Das Karolinska-Universitätskrankenhaus in Stockholm hat eine neue Leitlinie zur Therapie von Minderjährigen mit sog. Geschlechtsdysphorie (GD) herausgegeben. Seit Mai 2021 dürfen keine Medikamente mehr zur Unterdrückung der Pubertät oder gegengeschlechtliche Hormonbehandlungen bei Patienten unter 18 Jahren verschrieben werden. Die Uniklinik warnt davor, dass diese Behandlungen „irreversible negative Folgen“ haben könnten. Einzige Ausnahme bilden streng kontrollierte klinische Studien, die nur nach Genehmigung durch den schwedischen Ethikrat durchgeführt werden dürfen. Das berichtet die Society for Evidence based Gender Medicine (8.5.2021).
Damit distanziert sich erstmals eine weltweit renommierte Universitätsklinik vom international empfohlenen sog. „Dutch Protocol“. Dieses wird als Leitlinie propagiert und basiert auf einer einzigen niederländischen Studie bei 55 Jugendlichen ohne entsprechende wissenschaftliche Standards. Darin werden medikamentöse Therapien bei GD ab einem Alter von 12 Jahren (bei Mädchen ggf. schon ab 8 Jahre) empfohlen, um eine sog. „Gender-Affirmation“ – gemeint ist de facto eine Geschlechtsumwandlung (Transsexualität) – schon vor der Pubertät irreversibel einzuleiten. Schweden ist nicht mehr gewillt, dieses nicht evidenz-basierte Methode mitzutragen. Das eindeutige biologische Geschlecht schon bei Kindern und Jugendlichen zu manipulieren, wird als rein experimentelle und nicht ausreichend wissenschaftlich abgesicherte Methode abgelehnt. Auch sollen keine geschlechtsspezifischen Operationen mehr bei Jugendlichen unter 18 Jahren durchgeführt werden.
Zwei aktuelle Berichte des schwedischen National Board of Health and Welfare (Entwicklung der Diagnose Geschlechtsdysphorie (2020) und Pubertätshemmende und gegengeschlechtliche Pharmakotherapie bei Geschlechtsdysphorie (10/2021)) haben vorschnelle GD-Therapie einer wissenschaftlichen Prüfung unterzogen. Die Ergebnisse führten nun in Schweden zu einem Umdenken. Bis Mai 2022 soll eine endgültige klinische Leitlinie für Schweden vorliegen. Die von der Karolinska herausgegebenen Richtlinien beruft sich zudem auf die britische NICE-Evidenzprüfung (März 2021), die das Risiko-Nutzen-Verhältnis von hormonellen Interventionen für Minderjährige als zu unsicher beurteilte, sowie Schwedens eigene im Jahr 2019 durchgeführte Evidenzprüfung für Health and Technology Assessment (SBU).
Der Hintergrund ist ernst: Viele Länder verzeichnen einen rasanten Anstieg von Kindern und Jugendlichen, die eine Geschlechtsidentitätsstörung aufweisen und sich im falschen Körper fühlen. Alleine in Schweden wurde zwischen 2006 und 2018 bei 5.725 Personen eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert. 1.381 Personen waren zum Zeitpunkt der Diagnose jünger als 18 Jahre alt. Auffallend ist der im selben Zeitraum enorme Anstieg der Fälle von 13- bis 17-Jährigen Mädchen (1.500%!). Die Hälfte aller GD-Neudiagnosen zwischen 2013 bis 2018 betrifft Jugendliche unter 16 Jahre (51%).
Bislang hatten vor allem Ärzte und Psychologen aus dem anglo-sächsischen Raum kritisiert, dass Minderjährigen mit Geschlechtsidentitätsproblemen vorschnell medikamentös und hormonell behandelt würden (vgl. Bioethik aktuell, 13.1.2020 und Bioethik aktuell, 6.5. 2019). Sie warnten davor, dass belastbare Daten fehlen, um den Nutzen solcher frühzeitiger Eingriffe im Vergleich zu den Risiken, Nebenwirkungen und Langzeitfolgen zu rechtfertigen (vgl. Stellungnahme des Royal College of General Practitioners 2019). Auch Psychotherapeuten kritisierten die explosionsartig zunehmende Diagnose von Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. Studien haben gezeigt, dass es sich bei rund 85 Prozent der Kinder um ein vorübergehendes Phänomen handelt. Die Symptome verschwanden bei angemessener psychotherapeutischer Begleitung, die Kinder lernten ihre biologische Eigenart zu akzeptieren und waren nach Abschluss der Pubertät emotional stabil. Weder Hormonbehandlung noch irreversible chirurgische Eingriffe für eine Geschlechtsumwandlung, die viele andere inzwischen bereuen, waren nötig.
Außerdem wiesen Jugendliche mit Geschlechterdysphorie überproportional häufig psychiatrische Begleitdiagnosen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche auf. Insbesondere bei den 13- bis 17-Jährigen Mädchen hatten viele bereits im Vorfeld eines etwaigen transsexuellen Problems Vordiagnosen von Angststörung, Depressionen, ADHS oder Autismus. Der Bericht fordert, dass dieser hohe Anteil psychiatrische Begleitdiagnosen bei auftretender Geschlechtsdysphorie noch genauer untersucht werden muss, um den Kindern eine adäquate Therapie ihrer eigentlichen Probleme zukommen lassen zu können (vgl. Vardfokus, online 13.2.2020).
In Frankreich wandten sich inzwischen mehr als 50 Mediziner, Psychiater, Pädiater und Psychologen gemeinsam mit prominenten Feministinnen, Philosophen, Juristen und Soziologen in einer in L'Express publizierten Stellungnahme (online 20.9.2021) an die Öffentlichkeit. Sie sind alarmiert, dass im Namen der „Selbstbestimmung des Transgender-Kindes“ ein „ideologischer Zugriff auf den Körper des Kindes“ stattfinde. Schottland führen sie abschreckendes Beispiel an. Laut schottischer Regierung soll nun jedes Kind mit Eintritt in die Grundschule (ab 4 Jahre) das Recht haben, ohne Einflussnahme oder Zustimmung der Eltern seine „geschlechtliche Identität“ selbst zu bestimmen und auszuleben (vgl. BBC News, 12.8.2021). Dem widersprechen die französischen Experten vehement: Die „Kommerzialisierung des Körpers von Kindern“ zähle zu den „größten gesundheitlichen und ethischen Skandale“, denen man nicht tatenlos zuschauen dürfe, so die Experten. Mittlerweile hat auch Finnland seine Behandlungsrichtlinien im Juni 2020 überarbeitet. Psychotherapie soll bei Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen gegenüber Hormonbehandlungen und chirurgischen Eingriffen priorisiert werden.