Mir wurde damals deutlich, dass die neue Gesetzgebung die Kultur verändert. Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, fühlten sich in der Gesellschaft abgewiesen und abgewertet. Das brachte mich auf die Idee, etwas zu unternehmen, damit Themen wie Leid, Sinn, Hoffnung und Sterben wieder einen Platz im Leben, in der Kultur und in der Gesellschaft bekommen. So entstand das Projekt Dying to Meet You.
„Uns fehlt eine Kultur des Sterbens, weil wir Sterben ohne Kultur erleben.“ Was meinen Sie damit?
Achtman: Wir erleben in Kanada einen Bruch mit den Traditionen rund um Sterbebeistand und -begleitung. Kulturelle Kompetenzen im Zusammenhang mit Leid, Trauer, Beerdigungen gehen verloren. Ich war in vielen Teilen der Welt und da sieht man, wie bedeutsam und zutiefst menschlich es ist, gemeinsame Rituale für existenzielle Ereignisse des Lebens zu haben. Das verändert sich rasant. In Kanada waren viele Menschen noch nie bei einem Begräbnis, das erste ist das ihrer Eltern. Manche machen überhaupt keine Beerdigungen mehr. Stattdessen erlebt man, dass jemand selbst seinen Nachruf verfasst, bevor er mittels Euthanasie in den Tod geht. Früher sprach man von der Kunst des guten Sterbens. Diese Kunst sollten wir wiederbeleben.
In vielen westlichen Ländern wurde die Tötung auf Wunsch legalisiert. Welches Signal geht damit an Menschen, die sich in einer Krise befinden?
Achtman: Die sogenannte „Sterbehilfe“ vermittelt die Botschaft, dass es besser ist, wenn jemand unter bestimmten Bedingungen nicht mehr lebt – und weil er das ohnehin für sich selbst auch so sieht. Doch Töten kann niemals die richtige Antwort auf den Herzensschrei einer Person sein, egal, welches Leiden sie erlebt. Das vorzeitige und absichtliche Beenden eines menschlichen Lebens ist immer falsch. Wir wissen, dass ein essenzieller Teil des Leidens, weshalb Menschen Euthanasie wünschen, mehr mit existenziellen Leiden als physischen zusammenhängt. Menschen verdienen einen besseren Umgang mit diesem seelischen Leiden. Ich werde immer für die beste Palliativpflege und psychische Betreuung kämpfen. Anderen zu suggerieren, dass ein vorzeitiger Tod die Lösung ist, ist inhuman und keine ethisch vertretbare Antwort auf ihre Leiden.
In Kanada ist MAID bereits die fünfthäufigste Todesursache, mit durchschnittlich 42 Menschen, die täglich durch Tötung auf Verlangen sterben. Es betrifft vor allem ältere Menschen. Was hat sich im Land dadurch verändert?
Achtman: Seit Kanada 2016 Tötung auf Verlangen legalisiert hat, sind die Zahlen in Höhe geschnellt. Allerdings schockiert das viele Kanadier nicht mehr, sie sind abgestumpft und es gibt keine Sensibilisierung. Im Gegenteil: Lobby-Organisationen und Medien haben aktive Sterbehilfe nicht nur normalisiert, sondern geradezu idealisiert und verherrlicht.
Wieso wird die rechtliche Eingrenzung immer mehr aufgelockert?
Achtman: Bei uns passiert, was sich überall beobachten lässt: Es gibt keinen Grund mehr, warum Euthanasie nur für ganz bestimmte Einzelfälle gelten soll. Sobald sie unter bestimmten Bestimmungen erlaubt ist, ist eine Eingrenzung rechtlich kaum aufrechtzuerhalten. Denn sobald die Tötung auf Wunsch als legitimes Mittel zur Linderung von Leiden angesehen wird, gibt es keine rationale Grundlage dafür, dies auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu beschränken. Die Praxis wird zunehmend akzeptiert und beruft sich auf eine fragwürdige „Gleichberechtigung“. Der Leiter des Québec College of Physicians and Surgeons sagte etwa vor einem Ausschuss, dass die Tötung von Babys mit „schweren Missbildungen“ und „ernsten und gravierenden Syndromen“ nach der Geburt angemessen sein könnte.
Wie wirkt sich das auf vulnerable Bevölkerungsgruppen aus?
