgeführten Handlung - also ex ante - überhaupt begutachtet werden könne. Es sei zu vermuten, dass nun auch Menschen auf die Beihilfe zum Suizid zurückgreifen werden, die bisher davon Abstand genommen haben, suizidale Handlungen selbst zu vollziehen, heißt es in der Stellungnahme weiter.
Wie komplex Suizidgedanken und Sterbewünsche sind, macht auch eine öffentliche Anhörung des Deutschen Ethikrates deutlich, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 17.12.2020). Geladen waren medizinische Experten u.a. aus den Bereichen Palliativmedizin und Psychiatrie.
„Suizidale Menschen befinden sich oft in einem ambivalenten, belastend erlebten Zustand“, konstatierte Reinhard Lindner von der Universität Kassel und Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland. Viele Menschen litten unter dem Druck, ihr Leben selbst beenden zu müssen. Das Bilanzieren folge oft dem inneren Wunsch nach Begleitung. Einflussfaktoren auf Suizidalität seien unter anderem Verlusterfahrungen anderer Menschen, aber auch Faktoren, die in der Persönlichkeit verankert seien.
„Wir brauchen eine bessere Schulung im Umgang mit Todeswünschen“, forderte Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München. Diese gehörten zum Alltag der Palliativversorgung und wären vielfältig. Sie reichten von der Hoffnung auf das Ende bis zum konkreten Wunsch der Lebensbeendigung. „Sorgen um Autonomieverlust und vor unerträglichem Leiden sowie davor, den Angehörigen nicht zur Last zu fallen, gehören zu den Hauptgründen“, erklärte die Ärztin.
Leider herrsche noch viel zu oft in Deutschland eine wenig sensible und respektvolle Kommunikation mit Patienten vor, hinzu käme eine nicht ausreichende Symptomkontrolle, eine Übertherapie oder ein zu später Beginn von palliativmedizinischen Behandlungen. Dringend notwendig sei eine „breite Schulung im Umgang mit Todeswünschen“, so die Palliativmedizinerin. Ulrich Hegerl von der Uni Frankfurt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, befürchtet, dass eine Enttabuisierung des assistierten Suizids zu einer erhöhten Suizidrate führen wird.
Auf diese Problematik weist auch die Schweizer Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle (Stiftung Dialog Ethik, 14.1.2021) hin: Es sei eine "traurige Erfahrung", dass der Mensch mit einer Tötungsoption nicht umgehen könne. Er habe diese stets zur eigenen Machterweiterung missbraucht, ihr wohne eine "inhärente Tendenz zur Ausweitung inne". Diese zeigt sich auch bei der Suizidbeihilfe in der Schweiz: "Längst geht es dabei nicht mehr nur um eine «Hilfe beim Sterben», sondern auch um die «Hilfe zum Sterben» für das seines Lebens überdrüssig gewordene Individuum." So hat sich in der Schweiz zwischen 2010 und 2018 die Zahl der assistierten Suizide verdreifacht, die Gesamtzahl der Suizide hat sich damit verdoppelt (vgl. Bioethik aktuell, 17.12. 2020).
In der offiziellen Schweizer Todesursachenstatistik wird darüber hinaus mit zweierlei Maß gemessen: Während "harte" Suizide als "vorsätzliche Selbstbeschädigung" geführt werden - in 50 Prozent der Fälle erfolgen Angaben zu Begleitkrankheiten (z. B. Depression) - erscheinen assistierte Suizide in der Todesursachenstatistik bloß als "Begleitumstand des Todesfalls". Ein Tod durch Suizid ohne Beihilfe wird als ursächlich für den Tod angesehen, beim assistierten Suizid werde so getan, als ob es sich um ein "schicksalhaftes Versterben" handeln würde, kritisiert Baumann-Hölzle.