Bioethik aktuell: Bräuchten wir solche Roboter?
Arne Manzeschke: Um das zu beantworten, müssen wir uns zuerst fragen, was wir eigentlich für die Pflege wollen. Wollen wir das Pflegepersonal entlasten, dann ist es sicherlich gut, Systeme zu haben – das müssen nicht unbedingt Roboter sein – die beispielsweise beim Mobilisieren helfen. Bereits bestehende Beispiele sind intelligente Betten oder Systeme, die Transporte übernehmen. Diese Systeme müssen nicht freundlich mit den Menschen reden. Es gibt aber die Vorstellung, Menschen, die einsam sind, kognitiv eingeschränkt sind oder Gesellschaft suchen, einen technischen Ersatz anzubieten, weil uns das menschliche Personal fehlt. Eine Einführung solcher Systeme käme einem Ersatz für menschliche Nähe gleich.
Bioethik aktuell: Ist dieses Szenario zukunftsträchtig: menschliche Nähe durch Maschinen zu ersetzen?
Arne Manzeschke: Zahlreiche Studien bestätigen, dass für den Heilungserfolg nicht nur Medikamente, sondern auch der zwischenmenschliche Aspekt sehr relevant ist. Wenn wir davon ausgehen, dass menschliche Zuwendung sehr wichtig ist, dann sollten wir diesen Aspekt nicht ersetzen. Stattdessen sollten wir überlegen, wie wir die Pflege so gestalten können, dass Menschen Zeit haben, sich Pflegebedürftigen zuzuwenden. Umgekehrt könnte man sich fragen, welche Aufgaben von nicht-menschlicher Technik ersetzt werden könnten, ohne einen Verlust von Zuwendung zu erzeugen.
Bioethik aktuell: Könnten Sie auf diesen Aspekt noch näher eingehen: Was unterscheidet uns als Menschen von intelligenter Technik? Welchen besonderen Wert hat die Mensch-Mensch-Interaktion?
Arne Manzeschke: Als Menschen lernen wir, was Sorge heißt: Für einen anderen Menschen da sein und seine Angelegenheiten – mit dem gebotenen Respekt – zu unseren zu machen. Dabei verantworten wir uns, d. h. wir geben Antwort auf die Frage des Anderen. Durch diese Fähigkeit können wir reichhaltige Interaktionen und tragfähige Beziehungen aufbauen. Häufig wird an Maschinen ihre endlose Geduld gepriesen. Sie könnten, wenn beispielsweise ein Pflegebedürftiger mit Demenz 25-mal die gleiche Frage stellt, immer geduldig die gleiche Antwort geben. Hier handelt es sich meiner Meinung nach um ein Missverständnis. Der Roboter ist nicht geduldig. Er ist einfach so programmiert, und es wäre wundersam, wenn er etwas anderes machen würde. Dass Menschen beim 25sten mal die Geduld verlieren, ist menschlich. Es könnt aber auch dazu führen, dass Menschen sich einmal etwas anderes einfallen lassen, als 25-mal die gleiche Antwort zu geben. Daraus würde eine Beziehung fördernde Interaktion entstehen. Diese Art der menschlichen Beziehung ist reichhaltiger als vorprogrammierte Antworten zu produzieren. Das ist das Mehr der menschlichen Beziehungsfähigkeit.
Bioethik aktuell: Wachsende technische Möglichkeiten werden gerne per se mit Fortschritt gleichgesetzt oder zumindest als wertneutral dargestellt. Ist das so?
Arne Manzeschke: Nun, wir müssen uns fragen, was sie mit dem Menschen machen. Der Einsatz von Technik kann dazu verleiten, sich von dieser Zuwendungsaufgabe dispensiert zu fühlen. Verlernen Einzelne, verlernt da nicht die Gesellschaft einfühlsam zu sein und sich zu zuwenden, es auszuhalten, auch wenn es anstrengend wird? Diese Fähigkeit zu haben und sie auch durchzuhalten, anstatt zu sagen, das ist uns alles zu anstrengend, gehört zu unserer Menschlichkeit. Was für eine Gesellschaft werden wir, wenn wir meinen, diese Aufgaben nicht übernehmen zu müssen, sondern an Technik delegieren zu können? Verlieren wir dabei nicht etwas, was uns eigentlich als Menschen ausmacht?
Bioethik aktuell: Im ethischen Diskurs über den Einsatz von Technik in der Pflege dominieren häufig utilitaristische Prinzipien. Nach welchen ethischen Prinzipien müssen Roboter und KI bewertet und gestaltet werden, um das Patientenwohl zu gewährleisten?
