Der ehemalige CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn beauftragte 2019 eine wissenschaftliche Studie zu den psychischen Folgen von Abtreibungen. Mit dem Regierungswechsel 2021 wurde jedoch das Studiendesign verändert. Nun standen im Rahmen der sogenannten ELSA-Studie (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung) die Lebenslagen und Bedürfnisse ungewollt Schwangerer, ihr Unterstützungs- und Versorgungsbedarf sowie die Versorgungsstrukturen im Fokus.
ELSA-Studie spricht von „Versorgungsmangel“ und „Stigmatisierung“
Die ersten Zwischenergebnisse samt politischer Forderungen wurden im Rahmen einer Online-Veranstaltung am 10.4.2024 präsentiert. Frauen würden sich demnach schuldig führen, weil die Verhütung nicht geklappt hat und die Gesellschaft ihr dafür die Verantwortung zuschreibe. Zudem stünden Frauen wegen Abtreibungen unter sozialem Druck („Stigmatisierung“). Daher brauche es, so Studienleiterin Daphne Hahn (Hochschule Fulda) eine „gesellschaftliche Haltung, die Abbrüche als medizinische Grundversorgung anerkennt“ (TAZ, online 10.4.2024).
Keine Erreichbarkeit einer Einrichtung innerhalb von 40 Minuten bedeutet Versorgungslücke
Ungewollt Schwangere würden außerdem an einem unzureichenden Angebot an Abtreibungsmöglichkeiten leiden. Das von den Studienautoren festgelegte Kriterium für eine angemessene Erreichbarkeit lautet, dass ungewollt Schwangere innerhalb von 40 Minuten keine Einrichtung erreichen können, die einen Abbruch durchführt. Gleichzeit hält Hahn jedoch fest, dass alle in der Studie befragten Frauen, die abtreiben wollten, den Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen konnten. Die Soziologin war bis 2017 auch Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Familienplanung und Sexualberatung Pro Familia – einem Mitglied des Dachverbands International Planned Parenthood Federation (IPPF), einem der größten Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen weltweilt.
„Recht auf Abtreibung“ von Beratungshilfen für Schwangere in Not wurde nicht untersucht
Die ELSA-Studie hat aufgrund des verwendeten Studiendesigns, der einseitigen Fragestellungen und verzerrten Stichproben eine geringe Aussagekraft. Daraus politische Schlussfolgerungen für die Allgemeinheit zu ziehen, sei „unredlich“, erklärt IMABE-Direktorin Susanne Kummer in einer Stellungnahme gegenüber Kathpress (11.04.2024). So kritisiert Kummer, wie in der ELSA-Studie mit dem Thema „Versorgungslage“ umgegangen wird. Dabei ginge es ausschließlich um die „Versorgung mit Abtreibungsmöglichkeiten“. Im Gegensatz dazu hat man nicht berücksichtigt, wie es um die Versorgung an Hilfen für Schwangere in Not oder für Frauen, die ein Kind mit Behinderung erwarten, steht, betont die Ethikerin, die hier einen „blinden Fleck“ in der Studie ortet. Auch deren Stigmatisierung hätte behandelt werden müssen.
IMABE stellt geringen Evidenzgrad und einseitige Fragestellungen fest
Der Verdacht liege nahe, dass die Fragestellungen bereits in Hinblick auf die erwünschten Ergebnisse zugeschnitten worden seien, kritisiert die IMABE-Direktorin. So sehen sich Frauen heute häufig unter einem starken sozialen Druck, wonach ein Kind mit Behinderung doch heute "nicht mehr nötig sei“. Ob sie im Umkreis von 40 Minuten ein entsprechendes Hilfs- und Beratungsangebot gefunden haben, wurde von der ELSA-Studie nicht untersucht. Zudem handelt es sich bei der ELSA-Studie um eine retrospektive Fall-Kontrollstudie. Diese hat nach wissenschaftlichen Kriterien nur einen sehr geringen Evidenzgrad. In den Auswertung wurden Frauen einbezogen, bei denen das Ereignis der Abtreibung bis zu 30 Jahre zurücklag.
Mögliche negative psychische Folgen für Frauen nicht berücksichtigt
Die ELSA-Studie behauptet, dass es „langfristig keinen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der Frau“ gäbe, ob eine „ungewollte Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen“ wird. Diese Aussage ist nicht stichhaltig und widerspricht Studien mit hohem Evidenzgrad, die von den Autoren offenbar nicht berücksichtigt wurden. So hat etwa David Fergusson, selbst ein Abtreibungsbefürworter, bei Frauen nach Schwangerschaftsabbruch ein signifikant höheres Risiko für psychische Beeinträchtigung wie etwa häufigere Entwicklung von Depression, Suchtverhalten oder erhöhtes Suizidrisiko festgestellt (IMABE-Studienreihe: Schwangerschaftsabbruch und psychische Folgen, Juni 2023).
Wenn Frauen allein gelassen werden, ist auch keine Selbstbestimmung möglich
Dringend nachgehen sollte man jenem Hinweis der Studie, wonach Frauen, die abtreiben, vermehrt partnerschaftliche und finanzielle Probleme haben. Dieses Ergebnis deckt sich mit anderen Studien (Bioethik aktuell, 05.06.2023), die zeigen, dass bis zu 60 Prozent der abtreibenden Frauen sich rückblickend im Falle entsprechender Unterstützung für das Kind entschieden hätten. Ähnlich viele berichten von Druck in Richtung Schwangerschaftsabbruch durch den Partner, der kein Kind wollte. „Nehmen wir als Gesellschaft das Konzept der Selbstbestimmung ernst, müssen wir fragen wie man Frauen am besten unterstützt, damit sie trotz Schwierigkeiten das Kind zur Welt bringen können“, so Kummer.
Politischer Druck in Hinblick auf ein fragwürdiges „Recht auf Abtreibung“ wächst
Das EU-Parlament sprach sich am 11.04.2024 in einer Abstimmung mehrheitlich für die Aufnahme eines „Rechts auf Abtreibung“ in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aus. Die Entschließung ist rechtlich nicht bindend, hat aber eine klare gesellschafspolitische Signalwirkung. Eine Änderung der Grundrechtecharta kann nur im Rat der EU mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfolgen.
Auch Deutschland geht in eine ähnliche Richtung: Die von der deutschen Bundesregierung eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin - ELSA-Studienleiterin Daphne Hahn zählt zu den Mitgliedern - präsentierte zeitgleich am 12. April wenig überraschend in ihrem Bericht vom April 2024 ihre Empfehlungen, wonach die Abtreibung erst ab der eigenständigen Lebensfähigkeit des Fötus rechtswidrig sein sollte. Gesetzlich geregelte Ausnahmen, etwa im Falle einer medizinischen Indikation, sollten auch Abtreibungen zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen. Der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 12 Wochen soll aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, so die Forderung.
Kritiker warnen vor einem Aufschnüren eines mühsamen politischen Kompromisses zur Abtreibung
Der deutsche Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl warnte vor einem Aufschnüren des geltenden deutschen Abtreibungsrechts. „Wenn mühsam gefundene politische und gesellschaftliche Kompromisse in dieser Frage aufgekündigt werden, wird darunter nicht nur das ungeborene Leben zu leiden haben, sondern am Ende auch Frauen selbst“, so das Mitglied des Deutschen Ethikrats (Neue Osnabrücker Zeitung, 12.4.2024). Die bisherige Regelung in Deutschland, dass Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen zwar illegal, aber straffrei sind, sei ein „sinnvoller Ausgleich zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau“, der nicht zunichtegemacht werden sollte.
(Update 25.4.2024)