Aktive Sterbehilfe zählt nicht zur grundmedizinischen Versorgung. Die sog. „Lebensende-Klinik“ in Amsterdam hatte aufgrund der Corona-Krise von Mitte März bis Mitte Mai geschlossen. Sie begründete ihre Maßnahme damit, dass „Euthanasie während der Covid-19-Krise keine Priorität“ habe. Dass es keine Proteste gegen die Schließung des Expertise Center for Euthanasia gab, auch keine öffentliche Debatte, hält der Medizinethiker Theo Boer für überraschend. In den Niederlanden gilt Sterbehilfe als Recht und „als letztes, höchst wirksames Mittel gegen schweres Leiden“, so Boer (vgl. Nederlands Dagblad, online, 3.5.2020).
Geht es nach dem niederländischen Medizinethiker Boer, dann könnte Covid-19 einen Perspektivenwechsel ermöglichen: Ältere und gebrechliche Menschen wurden nun nicht bloß als Last gesehen, sondern als Menschen, für die man bereit ist, viel zu investieren, damit sie nicht Opfer einer Pandemie werden. Damit habe Covid-19 die Realität des Todes, die Notwendigkeit, für andere zu sorgen und von anderen gepflegt zu werden, wieder mitten in die eigenen vier Wände gebracht. „Die Kostbarkeit aller Leben und die Tragödie aller Todesfälle wurde real“, betont Boer. Er war Mitglied der staatlichen Euthanasie-Prüfungskommission. 2014 trat Boer zurück und ist heute einer scharfer Kritiker der niederländischen Praxis aktiver Sterbehilfe (vgl. Die Zeit, online, 26.2.2020).
In den Niederlanden hatten Palliativversorgungseinrichtungen während der Covid-19-Pandemie nicht geschlossen. „Euthanasie, wie sie in den Niederlanden genannt wird, stellt keinen Grundauftrag der medizinischen Versorgung dar, Palliative Care hingegen schon“, ergänzt die Wiener Bioethikerin Susanne Kummer. In Zeiten von Covid-19 kann damit der ursprüngliche Begriff ‚Hilfe für ein würdiges Sterben‘ wieder in den Fokus rücken: „Wer in einer existentiellen Krisensituation wie Krankheit und Hochaltrigkeit einen Sterbewunsch äußert, braucht keine Hilfe zur Selbstauslöschung, sondern heilsame Begegnungen, Schmerzlinderung, Zuwendung und Beistand. Darin zeigt sich echte Sterbehilfe“, betont Kummer.
Beim Expertise Center for Euthanasia suchen vor allem jene Patienten an, deren Hausärzte einen Antrag auf Sterbehilfe bereits abgelehnt hatten. 2016 fanden hier 75 Prozent der Tötungen auf Verlangen bei Patienten mit psychischen Erkrankungen statt. Insbesondere bei Demenzerkrankten steigt die Nachfrage. Einem Gerichtsurteil zufolge ist die Tötung auf Verlangen bei Demenzerkrankten erlaubt (vgl. Bioethik aktuell, online, 4.5.2020) Nach eigenen Angaben hatte das Expertise Center for Euthanasia im Jahr 2019 3.122 Anfragen, das ist eine Steigerung von 22 Prozent gegenüber 2018. In 898 Fällen wurde 2019 eine Tötung auf Verlangen durchgeführt.
Die Salzburger Bioethik Dialoge widmen sich am 9./10. Oktober 2020 dem Thema „Modernes Sterben: Aufgaben und Grenzen der Medizin am Lebensende“. ReferentInnen sind u. a. Theo Boer (Medizinethiker, Protestantische Universität, Groningen), Udo di Fabio (Bundesverfassungsrichter a. D., Bonn), Susanne Kummer (Ethikerin, Imabe, Wien), Veronika Mosich (Ärztliche Leiterin Hospiz Rennweg, Wien), Markus Müller (Rektor der MedUni Wien), Kurt Schmoller (Professor für Strafrecht, Universität Salzburg), Thomas Szekeres (Präsident der Österreichischen Ärztekammer) und Herbert Watzke (Leiter der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin, MedUni Wien). Näheres zum Programm unter diesem Link.