Am 24. September 2020 lud der Verfassungsgerichtshof (VfGH) Experten ein, die ihren Standpunkt zur Klage gegen das "Sterbehilfe-Verbot" in Österreich vorbrachten. Vor allem das Verbot der „Mitwirkung am Selbstmord” war Gegenstand der vierstündigen Befragung, das Verbot der „Tötung auf Verlangen” stand nicht zur Debatte. Wann die 14 Höchstrichter des VfGH die Entscheidung fällen, ist offen.
Zentrales Argument der Sterbehilfe-Verfechter: Aufgrund der Rechtslage seien viele unheilbar kranke Menschen zu langem Leiden verdammt – oder eben gezwungen, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu machen, solange sie das noch selbst können. "Im 21. Jahrhundert muss sich der Staat etwas Besseres überlegen, als verzweifelte Menschen zu verleiten, sich im Rollstuhl die Klippe runterzustürzen oder vor den Zug zu werfen", forderte Anwalt Wolfram Proksch (vgl. Standard, online 25.9.2020). Es gäbe ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung. Von der Hilfe anderer abhängig zu sein, sei „entwürdigend“. Und auf Nachfrage: Sein Ziel sei die „völlige Freigabe des Suizids“, also auch etwa die Möglichkeit, dass sich junge, gesunde Menschen, so sie dies wünschten, gegenseitigen bei der Selbsttötung helfen könnten. Proksch setzt sich auch für die legale Tötung auf Verlangen ein. Er vertritt - auf Geheiß des Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas - jene vier Mandaten, durch die die Verbote in Österreich zu Fall gebracht werden sollen. Auch Dignitas-Vertreter Silvan Luley wurde angehört.
"Warum will man von Ärzten und anderen im Medizinbereich Tätigen verlangen, dass sie assistierten Suizid leisten?", gibt die ehemalige SPÖ-Politikerin und Ärztin Elisabeth Pittermann am Tage der Anhörung in einem Kommentar im Standard (online, 24.9.2020) zu bedenken. Offenbar solle der Anschein einer klinischen sauberen Behandlung gewahrt werden, so die ehemalige Wiener Gesundheitsstadträtin. Sie war ebenfalls als Expertin vor den VfGH geladen. "Das Töten von Menschen ist ein Tabubruch, eine menschliche Gesellschaft braucht Tabus. Tabulos soll man durchaus diskutieren, aber nicht handeln. Unter all dem Druck, der im Gesundheitssystem auf den Mitarbeitern lastet, ist es unzumutbar ihnen eine Beihilfe zur Tötung aufzubürden", betont die Ärztin. Pittermann ist jüdischer Abstammung und bezeichnet sich explizit als "nicht religiös".
Sowohl Proksch als auch Luley argumentierten erneut, dass es durch eine Liberalisierung insgesamt weniger Suizide in der Schweiz gegeben hätte. Damit sollten die von der Regierung ins Spiel gebrachten Missbrauchs-Bedenken zurückgewiesen werden. Allerdings hielt diese Behauptung den vorgebrachten Fakten nicht stand.
Bei einer annähernd gleichen Bevölkerungszahl gab es in Österreich im Jahr 2017 1.224 Suizide, in der Schweiz jedoch mit 2.052 Suiziden wesentlich mehr: 1043 Fälle von "normalem" plus 1.009 Fälle von „assistiertem" Suizid, wie das Schweizer Bundesamt für Statistik, Tabelle vom 16.12.2019 ausweist. Damit gebe es in der Schweiz „unterm Strich eine Verdoppelung” der Suizidrate durch die Sterbehilfe, wie der Chef des Verfassungsdienstes im Kanzleramt, Albert Posch, im Zuge der Anhörung betonte.
Herbert Watzke, Leiter der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin an der Medizinischen Universität Wien, betonte, dass selbstbestimmtes Sterben schon heute in Österreich möglich sei. Jeder Patient habe das Recht eine Behandlung abzulehnen, selbst wenn sie medizinisch sinnvoll und notwendig wäre, um einen vorzeitigen Tod zu verhindern. Immer aber sei es Aufgabe der Medizin und Pflege, alles zu tun, damit der Patient möglichst wenig Schmerzen habe. "Immer noch fürchten sich Patienten davor, dass sie ersticken müssen" führte Watzke aus. Heute könne man dank der Palliativmedizin solche Szenarien verhindern. Menschen in Not müssen wissen, dass ihre Schmerzen immer gelindert werden können - bis hin zur Möglichkeit einer palliativen Sedierung, bei der der Patient auf Wunsch in einen entspannenden Schlafzustand versetzt wird, aus dem man ihn jederzeit zurückholen könne. Wo die Angst vor den Schmerzen verschwinde, verschwinde auch in praktisch allen Fällen der Tötungswunsch, betont der Palliativmediziner.
In der ORF-TV-Debatte Im Zentrum (27.9.2020) betonte Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates und selbst Rollstuhlfahrer, dass Menschen sich nicht vorstellen könnten, dass man trotz Beeinträchtigung glücklich sein könne, "vielleicht sogar noch glücklicher als sie selbst". Er warnte vor dem "Öffnen der Büchse der Pandora" und verwies auf negativen Entwicklungen bei der aktiven Sterbehilfe in Belgien und den Niederlanden.
IMABE bietet Informationsangebote zur laufenden Debatte im Dossier Sterbehilfe. Eine kompakte Übersicht zum Thema "In Würde sterben - Der Österreichische Konsens" finden Sie auf der Webseite www.lebensende.at. Sie haben hier die Möglichkeit den Österreichischen Konsens zu unterstützen.