Achtman: Verheerend. Die „Kriterien der Zulassung für Euthanasie“ werden von immer mehr Mensch erfüllt. Das hat auch das Arzt-Patienten-Verhältnis beschädigt und untergraben: Inzwischen wird Patienten Tötung auf Verlangen häufig ungefragt vorgeschlagen. Kriegsveteranen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung bekamen ungefragt das Angebot für „Sterbehilfe“ statt Psychotherapie oder einen barrierefreien Zugang zu ihrem Haus. Einer Frau, die sich einer Krebsoperation unterziehen sollte, wurde im selben Atemzug „Sterbehilfe“ angeboten. Senioren und Hochaltrige sind so alarmiert, mit welchem Lauffeuer sich Euthanasie verbreitet, dass sich eine ältere Dame den Satz „Tötet mich nicht durch Euthanasie.“ tätowieren ließ.
Befürworter von MAID argumentieren, dass jeder die freie und selbstbestimmte Entscheidung hat, über seinen Tod zu bestimmen. Ist der Wunsch nach Suizid oder Tötung auf Verlangen ein Ausdruck von Autonomie?
Achtman: Wenn jemand Suizidgedanken hat, schauen wir nicht einfach zu, sondern greifen ein und setzen Maßnahmen, um Gesundheit und Leben zu schützen. Jeder Mensch verdient Suizidprävention statt Suizidassistenz. Außerdem schadet und verletzt der Suizid auch immer die Hinterbliebenen; er ist nie rein autonom und ohne Folgen. Ich könnte Ihnen viele Geschichten von den Auswirkungen erzählen, die der vorzeitig gewählte Tod auf Angehörige hat. Unser Leben gehört uns nicht völlig allein. Wir gehören einander.
In der kanadischen Ärztekammer-Zeitschrift berechneten Ökonomen, wie viel Geld durch Euthanasie im kanadischen Gesundheitssystem eingespart werden könnte. Gleichzeitig wird in der öffentlichen Diskussion das Töten von Kranken auf deren Wunsch als Akt von Empathie und Mitgefühl dargestellt. Gibt es da zwei Narrative nebeneinander?
Achtman: Im Oktober 2020, während der Pandemie, veröffentlichte der parlamentarische Haushaltsbeauftragte eine Kostenabschätzung für das Gesetz C-7, in der die Kosteneinsparungen durch die prognostizierte Ausweitung der Euthanasie berechnet wurden. Eine solche utilitaristische Berechnung ist höchst besorgniserregend. Die gleiche Dynamik zeigt sich leider auch innerhalb von Familien. Es gibt keinen schlimmere finanzielle Ausbeutung, als wenn Angehörige den frühzeitigen Tod nahelegen, um Kosten einzusparen. Manchmal werden solche Motive sogar von den älteren Menschen aus altruistischen Gründen befürwortet, weil sie keine Last sein wollen, auch nicht finanziell. Man muss sie vor solchen internalisierten Vorwürfen jedoch schützen. Denn es kann niemals im Interesse eines Menschen liegen, getötet zu werden.
Wie stehen die Ärzteschaft und die Gesundheitsberufe in Kanada zu MAID?
Achtman: In Kanada ist die Ärzteschaft in dieser Frage stark gespalten. Wir wissen, dass im Verhältnis nur wenige Ärzte und Pflegefachkräfte die große Zahl von Tötungen auf Verlangen durchführen. Viele Fachkräfte, insbesondere in der Palliativmedizin, wollen mit MAID nichts zu tun haben und würden niemals einen Patienten töten.
Wie können wir als Einzelperson eine Kultur des Lebens und eine Kunst des Sterbens neu etablieren?
Achtman: Das Wichtigste scheint mir, was jeder tun kann, besteht darin, den Wert jedes einzelnen Menschen zu stärken, in Wort und Tat, damit sich niemand ausgeschlossen, abgewiesen oder abgewertet fühlt. Unsere Haltung gegenüber jeder einzelnen Person – unabhängig von Alter, Gebrechlichkeit oder Prognose – sollte von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung geprägt sein, mit der wir jedem vermitteln: „Es ist gut, dass es dich gibt. Du hast einen Platz in dieser Welt. Ich bin bei dir."
(Das englische Wortspiel in "Dying To Meet You" ist auf Deutsch in etwa wiederzugeben mit: „Ich sterbe vor Sehnsucht, dich zu sehen“)
Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteurin Debora Spiekermann.