Arne Manzeschke: Der Utilitarismus ist eine ethische Theorie, nach der Handlungen als wünschenswert bewertet werden, wenn sie den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Summe von Menschen erzeugen. Der Utilitarismus oder ein Denken das Nutzen und Effizienz für die Massen priorisiert, besitzt eine nur vordergründige Plausibilität. Die individuelle Not des Einzelnen kann nie so stark priorisiert werden, weil sie in der Masse der Summenformel verschwindet. Das ist meines Erachtens ein Problem. Ich hingegen halte mich eher an Kant, und sage, Menschen haben Würde. Diese Würde kann nicht gegen andere Menschenwürden aufgerechnet werden. Als kantischer Ethiker bin ich also aufgefordert zu fragen: Was ist meine moralische Pflicht diesem Anderen gegenüber? Ich glaube, dass man mit diesen ethischen Ansätzen weiterkommt, gerade im Bereich von Pflege und sozialer Arbeit, weil wir da darauf abzielen, nicht nur einen Nutzen für die Masse zu produzieren, sondern dem einzelnen Menschen und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das Prinzip der Massentauglichkeit ist nur auf den ersten flüchtigen Blick plausibel.
Bioethik aktuell: Was bedeutet das konkret, wenn es um die Pflege geht?
Arne Manzeschke: Bei Pflegehandlungen gilt es zu fragen: Welche Verantwortung obliegt mir für den anderen? Unter bestimmten Umständen sind Menschen entweder nicht mehr in der Lage, wortstark ihre moralischen Ansprüche zu stellen oder aufgrund bestimmter Umstände dazu geneigt, gar keine Ansprüche mehr zu stellen. Gerade in solchen Fällen aber müssen wir aus einer überzeugenden ethischen Position wie etwa dem Prinzip der Menschenwürde sagen, dass Pflegebedürftigen gewisse Ansprüchen unabhängig davon zukommen, ob sie diese selbst einfordern.
Menschen im Pflegeheim geben unter Umständen resignierend auf und sagen: „Ich rufe das Personal schon gar nicht mehr, alle haben so viel zu tun. Und deswegen erwarte ich hier auch gar nichts mehr.“ Dazu könnte man einfach sagen „Gut, der Patient braucht nicht mehr Zuwendung, dann passt es auch so.“ Aus einer ethischen Position heraus, die nicht vom Effizienzaspekt getrieben ist, muss man sagen: So eine minderwertige Behandlung passt nicht! Wir dürfen unsere eigenen moralischen Ansprüche nicht verraten.
Bioethik aktuell: Wie kann sichergestellt werden, dass in unserem Gesundheitssystem ein ethischer Umgang mit Patienten gewahrt wird, wenn KI im Versorgungssystem eingesetzt wird?
Arne Manzeschke: Wir müssen uns eindringlich fragen, wie wir einen intelligenten Mix aus Mensch und Technik gestalten, um diese große Aufgabe zu bewältigen. Um das gut zu meistern, müssen jene, die die Technik entwickeln und die, die sie einsetzen, im intensiven Austausch miteinander stehen. Dabei muss gefragt werden: Welche Technik brauchen wir, damit sie im Dienst am Patienten – oder auch des Personals – steht? Was müssen wir für den erfolgreichen Einsatz solcher Technik lernen? Das ist meines Erachtens ein zentraler Punkt. Einfach einen Roboter hinzustellen und zu hoffen, dass jetzt alle entlastet sind, wird nicht funktionieren. Für einen konstruktiven Einsatz werden Lernzeiten, Monitoring, Reflexion der Anwendung und Unterstützung des Personals zentral sein. Dies muss im Vorhinein bedacht und geplant werden, sonst wird es keine Zeit geben, sich damit vertraut zu machen, und die hochentwickelte Technik wird ungenutzt in der Ecke stehen.
Bioethik aktuell: Was sind Ihre größten Bedenken in Bezug auf die verstärkte Integration von Technologie in die Pflege? Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Pflege?
Arne Manzeschke: Meine größten Bedenken sind tatsächlich, dass wir diesen Lernprozess nicht hinkriegen und dass dann die Frustration sehr groß sein wird. Die Personalnot ist groß, die Technik scheint nicht zu helfen und der Pflegebedarf ist enorm. Ich würde mir daher wünschen, dass die Pflege dieses Thema offensiv angeht und es beherzt mitgestalten möchte. Ich erlebe bezüglicher dieser Themen immer noch sehr viel Zurückhaltung und Ignoranz. Es gib eine heroische Geste, die sagen will: „Technik brauchen wir nicht, es geht ja um Menschen.“ Das ist meines Erachtens eine Illusion. Ich würde mir wünschen, dass die Pflege als Berufsgruppe ein realistisches Bild von ihrer eigenen Profession und Leistungsfähigkeit entwickelt mit der Einsicht, dass es in Zukunft Technik geben wird und braucht, die tatsächlich helfen kann. Und dass es auch Aufgabe dieser Berufsgruppe ist, Forschung, Entwicklung und Anwendung dieser Technik aus der eigenen professionellen Perspektive verantwortungsvoll mit zu gestalten.
Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteurin Debora Spiekermann.