Indikation „Mädchen“, Therapie „Abtreibung“: In Indien und China führt die selektive Abtreibung von Mädchen zu massiven demographischen und sozioökonomischen Problemen. Laut dem State of the World Population 2020 der UNO fehlten im Jahr 2020 in China 72 Millionen Frauen, in Indien knapp 46 Millionen und weltweit 140 Millionen Frauen aufgrund vorgeburtlicher oder späterer Kindestötung.
Alleine zwischen 1987 und 2016 sollen in Indien bis zu 22 Millionen Mädchen wegen ihres „falschen“ Geschlechts abgetrieben worden sein. Das geht aus einer aktuellen, in The Global Lancet Health (2021: 9, ISSUE 6, e813-e821 DOI: https://doi.org/10.1016/S2214-109X(21)00094-2) publizierten Studie hervor. Die Autoren warnen vor dramatischen demographischen Auswirkungen in den kommenden Jahrzehnten, sollte es zu keiner Reduktion der geschlechtsbedingten Abtreibungen kommen.
Laut Prognose einer internationalen Demographie-Forschergruppe unter österreichischer Beteiligung (vgl. PLoS ONE (15(8): e0236673. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0236673) werden in Indien wegen gezielter Abtreibungen von Mädchen zwischen 2017 und 2030 knapp sieben Millionen weniger weibliche Babys geboren werden. Indien ist mit 1,3 Milliarden Einwohnern das weltweit zweitbevölkerungsreichste Land nach China. Der Überschuss an heiratsfähigen Männern ist bereits jetzt ein destabilisierender Faktor für die beiden Länder. Gewalt an Frauen und geopolitischer Nationalismus steigen (vgl. Chatham House, 2.4.2021).
„Es ist wichtig, dass Gesetze weltweit die diskriminierende Praxis der geschlechtsselektiven Abtreibung verbieten", betont die Wiener Ethikerin Susanne Kummer (IMABE). Indirekt werden diese Bemühungen laut Kummer aber derzeit konterkariert. „Es stellt sich die Frage, wie wir erreichen können, dass Frauen und Ungeborenen effektiv geholfen und ein kulturell lebensbejahendes Umdenken eingeleitet wird, gleichzeitig aber eine Anerkennung von 'Abtreibung als Menschenrecht' propagiert wird“, gibt die Ethikerin zu bedenken.
Wenn ein Schwangerschaftsabbruch rechtlich gesehen nur unter bestimmten Bedingungen straffrei ist, dann deshalb, weil vor dem Recht alle Menschen gleiche Würde und Schutz genießen. Das ist die Grundlage der Demokratie. „Wo immer eine Personengruppe sich herausnimmt, einer anderen Personengruppe das Grundrecht auf Leben abzusprechen, kommen wir als Gesellschaft in eine gefährliche Schieflage“, so die Ethikerin.
Auch China kämpft seit Jahren mit einem eklatanten Frauenmangel. Ein natürliches Geschlechterverhältnis liegt laut WHO im Schnitt bei 105 (zwischen 103 und 106) Buben zu 100 Mädchen. In Indien liegt sie bei 111,6 in China bei 111,9. Aus Kostengründen bekommen viele Chinesen immer noch nur ein Kind – und dann einen Buben –, obwohl die staatliche Ein-Kind-Politik 2016 aufgehoben wurde. In der Volksrepublik bleiben jährlich rund 1,2 Millionen Männer auf dem Heiratsmarkt übrig.
In Europa ist der sog. Genderzid ebenfalls ein Problem. In der Schweiz hat 2018 der Bundesrat im Rahmen der Novellierung des Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) verboten, das Geschlecht vor der 12. SSW mitzuteilen bzw. auch im Falle der Gefahr einer Abtreibung nur wegen des Geschlechts (vgl. Bioethik aktuell, 9.10.2017). In Norwegen, Schweden und Großbritannien gibt es bei Einwanderern aus asiatischen Kulturkreisen vor allem beim zweiten oder dritten Kind eine erkennbar bubenlastige Geburtenquote, was als typisches Indiz für eine vorgeburtliche Geschlechtsauswahl gilt.
In den Balkanstaaten ist die Tötung von ungeborenen Mädchen ebenfalls signifikant hoch: Im Kosovo werden 110,7 Buben pro 100 Mädchen geboren, in Albanien sind es 108,9, in Mazedonien 110,4 und in Montenegro 108,8. Das berichtete der Demograph Christophe Z. Guilmoto, Direktor des Forschungsinstitut für Bevölkerung und Entwicklung kürzlich in Paris (vgl. UNFPA, 12.3.2021 Konferenz Gender biased Sex Selection). „In Ländern von Albanien bis China gibt es in der Gesellschaft eine sehr starke Präferenz für Söhne. Wer nur eine kleine Familie haben will oder darf, muss wählen und entscheiden. Und wenn die Technologie zur Verfügung steht, werden sich viele für eine Selektion entscheiden, wenn das erste oder zweite Kind nicht ein Junge war“, so der Demographie-Forscher.
Der Genderzid macht Frauen aller Altersgruppen zu Opfern: von Mädchen, die nicht leben dürfen, bis hin zu Frauen und Müttern, die indirekt unter den Folgen der Geschlechterungleichheit leiden, betont Ethikerin Kummer. „Wo ungeborenen Kindern generell das Lebensrecht entzogen wird, entsteht ein gefährliches Machtgefälle, das Demokratie und Menschenrechte in ihren Fundamenten aushöhlt“. Kummer bezieht sich dabei kritisch auf den aktuellen Matic-Report (21-05-2021 A9-0169/2021). Unter Federführung des kroatischen Sozialisten Pedrag Fred Matic soll darin in der EU Abtreibung zum Menschenrecht erklärt und die Gewissensfreiheit von Ärzten untergraben werden. Am 23. Juni 2021 soll im Plenum des EU-Parlaments über den Matic-Report abgestimmt werden.